Dienstag, 16. April 2024

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Theo Steiner (Hrgs.): Genpool. Biopolitik und Körperutopien

Was vor kurzem ethisch noch umstritten war, ist nun möglich: Auch hierzulande darf an embryonalen Stammzellen des Menschen geforscht werden. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede, der die Wissenschaft ebenso wie die Ökonomie betrifft. Der nächste kapitalistische Großzyklus, heißt es, wird der Bioökonomie gehören, lukrative Märkte winken. Anlässlich des steirischen herbst 2001 fand zum Thema Biopolitik ein Symposion statt, das genforschungsbezogenen Themen aus unterschiedlichsten disziplinären Blickwinkeln Raum gab. Daraus entstand nun ein Sammelband. In den 24 Aufsätzen geht es neben der Erörterung politischer, juristischer, anthropologischer, gesellschaftlicher und moralischer Aspekte auch um die Frage, wie Partikel aus dem Wissenschaftsjargon in die alltäglichen Sprech- und Denkweisen der Gesellschaft eindringen.

Barbara Eisenmann | 03.03.2003
    Die Gesellschaftswissenschaftlerin Barbara Duden geht in ihrem polemisch titulierten Aufsatz "Meine Gene und ich” dem "Wuchern der Gen-Wörter in Alltagsreden” nach und fragt, wie wir uns selbst und die anderen denn eigentlich erfahren, wenn wir von einem gen-bestimmten Menschenbild ausgehen. Während ein vom Begriff des Ich zentral geprägtes Selbstverständnis auf der gleichsam ontologischen Gewissheit des Hier und Jetzt fuße und gerade durch diese raumzeitliche Gebundenheit eine körperliche Komponente beinhalte, habe ein auf Gene rekurrierendes Sprechen über sich selbst keinen unmittelbaren körperlichen Bezug mehr. Und so konstatiert Duden schließlich eine "Leib-Vergessenheit im Gen-Glauben”.

    Es ist der studierten Biologin Silja Samerski zu verdanken, dass der von Duden eher in philosophischen Begriffen diskutierten "Leibvergessenheit ” anhand einer empirischen Analyse nachgegangen wird: der genetischen Beratung, die im Rahmen der medizinischen Schwangerschaftsvorsorge stattfinden kann. Samerski stellt sich eine konkrete Frage: Wie ist es möglich, dass sich Menschen von statistischen Kalkulationen den Lebensmut rauben lassen? Zunächst einmal klärt die Autorin, dass der gerade in der Alltagssprache so gern und häufig verwendete Begriff "Gen” in Biologie und Medizin lediglich eine nützliche Arbeitshypothese darstelle, es sich aber um einen Begriff handele, der weder einen empirischen noch einen mathematischen Referenten habe.

    Und genau dieses Paradox, die fehlende Bezeichnungskraft auf der einen Seite und die enorme konnotative Aufgeladenheit auf der anderen Seite, macht das "Gen"-Gerede so wirkmächtig. Das Wort "Gen" funktioniert wie ein trojanisches Pferd, mit dem Risikodenken in den Alltag eingeschleust wird.

    Neben dem Gen-Begriff spielt in der genetischen Beratung noch ein weiterer Begriff eine zentrale Rolle: der des Risikos. Wenn nun in einer genetischen Beratung von einem Risiko in Bezug auf irgendeine Erbkrankheit die Rede ist, so sagt dies rein gar nichts über die in diesem Fall zu beratende schwangere Frau aus. Und auch wenn die betroffene Klientin aufgrund dieses nur mathematisch ermittelten Risikos einen entsprechenden Gentest vornehmen lässt, wird sie nur ein weiteres Risikoprofil erhalten. Doch der Berater hat seine Klientin damit vor ein Dilemma gestellt: Setzt sie die Schwangerschaft fort, ohne einen Test durchzuführen, so, wird ihr gesagt, beinhalte das ein Risiko, nämlich ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen; entscheidet sie sich für einen Test, berge das jedoch auch ein Risiko, mit dem Test nämlich, eine Fehlgeburt auszulösen. Hier zeigt sich nun, Samerski zufolge, wie die Freisetzung genetischer Begrifflichkeiten Risikoangst erzeugt, die die schwangere Frau außerdem zu Entscheidungen drängt.

    Manche nennen das freiheitliche Selbstbestimmung. Man könnte aber auch von einem Prozess biologischer Selbstdisziplinierung sprechen, der das Ergebnis dieses genetisch bestimmten Blicks auf sich selbst ist. Selektion betreibt dann jede einzelne und jeder einzelne selbst und tut es scheinbar sogar aus freien Stücken. Damit ist ein weiterer Schritt getan in der Entwicklung einer Gesellschaft, die die Kontrolle immer effektiver in die Köpfe und Körper ihrer Mitglieder verpflanzt.

    Auch der Kulturwissenschaftler Theo Steiner beschäftigt sich in seinem Beitrag mit sprachlichen Figuren aus dem Bereich der Genforschung. Da wird im Zusammenhang mit den nicht-produktiven Anteilen des menschlichen Zellmaterials der Parasitenbegriff verwendet. In der Stammzellenforschung hingegen kommt die Gegenbegrifflichkeit zum Zug, denn da ist von "totipotenten embryonalen Stammzellen" die Rede. Diese Zellen sind mit der Fähigkeit zu unendlicher Teilung ausgestattet und können sich in jede menschliche Körperzelle weiterentwickeln. Selbstsüchtige Nichtsnutze auf der einen Seite, hocheffiziente Nützlinge auf der anderen. Derartige Metaphern hat Steiner in wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Texten gefunden, und er sieht darin eine durch die Humangenetik beförderte Hochleistungsrhetorik am Werk, die das Schmarotzertum disqualifiziert, Flexibilität aber glorifiziert.

    So wird uns von der Humangenetik erklärt, dass wir das Potenzial zum Verwerflichen, aber auch zum Vorbildlichen in uns tragen... Demnach liegt es in unserer persönlichen Verantwortung, uns für das Richtige zu entscheiden und uns dabei von der Wissenschaft helfen zu lassen. ... Das embryonale Gewebe müsste durch die Biomedizin auf die rechte Bahn gebracht werden. Und das nicht-produktive Gewebe, das als Parasit und Eindringling gebrandmarkt worden ist, müsste von ihr unschädlich gemacht werden.

    Dabei knüpften die Begriffe, so Steiner, an das gängige weltanschauliche Repertoire des Neoliberalismus an, verfügten also bereits über eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, was wiederum die Chancen für die Akzeptanz der Gentechnologie erhöhe. Nicht vergessen werden sollte hier, dass die neuen Methoden und Techniken der Analyse und Manipulation genetischen Materials ihrerseits ja die materielle Grundlage des angekündigten wirtschaftlichen Booms der Biotechnologie sind. So greifen Über- und Unterbau mal wieder aufs Schönste ineinander, und man beginnt zu verstehen, was für ein umfassendes Programm des Umbaus mit dem Begriff Biopolitik gemeint ist.

    Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim macht auf die komplexe Interessenlage aufmerksam, die die Entwicklung sowie Nutzung der neuen Techniken bestimmt, die eben keineswegs nur biomedizinischen Kriterien folgen. Bereits 1983 wurde ein folgenreiches Urteil gesprochen, in dem ein Gynäkologe zur Zahlung von Alimenten für ein Kind mit einer Chromosomenstörung verpflichtet wurde, weil er, so die Anklage, die über 35-Jahre alte Mutter nicht auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik hingewiesen hatte. Für die Gynäkologen hat sich dadurch das Haftungsrisiko verschärft, d.h., sie werden indirekt dazu aufgefordert, ihren Patientinnen die Inanspruchnahme einer genetischen Beratung nahe zulegen, ebenso wie die Berater gedrängt werden, die Durchführung eines Gentests zu favorisieren. Beck-Gernsheim weist zu Recht darauf hin, dass derartig sich verselbständigende Handlungsfolgen, die im juristischen ebenso wie im ökonomischen, aber auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich stattfinden, zu den vielen Nebenfolgen gehören, die in der modernen Technikentwicklung immer mehr an Gewicht gewinnen.

    Dass wir uns mitten in einer historischen Umbruchssituation befinden, die die Gesamtheit der ökonomischen, technologischen, sozialen und kulturellen Kräfte erfasst hat, dürfte unumstritten sein. Und auch, dass die Lebenswissenschaften, die life sciences, wie die neuen Ausrichtungen der Biologie im angelsächsischen Raum genannt werden, dabei eine zentrale Rolle spielen. Wie weit sich die Gesellschaft hier allerdings einmischt, ist eine andere Frage. Der Informations-, Reflektions- und Diskussionsbedarf jedenfalls ist groß, und ein Band wie der vorliegende liefert mannigfaltige Anregungen, um über die vielen Implikationen dieser neuen Wissenschaften gründlich nachzudenken.

    Barbara Eisenmann besprach: "Genpool; Biopolitik und Körperutopien", herausgegeben von Theo Steiner im Wiener Passagen Verlag. Das Buch hat 399 Seiten und kostet 44 Euro.