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Theaterstück abgesetzt
Falsche Hautfarbe auf der Bühne

Proteste von kanadischen Ureinwohnern haben die Aufführung eines neuen Stückes von Robert Lepage verhindert. Ihm wird "kulturelle Aneignung" vorgeworfen. Dabei wollte der Regisseur explizit auf die Rechte von Minderheiten hinweisen.

Von Eberhard Spreng | 04.08.2018
    MOSCOW, RUSSIA – JULY 3, 2017: Canadian playwright, actor and director Robert Lepage looks on at a news conference at the Theatre of Nations.
    Der kanadische Theatermacher Robert Lepage beharrt auf dem Recht, auf dem Theater über alle und alles zu sprechen zu können (imago)
    Lepage verdient es ebenso wenig wie Mnouchkines aus 26 Nationalitäten - darunter Syrer und Afghanen - zusammengesetztes Ensemble, zum Opfer einer aufgeheizten Gesellschaftsdebatte zu werden, die andere mit ihren ultrarechten Positionen anheizen: Die Suprematisten etwa im Amerika des Donald Trump, die allen Ernstes von einer kulturellen Überlegenheit der weißen Rasse überzeugt sind.
    In diesem Klima ist es verständlich, dass Vertreter der "Amerindiens", der indianischen Urbevölkerung Kanadas, es nicht hinnehmen wollten, dass Lepages in den Endproben befindliches Stück die Geschichte Kanadas und ihrer Ureinwohner erzählt, ohne dass sie selbst auf der Bühne auftreten. Lepages Hinweis, dass die elementare Wirkmacht des Theater gerade darin besteht, dass man sich in die Haut eines anderen versetzen könne, scheint bei einer gesellschaftlichen Minderheit nicht zu verfangen, die den Genozid an der indianischen Urbevölkerung in ihrem kollektiven Gedächtnis bewahrt.
    Zwei unvereinbare Gesellschaftsmodelle stoßen aufeinander
    Und deshalb wird es jetzt ziemlich komplex: Denn hier schwappt eine riesige angloamerikanische Debatte ins kleine frankophone Quebec, die mit dem Begriff der "cultural appropriation", der kulturellen Aneignung, geführt wird. Ein Weißer, also ein Angehöriger der so verstanden vorherrschenden kulturellen Mehrheit, darf sich nicht Attribute einer sich als unterdrückten Minderheit verstehenden Bevölkerungsgruppe aneignen, nicht ihre Geschichten erzählen, nicht ihre Musik spielen und so weiter. Dass die englischsprachigen Blätter Quebecs den Vorwurf der kulturellen Aneignung gegenüber Lepage teilen und die Absetzung von "Kanata" begrüßen, während die frankophonen Blätter sie als Zensur ablehnen, ist bezeichnend.

    Hier stoßen Gesellschaftsmodelle aufeinander, die nicht vereinbar sind. Der US-amerikanische Kommunitarismus und der europäische Universalismus, dem sich auch das französische Quebec verbunden fühlt. Der Eine wacht über die Gleichberechtigung kultureller und ethnischer Gemeinschaften, der Andere über die unverbrüchlichen Rechte des Individuums jenseits aller Fragen der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Minderheiten. Das amerikanische Modell führt zu der auch in diesem Fall virulenten Vorstellung, letztlich sei nur ein Nachfahre der indianischen Minderheit für künstlerische Aussagen zur indianischen Geschichte akkreditiert. Das ist im Kern ein rassistischer Denkansatz, diesmal allerdings innerhalb der Argumentation einer unterdrückten Minderheit. Die tief theatervernarrten Kulturen Europas glauben hingegen immer noch ziemlich stark an die universelle Gültigkeit von Diskursen, Theorien und Ideologien unabhängig von der Hautfarbe ihrer Sprecherinnen und Sprecher. Die zentrale Frage bleibt also: Ist Kultur überhaupt etwas, das Eigentum einer Minderheit sein und also von anderen widerrechtlich angeeignet werden kann?
    Kulturelle Aneignung - eine künstlerisch katastrophale Doktrin
    "Kanata" ist aber auch zum Opfer eines anderen Skandals geworden, um eine andere Produktion, die Robert Lepage eingerichtet hatte. Das Theaterkonzert "Slav", das im Juni nach drei Aufführungen vom Programm des "Festival de Jazz de Montreal" abgesetzt wurde. Schon bei der Voraufführung mussten Polizisten den Zuschauern den Weg durch eine aufgebrachte Menge von Demonstranten bahnen. "Slav" erzählte mit der frankokanadischen Sängerin Betty Bonifassi als Frontfrau von der Sklaverei und spielte die Musik afroamerikanischer Sklaven. Aber nur zwei der sieben Akteurinnen auf der Bühne waren Schwarze, was eine heftige Mediendebatte, den Festivalboykott des ebenfalls programmierten schwarzen Singer-Songwriter Moses Sumney und die Proteste vor dem Théâtre du Nouveau Monde ausgelöst hatte. Man kann Lepages Besetzung mehr als unglücklich nennen. Dennoch: Das Tragische an den zwei Absetzungen von Robert Lepage Inszenierungen ist, dass hier Fronten zwischen zwei Parteien entstanden sind, die trotz unterschiedlicher Hautfarbe ganz ähnliche politischen Ziele teilen und ganz ähnliche Sensibilitäten für historische Verantwortungen. Was sie aber radikal unterscheidet, ist ihre Haltung zur "kulturellen Aneignung". Sie ist eine wissenschaftlich umstrittene, künstlerisch aber katastrophale Doktrin.
    Lepage: Auf dem Theater dürfen alle über alles sprechen
    Wenn Europa Europa bleiben will, müssen sich jetzt ganz schnell ein paar Theater und Festivals finden, die statt der verängstigten New Yorker Co-Produzenten einspringen und "Kanata" für die ursprünglich geplanten Aufführungen in Europa ermöglichen. Und Ariane Mnouchkine muss ihr in Kanada gemachtes Versprechen einlösen, ein Festival für die Kulturen indianischer Minderheiten zu etablieren. Gestohlene Kunstwerke und andere entwendete Gegenstände müssen ihren Ursprungsgesellschaften zurückgegeben werden. Geschichten, Legenden und Mythen aber sind ein von der Menschheit geteiltes Material, das jedem Künstler offen stehen muss. Lepage sagt völlig richtig, er beharre auf dem Recht, auf dem Theater über alle und alles zu sprechen.