Donnerstag, 28. März 2024

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Theaterstück über Utopien
Jenseits der Instagram-Gesellschaft

Mit 70 will Rosi nochmal durchstarten - aber sie ist geh- und sehbehindert und das Geld für einen Lebensabend am Polarkreis fehlt. Die preisgekrönte Inszenierung „Nur Utopien sind noch realistisch“ entwickelt Metaebenen, erzählt von Zukunftsbildern und vom Scheitern - auch von Neujahrsvorsätzen.

Von Peter Backof | 02.01.2019
    In blaues Licht getauchte Bühnenszene aus dem Theaterstück "Nur Utopien sind noch realistisch"
    Veränderung vorwegnehmen in der Fantasie: Inszenierung von Daniel Schüßler im Analogtheater (Pramudiya)
    "Utopia heißt Veränderung, die Veränderung vorwegnehmen in der Fantasie. Oder ich suche einen finnischen Sender, dann kann ich auch die Sprache hören."
    Regisseur Daniel Schüßler vom Kölner Analogtheater:
    "Rosi träumt von Finnland, Rosi träumt von Rovaniemi, von einer Rückkehr. Und seit sie wieder zurück ist, ist noch eine starke Gehbehinderung hinzugekommen. Das Alter, sie wird jetzt 70, keine Kohle."
    Ein verschneiter Wald ist schemenhaft auf der Bühne zu sehen. Milchglas als Requisit macht für alle plastisch, wie schlecht die 70-jährige Rosi inzwischen sieht: Rovaniemi heißt das nordfinnische Städtchen mit 60.000 Einwohnern, wo angeblich der Weihnachtsmann zu Hause ist, erläutert Daniel Schüßler von Analogtheater.
    Utopien als Kraftquelle
    Rosi, die - semifiktive - Hauptfigur in dem Theaterstück über Utopien, war schon mal dort, mit 60, und verlebte zweieinhalb glückliche Jahre. Dann war das Erbe ihrer Mutter verbraten und sie musste wieder nach Deutschland. Der Traum von der Rückkehr nach Rovaniemi indes blieb für Rosi immer ganz real.
    "Hier ist der Inarisee, da die Eisstraße, die Krüppelbirken. Ich spiele Lotto jede Woche."
    "Nur Utopien sind noch realistisch" - es geht also um eine alte Frau, die nur noch in Erinnerungen und Träumen lebt? Antwort Daniel Schüßler:
    "Die Krüppelbirken, die Schneelandschaften, die große Weite und die Stille. Utopien sind ja Orte, zu denen wir den Übergang nicht wissen, im Gegensatz zu Dystopien, wo wir nur abwarten müssen: Schlecht wird es von allein! Und der Titel dieses Stücks bezieht sich auf einen Sozialphilosophen, Oskar Negt. Und Oskar Negt versteht Utopien als Kraftquelle oder Handlungsquelle, dass wir uns nicht blockieren lassen dürfen, dass wir den Übergang nicht wissen, sondern dass wir im Prinzip in so einer Art Try-and-error-Verfahren darauf zugehen müssen, um überhaupt eine gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben und uns nicht lähmen zu lassen."
    Kein simples Biopic
    Das Stück ist also kein simples Biopic rund um Rosis prekäre Umstände, es zielt auf die Metaebene, indem Modelle gesellschaftlicher Veränderung durchgespielt werden. Beziehungsweise: Rosis Vita wird mit mehreren Schauspielerinnen von jung bis alt aufgefächert – und parallel läuft, aus dem Off erzählt, bundesrepublikanische Geschichte ab, von den Trümmerjahren bis heute.
    "Und das kann ja eventuell was über Handlungsfähigkeit erzählen für die Gesellschaft, dass wir überhaupt mal losgehen müssen, dass wir überhaupt mal anfangen müssen, die Dinge umzubauen. Wo wollen wir hin, in was für einer Welt wollen wir leben?", fragt Daniel Schüßler.
    Das "Wir" ist in den Hintergrund gerückt
    Nun sind - über einfache und persönliche Neujahrsvorsätze hinaus - gesellschaftliche Utopien doch schon formuliert, zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, Leben ohne Plastik, ohne Verpackungen, gesünder, besser. Warum klappt die Umsetzung denn nicht, im großen Rutsch? Daniel Schüßler hat dazu diese Theorie:
    "Das 'Wir' ist auf jeden Fall in den letzten Jahren ein bisschen in den Hintergrund gerückt. ´Wir´ beobachten aller Orten eine große Individualisierung und einen Bezug auf sich selbst: so eine Instagram-Gesellschaft, die sich nur noch selber präsentiert und an Selbstoptimierung interessiert ist."
    Dagegen findet auf der Bühne rund um Rosi eine Gruppenoptimierung statt. In dieser Inszenierung tragen alle Schauspieler dazu bei, eine poetische - oder wenn man so will - postfaktische Illusion von Rovaniemi entstehen zu lassen, für Rosi, für die Zuschauer. Auch wenn alle wissen: Köln ist nicht Rovaniemi.
    "Vielleicht bin ich auch Moralist, ich weiß es nicht. Also auf jeden Fall interessieren mich moralische Themen, oder wie Gesellschaft funktioniert, wie ein utopischer Raum entstehen kann. Und wenn er nur für einen Moment entsteht, bevor er wieder zerfällt."
    Soziale Dimension von Kunst
    Für andere etwas zu tun, die soziale Dimension, das ist – 2019 wie schon bei Joseph Beuys 1969 – auch für Daniel Schüßler die Aufgabe der Kunst. Was nur schön ist oder Selbstzweck, bedeutet nichts. Mal sehen, was das künstlerische Jahr in der Hinsicht bringen wird.
    "Und dann auf einmal, ich glaube, da ist ein Nordlicht. Es ist da. Es gibt Besseres. Aber es ist da."
    Nur Utopien sind noch realistisch
    studiobühneköln
    09.01. bis 13.01.2019, 20 Uhr