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Theatralischer Widerstand

Das Theaterstück "Furcht und Elend des Dritten Reiches" ist nicht durch eine dramatische Entwicklung gekennzeichnet, sondern durch eine Schilderung von Zwangszuständen. In 24 Szenen greift der deutsche Dramatiker Bertolt Brecht die Verhältnisse im Hitler-Deutschland unmittelbar an, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit der künstlerischen Verfremdung. Brecht schrieb das Stück im dänischen Exil. Am 21. Mai 1938 kam es unter dem Titel "99 %" in Paris zur Uraufführung.

Von Eberhard Spreng | 21.05.2008
    Es ist die Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933: Der Reichstag brennt. Wenige Stunden später packt der Berliner Erfolgs- und Skandalautor Bertolt Brecht seine Koffer und geht mit seiner Familie ins Exil: Erst reist er nach Prag, dann nach Wien und Zürich, und schließlich über Frankreich nach Dänemark. Bertolt Brecht wartet nicht das Ergebnis der Reichstagswahl ab:

    "Die Verfolgungen auf dem Gebiet der Kultur nahmen gradweise zu. Bekannte Maler, Verleger und Zeitschriftenherausgeber wurden gerichtlich verfolgt. An den Universitäten wurden politische Hexenverfolgungen inszeniert, gegen Filme wie 'Im Westen nichts Neues' Kesseltreiben veranstaltet."

    Auf Einladung der Schriftstellerin Karin Michaelis kommt die Familie Brecht nach Skovsbostrand bei Svendborg, wo sie nun für fünf Jahre bleiben sollte. Die Brechts kaufen ein altes strohgedecktes Fischerhaus am Wasser, und der Dichter notiert:

    "Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind wird das Stroh nicht wegtragen. Im Hof für die Schaukel der Kinder sind Pfähle eingeschlagen. Die Post kommt zweimal hin, wo Briefe willkommen wären. Den Sund herunter kommen die Fähren, das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehen."

    Eine für Brechts Werk fruchtbare Exilzeit hatte begonnen: Brecht schrieb neben anderen Werken an einer Szenensammlung, die später unter dem Titel "Furcht und Elend des Dritten Reiches" bekannt werden sollte. Hierfür wertete er zusammen mit seiner Frau Helene Weigel und wechselnden Mitarbeitern Zeitungsausschnitte aus und Augenzeugenberichte.

    In dreijähriger Detailarbeit entstanden so Szenen eines allmählichen gesellschaftlichen Zerfalls: Geschichten vom Verrat, feigem Opportunismus, skurriler Willfährigkeit, vor allem aber Szenen der Angst: der der Eltern vor ihrem Sohn, der ihre Anschauungen verraten könnte, der eines Amtrichters, der nicht weiß, welche Art der Rechtsbeugung von ihm erwartet wird, die Angst einer jüdischen Frau: In einem Monolog erklärt sie die Gründe, warum sie ihren nicht-jüdischen Mann verlässt, um ins Ausland zu gehen.

    "Ich packe, weil sie dir sonst die Oberarztstelle wegnehmen. Weil sie dich schon nicht mehr grüßen in deiner Klinik und weil du nachts schon nicht mehr schlafen kannst. Ich will nicht, dass du mir sagst, ich soll nicht gehen, ich beeile mich, um dich nicht noch sagen zu hören, ich soll gehen."

    Die Rolle der Judith Keith soll Helene Weigel spielen, neben zwei weiteren Figuren, und Slatan Dudow will in Paris eine Auswahl von nur acht der 24 Szenen aufführen. Mit ihm zusammen hatte Brecht in Berlin den Skandalfilm 'Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt' realisiert. Aber Brecht zögert. Die Qualität der Exil-Darsteller, die sein ehemaliger Mitarbeiter in Paris um sich geschart hat, scheint ihm unzureichend. Schwer nur kann er aus dem entfernten Dänemark auf die Proben einwirken, die die Pariser Uraufführung vorbereiten sollen. An Slatan Dudow schreibt er Ende April 1938:

    "Das Datum halte ich für unbedingt verfrüht. Vorläufig sehe ich Sie nur mit Dilettanten ausgestattet und einer Probenzeit von drei Wochen."

    Brecht fürchtet einen Misserfolg. Auch ist der Titel fragwürdig: Er selbst hatte in Anlehnung an Heines "Deutschland, ein Wintermärchen" an "Deutschland, ein Gräuelmärchen" gedacht. Der von Slatan Dudow vorgeschlagene Titel "99 %" erscheint Brecht dagegen als dubios.

    Und doch ist dies der Titel, unter dem die vom "Schutzverband deutscher Schriftsteller" geförderte Aufführung der acht Szenen am 21. Mai 1938 in der Salle d'Iéna in Paris auf die Bühne kommt. Den Einstieg in die Szenenfolge eröffnet Brecht mit einer Szene zwischen zwei betrunkenen SS-Offizieren:

    "Der Erste: Nu sind wir oben. Imposant, der Fackelzug Jestern noch pleite, heut schon in die Reichskanzlei. Jestern Pleitegeier, heute Reichadler.
    Der Zweite: Und nu kommt die Volksgemeinschaft. Ick erwarte mir eine seelischen Aufschwung des deutsche Volkes in allerjrößtem Maßstab."


    Erst kurz vor der Pariser Premiere waren Helene Weigel und später Brecht selbst zu den Endproben gekommen, um die Kosten für den teuren Pariser Aufenthalt so gering wie möglich zu halten. Während die Uraufführung, zu der Paul Dessau eine Schauspielmusik schrieb, vom deutschsprachigen Publikum positiv aufgenommen wurde, wurde die New Yorker Premiere von neun Szenen 1945 ein Misserfolg.

    Bis heute ist "Furcht und Elend des dritten Reiches" nicht gerade ein Renner innerhalb des großen Brecht-Repertoires. Aber für den Autor war der Blick ins Seelenelend im Alltag des Dritten Reiches ein Stück theatralischer Widerstand gegen die verhassten Machthaber.