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Theaterstück von Simon Stephens
Maria ohne Josef

Die Maria des 21. Jahrhunderts trägt bunte Leggings. Sie irrt durch eine Welt des Turbo-Kapitalismus, in der sogar menschliche Nähe zur Ware wird. Das neue Stück des britischen Dramatikers Simon Stephens ist eine moderne Weihnachtsgeschichte. In Hamburg ist es jetzt erstmals auf der Bühne zu sehen.

Von Michael Laages | 20.01.2019
    Simon Stephens' Maria, gespielt von Lisa Hagmeister, tanzt vor einem LKW auf der Bühne am Thalia Theater in Hamburg
    "Maria", das neue Stück von Simon Stephens, eröffnet die diesjährigen "Lessingtage" am Hamburger Thalia Theater (Thalia Theater / Krafft Angerer)
    Mit gutem Grund gab Simon Stephens dieser Heldin diesen Namen – wie in einer Art verspäteter Weihnachtsgeschichte wird "Maria" demnächst gebären. Weil sie aber keinen Josef hat, der sie begleiten und die Schmerzen mit ihr teilen könnte, wenigstens ein ganz kleines bisschen, rennt sie hin und her durch die große Stadt und sucht nach Begleitung. Aber niemand hat Zeit für sie: nicht der Papa, keine Kollegin, keine Freundin, nicht mal die geliebte Oma. Letztlich wird dann eben doch nur der Arzt dabei sein.
    "Doktor Harasi, ich wollte jetzt schnell noch mal nachfragen... ich hab' nämlich total Angst vor den Schmerzen..."
    "Jaja, das geht vielen Leuten so..."
    "... es zerreißt einem den Körper. Oder?"
    "Ja – das stimmt... nicht ganz. Unter normalen Umständen zerreißt da nichts!"
    "Aha..."
    Die Rolle der Krippe übernimmt auf der Bühne ein ausgewachsener Lastwagen, Ochs und Esel sind die Trucker, die für Amazon Pakete durch die Welt kutschieren. Eva Maria Bauers Bühne verschafft Marias Passionsgeschichte mit grandiosem Effekt das soziale und gesellschaftliche Fundament. Und gleich zu Beginn wechselt der Arzt einen Reifen während der Behandlung. Das ist Marias Welt - der seelenlose, mörderische Turbo-Kapitalismus der Gegenwart. Alles ist Ware und jederzeit zu haben - nur menschliche Nähe nicht mehr.
    Bühne und Hauptfigur immer in Bewegung
    Ein Lastwagen hat übrigens Marias Mutter tot gefahren. Dieser Baustein in der Stephens-Fabel mag die Initialzündung gewesen sein für das starke Bild in Sebastian Nüblings Inszenierung. Und Brummi wird zur Wunderkiste - weil er ununterbrochen rotiert auf der Drehbühne, können auf der publikumsabgewandten Seite hinter den Planen des Gefährts jeweils gebrauchte Requisiten weggeräumt und neue hinzugefügt werden.
    So wird das Mosaik aus Szenen wirklich schnell, und Maria bleibt immer unterwegs - im Fitness-Center, wo die Hochschwangere zunächst noch einen regulären Billigst-Job als Reinigungskraft hat, oder im Supermarkt am anderen Ende der Stadt, wo Papa an einer von acht Kassen arbeitet und sein vorgesetzter Sklaventreiber die Sekunden der Rauchpause wie im Countdown runter zählt.
    Den verschwundenen eigenen Bruder sucht Maria auch, und sie findet ihn später, als das Kind schon da ist. Das Wiedersehen bringt aber auch keine echte Beruhigung ins haltlose Leben. Einem jungen Seemann, der dem Bruder sehr ähnlich sieht, würde das Mädchen vielleicht ganz gerne folgen. Aber auch das hat keine Zukunft. Und Oma stirbt am Schluss - am Tag darauf wird Maria 19.
    Die Schauspieler Jirka Zett und Lisa Hagmeister stehen mit einem Kinderwagen auf der Bühne und unterhalten sich in Simon Stephens' "Maria" am Thalia Theater in Hamburg  
    LKW statt Stall, Kinderwagen statt Krippe: das Bühnenbild von Evi Bauer für Simon Stephens' "Maria" am Thalia Theater in Hamburg (Thalia Theater / Krafft Angerer)
    All das mag stark nach der Geschichte einer neuen verlorenen Generation am Rand der Gesellschaft klingen, aber die Theatersprache von Simon Stephens ist ganz anders. Als "Meister der Gegenwartserkundung" charakterisiert ihn die Dramaturgin Julia Lochte im Programmheft. Und in der Tat blinken und blitzen im Alltagsstrom der Wörter bei ihm Philosophie und Visionen, Träume und Alpträume immer nur für Augenblicke auf.
    Maria redet quasi ohne Punkt und Komma, ist auch sprachlich immer in Bewegung - und als das Kind da und der Fitness-Job beendet ist, kreiert sie eine Art medialen Nachbarschafts-Service: quatscht per Video-Verbindung im Internet und gegen Minuten-Honorar mit jedem und jeder. Um Telefon-Sex geht's hier nicht, nur um jene Nähe, die es kaum noch gibt in der grenzenlos globalisierten Welt.
    Hamburger Inszenierung beweist die Kraft des Theaters
    Auch diese Miniaturen auf Video-Bildschirmen machen Eindruck. Aber spätestens ab hier, also bevor der Bruder wiederkehrt und Oma stirbt, verliert das Stück als Ganzes deutlich an Zusammenhalt. Aber Sebastian Nüblings Inszenierung fokussiert bis dahin geschickt und schnell die szenischen Miniaturen vor dem kreisenden Truck. Im Finale gelingt der fast schon toten Oma noch ein grandioses Solo - als "sterbender Schwan" sozusagen beschwört sie die Macht des Geschichtenerzählens.
    "Alles sind Geschichten, nichts ist wirklich. Und weil nichts wirklich ist, wenn alles Geschichten sind, dann kann man die Geschichten auch anders erzählen!"
    Überhaupt: diese Oma! Barbara Nüsse, die Thalia-Doyenne, ist ein echtes Ereignis neben der unbändigen Lisa Hagmeister in der Titelpartie und gemischtem Ensemble. Gerade an Abenden wie diesem und in solchem Spiel erweist sich auch die Kraft des Theaters: einer Welt, der die Menschlichkeit verloren geht, steht hier echtes Leben gegenüber.