Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Theodor Plivier/Hans-Harald Müller: Stalingrad

An dieser Stelle verlassen wir die vergleichsweise neu erschienen Bücher zum Themenkomplex "Stalingrad" - und öffnen ein Unterkapitel, das ich der Einfachheit halber mit "wiedergelesen" überschreiben möchte - aus gegebenem Anlass sozusagen. - Hier ist wohl gleich Theodor Plieviers "Stalingrad" zu nennen, das vor kurzem wieder als Sonderband bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist. Für Klaus Kuntze die Begegnung mit einem guten alten Bekannten, den er jetzt, nach langen Jahren, wiedergetroffen hat.

Klaus Kuntze | 16.12.2002
    Die Erde zittert. Ein unterirdisches Beben...Der Himmel brennt, im Norden und auch Über dem Don... Artillerie. Minenwerfer. Brüllende Kanonen, Tausende Tonnen Pulver gehen in die Luft. Der Kalender zeigt den 19 November. Es dauert Stunden und sind nicht Stunden, es ist ein ausgespiener Brocken außerhalb der Zeit.

    Die Rote Armee greift an, es ist der 19. November 1942. Ein paar Zeilen reichen Theodor Plievier, den Beginn der strategisch-militärischen Wende von Stalingrad zu skizzieren. Wie hier, am Anfang des Buches, gesteht Plievier der Chronik, die schließlich auch im Geschichtsbuch nachzulesen wäre, nur knappen Raum zu. Sein eigentliches "Stalingrad" leitet er wenige Sätze später ein.

    In Frontbreite betrat der Tod die deutschen Stellungen.

    Aber der Tod begleitet die deutschen Truppen bereits vor dem schicksalhaften 19. November. - Wochen davor beobachtet Plievier die Strafkompanien...

    Gnotke und Gimpf wurden Leichenbestatter. Bis zum Oktober hatten sie fast das ganze Bataillon, dem sie zugeteilt waren, einschließlich drei Kompanieführern und Bataillonskommandeur begraben.

    Der degradierte Unteroffizier, August Gnotke ist übrigens eine Figur, die der Autor buchstäblich bis zur letzten Seite immer wieder auftauchen lässt. Und das heißt: ein zweieinhalb-monatiges Geschehen hindurch bis zur Kapitulation der 6. Armee. - Doch lange vor diesem Ende liegt noch einmal eine historische Zäsur, an der Plievier, wenn man ihm einmal sozusagen beim Schreiben zusieht, die entscheidende Frage einführt.

    So war der 8. Januar ( 1943 ) gekommen. Gnotke in seinem Graben und die Männer hinter ihm in den Bunkern konnten nichts wissen, und es wurde ihnen auch später nichts bekannt von einer Szene, die sich an anderer Stelle der Front am gleichen Tag abspielte und die alle 'Stalingrader’ berührte. Zwei russische Kommandeure...näherten sich der Frontlinie...sie überschritten das Niemandsland... sie wurden irgendwo hineingeführt und befanden sich einem höheren deutschen Offizier gegenüber, dem sie im Namen des Sowjet-Oberkommandos ein an den Befehlshaber der 6. deutschen Armee gerichtetes Dokument überreichten.

    Die Armee sei seit Ende November eingekesselt, die militärische Lage aussichtslos und weiterer Widerstand sinnlos: ein Kapitulationsvorschlag, vierundzwanzig Stunden Frist.

    Der Unteroffizier Gnotke, wie alle Soldaten der deutschen Stalingradarmee, konnte nicht wissen, dass am folgenden Tag um 10 Uhr 00 ein neues schwarzes Blatt ihres Schicksalsbuches aufgeschlagen würde und ihre endgültige Vernichtung ihren Anfang nehmen sollte.

    Allein von der Einkesselung bis zum Kapitulationsangebot hatte die 6. Armee 140.000 Mann verloren. Und das waren keineswegs nur im Kampf Gefallene. Die schrecklich nüchterne Zahl schließt auch die Tausende Opfer ein, die infolge Hunger, Kälte und Krankheiten starben.

    Das Elend und die Not dieser hungernden, erfrierenden und kranken Soldaten drängt allein schon beim Lesen - und noch ehe sie der Autor stellt - die Frage nach einer Lösung auf, die nicht diese Opfer forderte letztlich nach der Kapitulation. Aber Generaloberst Paulus lehnt ab und setzt spätestens von diesem 9. Januar 1943 an das Schicksal der ihm verbliebenen 190.000 Soldaten, bewusst aufs Spiel.

    Warum, um Gottes willen, geht dieser Wahnsinn weiter? Die Frage fesselt den Leser des Buches wie eine klassische Tragödie den Zuschauer im Theater. Und da wie dort möchte man den Lauf in den Untergang eigenhändig anhalten.

    Diese Steigerung gelingt Plievier durch Schilderung der minimalen militärischen Aktionen. Der Kessel um die 6. Armee verengt sich schließlich bis auf Teile des Stalingrader Stadtgebietes. Mit dem Verlust der beiden Flugplätze entfallen die letzten Rettungs- und Versorgungsmöglichkeiten. Plievier zeigt in August Gnotke einen Unteroffizier, der sich einmal überzeugt und aktiv, über die SA den Nazis anschloss, aber in den Krieg nur noch hineinschlidderte. Parallel zu Gnotke gestaltet Plievier die Figur des Oberst Vilshofen. - Lagebesprechung nach Verlust einer strategisch wichtigen Höhe

    Alle fluchten, aber alle funktionierten, saßen mit ihren Ia’s zusammen, gaben Befehle aus, schrieen ihre Befehle in den Fernsprecher, ließen ihre Befehle funken, tasten, durch Ordonnanzoffiziere, Meldereiter, Kraftfahrer, Kraftradfahrer, Panzerfahrer nach vorn bringen...


    'Die Linie muss zurückgenommen werden, Vilshofen!’



    'Jawohl, General!'



    'Die Linie muss weit zurückgenommen werden !'



    'Jawohl, General!'

    Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, Entscheidung für die Offizierslaufbann, landet Oberst Vilshofen in der Wehrmacht und schließlich vor Stalingrad. Exzellent ausgebildet, intelligent und sensibel lässt sich Vilshofen über die aussichtslose Lage nicht hinwegtäuschen. Der Konflikt zwischen Befehl, besserer Einsicht, eigenem Gewissen und Gehorsam liegt auf der Hand. In immer neuen und grauenvolleren Episoden des Kriegsgeschehens setzt Plievier das gesamte Offizierskorps diesem Konflikt aus. Die Antwort reicht von Selbstmord über Resignation, Ohnmacht, Drückebergerei, zum "Fluchen und Funktionieren" oder blindem Gehorsam.

    Aber das Offizierskorps hat den Befehl über Hunderttausende Soldaten, die Verantwortung für das Leben dieser Menschen. Das bleibt keine anonyme Masse bei Plievier, der seine Genauigkeit auf Gespräche mit Gefangenen und Feldpost und Dokumente stützte. Es sind Männer mit persönlicher Geschichte und eigenem Charakter. Bauern, Facharbeiter, Ärzte oder Geistliche, die ein Leben jenseits des Krieges haben und um die Angehörige in Thüringen, Ostpreußen, im Sauerland oder Schwarzwald bangen. Mit der Kapitulation sind es nur noch 90.000 Mann, die in sowjetische Gefangenschaft gehen. Unter ihnen Unteroffizier Gnotke und Oberst Vilshofen. Zwei Soldaten, die an diesem Ende wissen, dass sie sich in ihrem verbleibenden Leben einer Wiederholung Stalingrads widersetzen werden. Das ist eine Absage an Nibelungentreue, Opfertod, Militarismus, an ein Deutschland, das seine Grenze an der Wolga sucht. Ein sehr behutsames Bekenntnis liegt am Ende.

    Deutschland soll leben, auch noch nach diesem Untergang. Dazu aber ist Not, dass alle, die guten Willens sind, einander die Hände reichen, dass sie den begehbaren gemeinsamen Weg finden.

    Plievier begann seine Arbeit 1943, ein gutes halbes Jahr nach der Kapitulation, als der Krieg nicht zu Ende, aber durch Stalingrad entschieden war. Er schrieb es in der Sowjetunion. Für den Vorwurf, er habe ihr zu Gefallen geschrieben, reichte das im Kalten Krieg, man brauchte das Buch nicht einmal selbst gelesen zu haben.

    Ein persönliches Wort zum Schluss. Mich hat dieses zweite Lesen ebenso tief berührt wie meine erste Bekanntschaft mit dem Buch vor 45 Jahren. Damals, dass war also nicht nur verständliche Stimmung im Jahrzehnt nach Kriegsende. Die hart umkämpfte Stadt hat sehr früh und bewusst fast sämtliche Spuren beseitigt. Neben Wassilij Grossmanns "Leben und Schicksal", dem Blick auf das Geschehen von sowjetischer Seite, muss Plieviers "Stalingrad" also geradezu seinen Platz haben und behaupten.

    Klaus Kuntze besprach: Theodor Plivier: "Stalingrad", als 464-seitiger Sonderband erschienen im Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch zum Preis von 12 Euro 90. - Übrigens: Auch die Südwestfunk-Hörspielfassung von Theodor Pliviers "Stalingrad" aus dem Jahr 1953 gibt es jetzt. Beim Audio Verlag zum Preis von 14 Euro 95.