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Theologiestudium
Variationen vom Kalb

Latein, Griechisch und Hebräisch gehören zum Theologiestudium. Doch wie umfassend müssen die Kenntnis der Alten Sprachen sein? Der evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies warnt vor Light-Lektionen, damit verliere das Fach seine Identität. Andere Theologen dagegen finden: weniger ist mehr.

Von Benedikt Schulz | 29.09.2016
    Laiendarsteller beschwören am 17.5.2000 bei der Fotoprobe zu den Passionsspielen in Oberammergau als Israeliten in Bethanien das Goldene Kalb, vorn Moses mit den Gesetzestafeln.
    Das goldene Kalb. Ist es eine Frage der Übersetzung, ob es angefertigt wurde von Aaron - oder dem Volk? (dpa/ Frank Mächler)
    "Der Herr schlug das Volk mit Unheil, weil sie das Kalb gemacht hatten, das Aaron anfertigen ließ." (Exodus, Kapitel 32, Vers 35).
    So heißt es in der noch gültigen Einheitsübersetzung, bei Luther lautet der Satz allerdings: "Und der HERR schlug das Volk, weil sie sich das Kalb gemacht hatten, das Aaron angefertigt hatte."
    In der New American Standard Bible heißt es dagegen: "Then the LORD smote the people, because of what they did with the calf which Aaron had made."
    Ein Satz, drei Übersetzungen – alle zwar mit ähnlicher Bedeutung, aber doch mit deutlichen Unterschieden. Wer übersetzt, interpretiert.
    "Damit sie nicht ihren Kindergottesdienst als Kriterium der Bibelauslegung verwenden, müssen Sie mit der Bibel so umgehen, wie man in philologisch-historischen Wissenschaften damit umgeht. Das heißt, die Schrift hat in der Theologie eine kategorial von allen anderen Texten unterschiedene Stellung und darf deswegen im Studium eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen", sagt Christoph Markschies, evangelischer Theologe und ehemals Präsident der HU Berlin.
    Wer evangelische oder katholische Theologie studiert, ob auf Lehramt oder nicht, der muss wohl oder übel Kenntnisse in den Antiken Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch vorweisen, auch wenn die genauen Vorgaben von Bundesland zu Bundesland, manchmal auch von Uni zu Uni unterschiedlich sind. Christoph Markschies warnt davor, diesen Anspruch aufzuweichen. Nicht jeder findet das zeitgemäß. Wolfgang Lienemann zum Beispiel wendet ein:
    "Weil im Religionsunterricht viele Themen berührt werden, in die sich ein guter Lehrer wirklich intensiv einarbeiten muss, und um das zu vermitteln ist der Rückgang auf die antiken Sprachen nicht unerlässlich. Wenn sie wirklich in dem Umfang, den Markschies vorschlägt, Latein, Griechisch, Hebräisch lernen müssten, dann würden die lieben Leute stattdessen Englisch und Religionswissenschaft als Schulfächer wählen und ganz sicher nicht mehr evangelische oder katholische Theologie. Ich halte es für unabdingbar, dass die jungen Theologinnen und Theologen sich in fremde Kulturen und vor allem in die entsprechenden Religionen so weit einarbeiten, dass sie überhaupt verstehen, was aus fernen Welten in der normalen Alltagswelt in Europa heute zukommt. Und da nützen uns Kenntnisse der antiken Sprachen wenig."
    Wolfgang Lienemann ist emeritierter evangelischer Theologe an der Uni Bern. Die Welt dreht sich und Studieninhalte sind nicht in Stein gemeißelt, das weiß natürlich auch Markschies. Aber ihren Anteil im Studium zu verringern, oder gar ganz darauf zu verzichten, weil es ja genügend ausgezeichnete Übersetzungen gibt, hieße die Basis der Theologie leichtfertig aufgeben.
    Christoph Markschies sagt: "Sie arbeiten sich ja nicht als Selbstzweck in fremde Kulturen ein. Also Religionsunterricht möchte gern die biblische Tradition, die jüdische und die christliche Tradition in eine heutige Welt vermitteln und das wär ja eine merkwürdige Form von Vermittlung, wenn sie nur die heutige Welt studieren würden und gar nicht das, was sie zu vermitteln haben. Ich sehe das überhaupt nicht als Alternative, natürlich sollte man, wenn man in Berlin-Neukölln Religionsunterricht gibt, verstehen, wie das islamische Berlin-Neukölln tickt. Aber man muss auch wissen, was der Kern ist, den man selber vermittelt."
    "Und Jahwe verhängte Unheil über das Volk, weil sie das Kalb verfertigt hatten, welches Aaron verfertigt hatte."
    (Textbibel des Alten und Neuen Testaments von 1899)
    Betroffen sind natürlich in erster Linie die Studierenden selbst. Die wenigsten haben Kenntnisse in Griechisch oder Hebräisch zu Beginn des Studiums, und auch das Latinum kann nicht jeder vorweisen. Gerade für angehende Religionslehrer, die neben einem weiteren Fach auch den erziehungswissenschaftlichen Teil des Studiums zu schultern haben, stellen die Sprachanforderungen eine echte Belastung dar – besonders für Bafög-Empfänger, die auf die Einhaltung ihrer Regelstudienzeit angewiesen sind. Was aber nicht heißt, dass alle Studierende der Theologie die antiken Sprachen loswerden möchten.
    "Ich kenne natürlich die Probleme, die sich durch die Sprachen ergeben und dass es auch nicht ganz einfach ist, die Sprachen zu erlernen, aber ich denke jedem ist klar, der ein Studium beginnt, dass es auch immer Teile gibt, die manchen Leuten mehr liegen und anderen Leuten weniger", sagt Julia Uelsmann. Sie studiert evangelische Theologie in Münster – um Pfarrerin zu werden. Die Grundlagen des Theologiestudiums seien nun mal in den antiken Sprachen verfasst, meint sie, ein Studium light kommt für sie nicht in Frage. "Wenn der Student sich für BWL entscheidet, muss er auch durch Mathe durch, ob er das nun gut findet oder nicht."
    "Percussit ergo Dominus populum pro reatu vituli quem fecit Aaron."
    (Vulgata-Bibel)
    Dennoch bleibt die Frage: brauch ich das später wirklich – ob auf der Kanzel oder im Klassenzimmer. Denn das Lernen von Latein, Griechisch und Hebräisch soll ja kein reiner Selbstzweck sein. Christoph Markschies: "Man muss sich immer klarmachen, die Ausbildung in den Alten Sprachen ist auch Bildung, aber sie ist elementar berufsorientiert. Das kann man sich vielleicht an Gedichten deutlich machen, wenn ich ein französisches Gedicht verstehen will, berufsmäßig verstehen will, also nicht nur ein Liebhaber bin, würden wir ja auch sagen, eine Romanistik ohne Französisch, das geht einfach nicht. Für das Sprachenlernen im Theologiestudium ist ganz wichtig, dass man das Leuten nicht als Abstrakte Pflicht übern Kopp knallt. Sondern ihnen versucht im Sprachunterricht deutlich zu machen, was für eine wunderbare Welt sich damit erschließt."
    Alles gut und schön, meint Markschies Kollege aus Bern, Wolfgang Lienemann, aber in der heutigen Studienrealität leider illusorisch.
    "Mit den Schmalspurkenntnissen in den alten Sprachen, die heute in der Regel vermittelt werden, wird dieses Niveau gar nicht erreicht. Es bleibt eigentlich eine Domäne für diejenigen, die intensiver einsteigen, aber die Mehrzahl derer, die nicht ständig mit antiken Texten zu tun haben, die werden auf diese Weise, wenn ihnen das obligatorisch gemacht wird, zu lange daran aufgehalten. Und haben für andere Dinge keine Zeit. Wenn Sie im Unterricht, was ja schön wäre, ne Schrift von Kant lesen, um die zu verstehen brauchen Sie kein Griechisch. Ich habe doch den Eindruck, dass das Interesse an dem Studium nach wie vor da ist. Und insbesondere dann gefördert wird, wenn die jungen Menschen sehen, wie vielfältig die Welt ist, die sie in diesem Studium kennenlernen. Sie bekommen aber von der Vielfalt des Faches dann nicht genug mit, wenn sie sich in den ersten drei Semestern nur auf den Spracherwerb konzentrieren müssen. Dann ist es viel sinnvoller, wenn man zum Beispiel antike Texte berücksichtigt, dass dann die Dozierenden regelmäßig auch unter Rückgriff auf die Originale Feinheiten erklären ohne, dass die Studierenden dies alles von Anfang an richtig als Sprache gepaukt haben müssen."
    Gerade für die evangelische Theologie aber findet Markschies den Erhalt der antiken Sprachen im Studium nicht nur wichtig, sondern geradezu identitätsbildend. Er spricht gar von einer drohenden Gesichtslosigkeit des reformatorischen Christentums.
    Er sagt: "Wenn Sie fragen, was der Unterschied zwischen einem evangelischen Theologiestudium und einem allgemeinen Studium der Religionswissenschaft ist, dann besteht der Unterschied darin, dass wenn Sie evangelische Theologie studieren, sich auf die besonderen identitätsbildenden Charakteristika von evangelischer Theologie einlassen. Und dazu gehört diese berühmte Parole, Allein die Schrift."
    Lienemann wendet ein: "Ich finde das abenteuerlich. Ich nehme mal ein Beispiel. Ich war vor ein paar Jahren in den USA an einer Universität und hab dort unter anderem ein Seminar über den Schweizer Theologen Karl Barth mitgestaltet. Zum Beispiel hatten wir einen chinesischen Doktoranden, um jetzt diese Interpretationsaufgaben an einem großen, klassischen bedeutenden deutschsprachigen Dogmatiker des 20. Jahrhunderts. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, musste man nicht Griechisch und Hebräisch können. Das Entscheidende in der Reformation war, dass die Bibel für alle offen war, dass jeder sich über die biblische Verkündigung, die Verkündigung des Pfarrers, anhand der aufgeschlagenen Bibel ein eigenes Urteil bilden konnte. Und wenn Sie in Südafrika oder in vielen US-amerikanischen Gottesdiensten sind, dann bringen die Menschen ihre eigene Bibel mit. Aber nicht auf Griechisch und Hebräisch, sondern in Englisch oder einer anderen Landessprache und benutzen selbständig die Bibel. Das ist viel wichtiger, als dass sie die alten Sprachen lernen."
    Bildnummer: 55073932 Datum: 17.06.2004 Copyright: imago/Horst Galuschka Halle Franckesche Stiftung Bibliothek Das 1700 durch August Hermann Francke gegr
    Die Cansteinische Bibelanstalt hat 10 Millionen Bibeln in einer Vielzahl von Sprachen gedruckt (imago / Horst Galuschka )
    "Der Ewige ließ ein Sterben im Volk aufkommen, weil sie das Kalb gemacht hatten, welches nämlich Aharon machen musste."
    (Moses-Mendelssohn-Übersetzung 1783)
    Und der Satz aus Buch Exodus? Hat das Volk das Kalb gemacht? Oder hat es etwas MIT dem Kalb gemacht, das Aaron gemacht hat? Bleibt nur der Blick in die Urtexte. Im Codex Leningradensis, der ältesten, bekannten vollständigen Handschrift des Tanach steht, dass das Volk das Kalb gemacht hat, auf Hebräisch: assú. Das gleiche Wort kommt aber zweimal vor. Das Kalb, das Aaron gemacht hat. Also: Der Herr schlug das Volk, weil es das Kalb gemacht hat, das Aaron gemacht hat. Weil das allein jedoch wenig Sinn ergibt, versuchen die Übersetzer den Sinn für heutige Leser zu ergründen. Manche sagen, dass das Volk Aaron gedrängt hat, das Kalb zu machen, andere verstehen, dass das Kalb vom Volk verehrt wurde. Wer einschätzen will, was korrekter ist, wird um ein bisschen Hebräisch nicht herumkommen.