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Theaterstück junger Exil-Ukrainer
Eine universelle Metapher über das Ende der Normalität

Das Jahr 2014 hat die Ukraine erschüttert. Für Millionen Menschen änderte sich das Leben dramatisch. Die Normalität brach zusammen, der Tod wurde auf einmal zum Alltagsbegleiter. Was macht das mit Menschen und was können wir daraus lernen? Diese Frage stellten sich zwei junge Theatermacher, eine Britin und ein Ukrainer. Am Wochenende feierte ihr Stück in Cambridge Premiere.

Von Alexander Hertel | 12.07.2016
    Eine Theaterbühne: Links sitzt eine Frau auf einer Bank und schreibt, in der Mitte steht eine Frau und macht eine anschuldigende Geste in Richtung eines Mannes, der rechts von ihr sitzt und schreibt.
    Die drei Protagonisten des Stücks "The summer before everything" (Deutschlandradio/Alexander Hertel)
    A: "Es war ein Zirkus." B: "Erst haben wir gelacht, denn es war so unglaublich." A: "Das konnte man überhaupt nicht ernstnehmen." B: "Und plötzlich rufen unsere Freunde an und sagen..." C: "Leute, ihr müsst verschwinden! Sie kommen die proukrainischen Aktivisten holen. Morgen."
    Zirkus sei es gewesen. Ein lächerliches Schauspiel, erinnern sich die beiden Frauen aus Donezk. Damals, als selbst ernannte Milizionäre die Gebietsverwaltung in der ostukrainischen Stadt besetzten und eine Volksrepublik ausriefen. Obdachlose und Kriminelle seien darunter gewesen. Und alte Frauen mit sowjetischen Flaggen. Doch dann begannen die Verhaftungen, wenige Wochen später der Krieg.
    "So etwas kommt immer überraschend. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, hätten sich das nie vorstellen können. Und trotzdem mussten sie einen Weg finden, damit umzugehen. Und sie beschreiben genau das: Das Leben ist normal und plötzlich ist Krieg und alles ändert sich. Ich habe mich da besser reinversetzen können, als ich dachte," sagt Maria Montague.
    Die 23-Jährige war damals selbst in der Ukraine. Zu einem Auslandsemester während ihres Slawistik-Studiums. Zurück in ihrer Heimat Großbritannien wollte sie die Erfahrungen dieses Jahres aufarbeiten. Gemeinsam mit Boghdan Tokarsky, begann sie die Arbeit an einem Drehbuch. Der Kiewer war gerade zum Studium nach Cambridge gekommen, als der Krieg begann. Auf zwei Reisen interviewten sie hunderte Ukrainer, die den Krieg aus nächster Nähe erlebt und noch nie darüber gesprochen haben, erinnert sich Tokarsky:
    "Es war wirklich wie eine Therapie, eine Katharsis für diese Menschen, endlich ihre Gedanken und Ängste mit jemandem zu teilen. Wir haben ihnen in diesen Gesprächen, mit diesem Projekt eine Plattform geboten, ihre Gefühle endlich zum Ausdruck zu bringen."
    "Im Krieg ist alles anders"
    Drei dieser Geschichten verdichteten sie zu ihrem Theaterstück "The summer before everything" - der Sommer vor alledem. Die namenlosen Protagonisten erzählen darin fast lakonisch, wie der Krieg über sie hereinbrach. Von der Mutter, deren kleiner Sohn den Vater als Kriegshelden verehrt, obwohl der sich nie um ihn gekümmert hat. Von der Philosophielehrerin, die als plötzlich als Soldatin zwischen zerfetzten Kameraden liegt. Und von dem friedliebenden Chirurgen mittleren Alters, der seine eigenen Enten nicht töten kann und wenig später Menschen erschießt. Da stehe kein menschliches Wesen mehr vor einem, sondern nur noch der Feind, sinniert er im Stück:
    "Im Krieg ist alles anders. Absolut. Und du denkst nicht einmal darüber nach. Denn da steht kein menschliches Wesen vor dir. Vor dir steht der Feind."
    Maria Montague, Autorin des Stücks, im Gespräch mit Besuchern
    Maria Montague, Autorin des Stücks, im Gespräch mit Besuchern (Deutschlandradio/Alexander Hertel)
    Monologisch berichten die Figuren so in 40 Minuten sehr verdichtet über die Erfahrungen von Menschen, die den Krieg in der Ukraine erlebt haben. Die Gespräche mit Taras, dem echten Doktor warfen für Autorin Maria Montague essenzielle Fragen auf. Über Leben und Tod und das Wesen des Menschen.
    "Es war erschreckend, das von ihm zu hören. Denn er war so ein nobler, liebevoller Mensch, der meiner Meinung nach auch sehr moralisch ist. Trotzdem hat er Menschen getötet. Wir verstehen wir das? Und ist es falsch oder nicht. Denn du musst dein Land verteidigen. Es ist unglaublich komplex. Menschen haben diesen Urinstinkt, zu kämpfen, der sich in diesen Situationen Bahn bricht. Das hat mich umgehauen."
    "Nichts ist mehr selbstverständlich"
    Das Stück lässt diese Fragen offen. Doch ihre intensiven Erzählungen lassen den Zuschauer tief eintauchen in die emotionalen Abgründe des Krieges. Auch den Darsteller Richard Heap, der den Doktor verkörpert, hat das Stück nachdenklich gestimmt.
    "Es war hochinteressant, gerade jetzt mit diesem Material zu arbeiten, wo Selbstverständlichkeiten beginnen zu wanken: das Leben in Großbritannien, das Leben in Europa. Nichts ist mehr selbstverständlich, die Perspektive von bewaffneten Konflikten, Gewalt und selbst Krieg sind plötzlich nicht mehr so weit entfernt wie wir dachten."
    "The summer before everything" ist eine universelle Metapher über das Ende der Normalität. Ließe man Orts- und Namensangaben weg, könnte das Stück auch 1939 in Polen spielen. Oder 2016. Irgendwo mitten in Europa.