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Themenreihe Mittelpunkt Mensch
Die Kraft des Tuns

Ein Ort, an dem Menschen zueinander finden und voneinander lernen - das war die Idee, mit der Marina Naprushkina vor drei Jahren die "Initiative Neue Nachbarschaft" gründete. Heute treffen sich täglich rund 200 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in den Räumen der Organisation in Berlin-Moabit. Alle Angebote der Initiative beruhen auf ehrenamtlichem Engangement.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 10.02.2017
    Marina Naprushkina , aufgenommen im Oktober 2015, auf der 67. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen). | Verwendung weltweit
    Begegnungen auf Augenhöhe zwischen Deutschen und Neuankommenden - das möchte Marina Naprushkina mit der "Initiative Neue Nachbarschaft" fördern. (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Es ist nach 18 Uhr, der Deutschstammtisch hat begonnen. Marina Naprushkina verteilt die Neuankömmlinge auf die kleinen Gruppen an den Tischen.
    Wegen des großen Andrangs ist die "Initiative Neue Nachbarschaft" 2015 in eine 500 Quadratmeter große Ladenzeile in Moabit umgezogen.
    "Hier ist ein Tonstudio, hier ist noch so ein Raum wo Deutschstammtisch stattfindet, wo Musik, also Tanzkurs stattfindet und Klavierunterricht. Wir haben ja jeden Tag auf und jeden Tag Veranstaltungen. Das ist ein sehr großes Programm."
    Initiative vor drei Jahren ins Leben gerufen
    Die Künstlerin aus Weißrussland hat die Initiative im Sommer 2013 als einen sozialen Raum gegründet, in dem Geflüchtete und Bevölkerung sich begegnen.
    "Es gibt ja viele Situationen, wo es tatsächlich nicht von den großen Gesetzgebung oder von der Regierung abhängig ist, ob die Menschen ankommen oder nicht. Sondern tatsächlich von den Entscheidungen von ganz vielen Menschen, die bei den Behörden arbeiten, Lehrer sind, von den Nachbarn von uns. Jeder von uns hat den Spielraum, sich für oder gegen diesenMenschen zu entscheiden. Und das war ganz interessant und manchmal bitter zu sehen, dass manchmal gegen die Menschen entschieden wird."
    Nach einem Kunststudium in Weißrussland und Karlsruhe knüpfte sie in Berlin, wo sie mit ihrer Familie lebt, Kontakte zu den Bewohnern einer Notunterkunft und begleitete sie beim Asylverfahren vor Gericht.
    "Ich war damals schon sehr beeindruckt, wie problematisch das ist für Neuankommende, sich hier irgendwie wohl zu fühlen oder diese Gesellschaft zu betreten. Damals saß vor dem Gericht eine iranische Familie, sehr weltoffene Menschen mit guter Bildung, die erzählt haben, dass sie seit vier Jahren in Deutschland sind, aber kaum Kontakte nach draußen haben. Und das war schon so ein erschreckendes Gefühl, dass man sagt: Das sagt ja nicht was über die, sondern über uns was."
    Einander auf Augenhöhe begegnen
    Die Haltung, Flüchtlingen helfen zu wollen, geht ihr total gegen den Strich: "Der Schwerpunkt ist, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und dass wir voneinander lernen. In kleinem Format habe ich oft mit Gruppen mit Menschen gearbeitet, aber mich hat es immer fasziniert, so eine Idee oder Vision, so eine Gemeinschaft aufzubauen, so eine selbst organisierte Institution – oder Organisation erst mal. Ich habe auch im Jahr 2013-2014 eine Zeitung für Belarus heraus gegeben, die hieß "Self Governing", Selbst Regieren. Und ich hab so theoretisch quasi darüber gesprochen. Und dachte, das ist ganz interessant, das selber mit zu machen."
    "A: Angst. Angela. Arbeit. AfD."
    In ihrer Videoarbeit "Deutsch für Anfänger" zeigt die junge Frau mit den kurzen, dunklen Haaren, womit Flüchtlinge in Deutschland konfrontiert werden. Sie selbst habe das Leben in zwei Ländern und politischen Systemen in ihrer Entwicklung als politische Künstlerin und Aktivistin bestärkt.
    "Kunst hat eine unheimliche Kraft, die Gesellschaft zu verändern. Unsere Aufgabe ist tatsächlich, darüber nachzudenken, wie Kunst aktiv dazu beitragen kann, dass das Leben – ich sag meinen Studentinnen immer – nicht unbedingt schöner, aber besser wird."
    "F: Flüchtling. Formular. Frist."
    Die "Initiative Neue Nachbarschaft" beherbergt auch eine Alternative Kunstschule. In den wöchentlichen Workshops setzen sich Marina Naprushkina sowie andere Alt- und Neu-Moabiter mit Malerei, Stop-Motion und Fotografie auseinander.
    "Wir haben schon eine große Künstlergruppe aufgebaut, wo ich sehr stolz bin. Das sind Menschen in verschiedenem Alter aus verschiedenen Ländern, die ganz unterschiedliche Erfahrungen mit Kunst vorher hatten. Manche machen das professionell und werden dann tatsächlich an die Hochschulen gehen. Die anderen haben noch nie irgendwie mit der Kunst was zu tun gehabt. Und die arbeiten hier zusammen, lernen voneinander, und das ist großartig."
    Kunstaktion: Geflüchtete dokumentieren ihren Ankunftstag
    Auf mehr als hundert bunten Linoldrucken im großen Entree haben geflüchtete Frauen, Männer und Kinder ihren Ankunftstag in Berlin dokumentiert. Weiß sie noch ihren eigenen?
    "Nein, wirklich nicht. Das Jahr ja, ich bin seit sieben Jahren fast in Berlin jetzt, ja."
    "V: Verwaltung. Verspätung. Verboten."
    Die Deutschen profitieren von der neuen Gemeinschaft mindestens genauso wie die Geflüchteten, betont die bildende Künstlerin:
    "Ihr kommt hierher, weil das für euch wichtig ist. Nicht um jemand anderem zu helfen, sondern weil es euch wichtig ist. Seid mal bitte ehrlich! Ich hab, glaube ich, in diesen dreieinhalb Jahren sehr sehr viel gelernt, und ich habe mich sehr verändert. Man arbeitet an sich selbst, man baut sehr viele Vorurteile ab, die man in sich entdeckt durch die Begegnung, durch die Arbeit in der Initiative. Man lernt sehr viel über die gesellschaftlichen Strukturen. Man sieht viel mehr. Man ist tatsächlich, wenn man sich aktiv beteiligt an den Prozessen hier, ein anderer Mensch danach."