Donnerstag, 25. April 2024

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Themenreihe: Muss Literatur politisch sein?
Schützt die Sphäre des Politischen!

Der Autor Simon Strauß sieht einen wachsenden Druck, der durch viele Identitäten und deren Kommerzialisierung entsteht. Gefährdet sei die Sphäre des Politischen, nicht aber die Literatur. Diese müsse weiterhin ein "Hort der Widersprüche, der Schwierigkeiten, der Zerrissenheit" sein, sagte Strauß im Dlf.

Von Simon Strauß | 15.06.2021
Das Bild zeigt den Autor und Theaterkritiker Simon Strauß.
Simon Strauß befürwortet eine Literatur als "Hort der Widersprüche" (Martin Walz)
Werden wir nicht alle gerade zu Skatspielern, die immer und überall einen Identitäts-Ass im Ärmel haben, um im entscheidenden Moment statt eines Argumentes einen Moral-Stich machen zu können? Wenn über Identitätspolitik gestritten wird – und das wird es ja inzwischen andauernd – beschleicht mich immer häufiger der Gedanke, dass sich die Frage: "Was ist politisch?" bald ganz darin erschöpfen könnte, Preisjurys oder Regierungskabinette möglichst verschieden zu besetzen und Bestseller oder Wahlprogramme in achtsamer Sprache zu schreiben. Politisch-Sein wird so zu einer Frage von gelungener PR in eigener Sache. Gerade der kulturelle Betrieb leistet einer solchen Profanisierung des Politischen engagiert Vorschub.
Der Kulturbetrieb und die PR
Bei unseren Theaterhäusern, Verlagsvorschauen oder Kinoproduzenten kann man das schon seit einer Weile beobachten. Da wird ein ungeheurer Aufwand betrieben, um ein möglichst in jeder Hinsicht buntes Bild abzugeben. Mit anderen Worten: Es wird unglaublich viel Werbung gemacht. Aber nicht selten wird diese Werbung dann als "politisches Statement" verkauft, werden Besetzungsentscheidungen, Buchtitel, Oscarverleihungen dafür gefeiert, nicht was sie sind, sondern, was für eine Botschaft sie in die Welt senden. Nicht mehr: "The Medium is the Message, sondern: "The Message is the Medium."
Natürlich hatte Politik immer schon mit Werbung zu tun, Wahlen wollten schon in Athen und Rom gewonnen werden und dafür brauchte es eine gute Propaganda. Heute jedoch verschwimmen die Grenzen zwischen PR und Politik mitunter ins Ununterscheidbare. Das wiederum passt zu unserer rasenden Sucht nach Eindeutigkeit, die von den digitalen Kräften genährt und befriedigt wird. Politisch sein muss gerade ganz schnell und einfach gehen.
Wenn aber die Kategorie des Politischen so aufgeweicht und abgestumpft wird, dass am Ende jedes individuelle Gefühl der Benachteiligung und Verletzung zur politischen Haltung avanciert, dann bleibt nicht mehr viel Raum für ihre klassischen Sphären.
Der inzwischen vielzitierte Satz, "Es kann nicht nur darum gehen, Transgender-Toiletten zu fordern, man muss auch danach fragen, wer sie putzt", ist nicht nur die polemische Zuspitzung dessen, was beim identitätspolitischen Streit leicht aus dem Blick gerät: nämlich die entscheidende politische Frage nach dem Verhältnis von Leben und Arbeit.
Moralhopping und der Markt
Wer profitiert von dieser Abstumpfung und Auslassung? Vordergründig und durchaus zu Recht Gesichter, Geschichten und Namen, die lange nicht auf Juryzetteln, Bestsellerlisten oder Wahlplakaten standen. Aber im Hintergrund, quasi im Rücken der identitätspolitischen PR-Isierung unserer geistigen Gegenwart, fährt der Markt still und heimlich die größten Gewinne ein. Denn das exzessive Moralhopping, das die kulturellen Institutionen und auch der literarische Betrieb gerade betreiben, dient ja eben nicht einer Sache, um ihrer selbst willen, sondern antwortet präzise auf den moralpolitischen Wunsch nach konfektionierter Kulturware.
Ich glaube, dass Identitätspolitik und Klickokratie insofern viel miteinander zu tun haben, als sie sich gegenseitig nützen. Ein immer ausgefeilteres Identitätsbewusstsein der Kunden und Kundinnen mit diversen Hintergründen und Konsumvorlieben ist für alle Netzbetreiber und Digitalverkäufer von zentralem Interesse. Von der gestiegenen Aufmerksamkeit für das Selbstbewusstsein des einzelnen Users wiederum profitiert die Identitätspolitik, egal ob sie sich rechts, links oder muslimisch verkauft. Die Klicks eröffnen ihr ungeahnte Möglichkeiten, um moralischen Druck aufzubauen und alte Machtstrukturen in ihrem Sinne neu zu nutzen. Diese Revolution beginnt und endet ja bis auf weiteres – zum Glück – nur mit dem Austausch von Köpfen.
Verfemung der Paradoxie
Aber: "Das moderne Regime öffentlicher Meinung ist, in unorganisierter Form, was das chinesische Erziehungs- und Staatssystem in organisierter Form ist", hat John Stuart Mill vor 150 Jahren geschrieben und damit auch allen heutigen westlichen Freiheitsträumern schon einmal vorsorglich den Kopf gewaschen.
Der Klick-Druck, das Moralhopping, die Kommerzialisierung der Identitäten – aus diesen Bestandteilen setzt sich unser Begriff des Politischen gerade zusammen. Die Entwöhnung von komplizierten Wirklichkeiten, die Erwartung einer sofortigen Veränderung, ohne Prozess, ohne Verhandlung, ohne Kompromiss, quasi "to go" mit einer Lieferzeit unter zehn Minuten sowie die Verfemung aller Paradoxie, aller Widersprüchlichkeit als Unruhestiftung sind die Folgen des identity turns.
Literatur als Hort der Widersprüche
Was die Literatur angeht, mache ich mir keine großen Sorgen. Die hat schon viele Fragerunden überstanden, wird auch diese überstehen und auf ihre eigene Weise weiterleben. Aber der Geist, aus dem heraus gerade gedacht, geschrieben und gestritten wird: ist das noch der Geist jener vielbeschworenen offenen Gesellschaft? Eher nicht. Und das hat dann wiederum sehr auch auf das Selbstbewusstsein der Literatur Einfluss. Deshalb kommt es jetzt darauf an, ihr Mut zu machen, weiterhin Hort der Widersprüche, der Schwierigkeiten, der Zerrissenheit zu sein. Wo Identitätssicherheiten verunsichert und Uneindeutigkeiten hochgehalten werden. Damit die Neugier auf das Blatt des Gegenübers siegt, und nicht der Gedanke an den nächsten Stich.
Die Autorin Mithu Sanyal blickt vor einem Bücherregal in die Kamera.
Themenreihe: Muss Literatur politisch sein? - Nicht kleinlich in Details verbeißen!
Wie politisch soll oder darf Literatur sein? Diese schon immer umstrittene Frage ist heute wieder aktuell. Mithu Sanyal gilt darin als humorvoll-versöhnliche Stimme. Ihr Debütroman "Identitti" wurde von der Kritik gefeiert. Kunst sei immer auch ein Spiegel der Gesellschaft sein, sagte Sanyal im Dlf.