Therapeuten, Ärzte und Sexologen bezeugen: Das Elend des Fleisches regiert die Welt. Der überschwenglich gelobte, glorreiche Körper führt den realen Körper unweigerlich in Absteigen, Bordelle oder auf die Couch der Psychoanalytiker. Da es nicht gelungen ist, hedonistische, spielerische, fröhliche und wollüstige Beziehungen zu schaffen, haben die beiden christlichen Jahrtausende nur den Hass auf das Leben und die Ausrichtung der Existenz auf Verzicht, Zurückhaltung (...) und allgemeines Misstrauen gegenüber dem anderen gebracht.
Von Behauptungen dieses Kalibers strotzt Onfrays Streitschrift Für eine solare Erotik . Die Sprache der Liebe sei noch immer eine sentimentale, verhüllende, idealisierende, die sich scheue, offen das Begehren zu artikulieren. "Das Abendland" konstatiert der Autor, "versetzt Milliarden von Menschen in 2000 Jahre Selbsthass, Körperverachtung und gnadenlose Frauenverachtung". Sind Bordelle, Misogynie und Geschlechterkampf nicht die traurigen Errungenschaften der "christlichen Gesellschaftsneurose" fragt er sich. Dem ist nicht so, kannten doch spätestens die Römer das Lupanar als feste Einrichtung. Gleichwohl hält Onfray an der "ideologisch reaktivierten Begriffsordnung der stumpfsinnigen jüdisch-christlichen Welt", in der wir lebten, fest, um die Dringlichkeit seiner Theorie der Libertinage einschließlich seines Plädoyers für einen "libertinen Egalitarismus" zu unterstreichen. Diese Theorie beruft sich auf die Dichtung wie auch die Philosophie der Alten, insbesondere die der Stoiker und Kyniker. Ferner auf Lukrez als dem "Erfinder der Libertinage", d.h. der solaren Erotik, sowie auf Ovid, Autor der Liebeskunst, als dem Konstrukteur der "Wunschmaschinen". Die Begriffsschöpfer, Deleuze und Guattari definierten Wunschmaschine als das Unbewusste der sozialen und technischen Maschinen.
Als Medizin gegen monotheistische "Lebensverachtung und Lustvernichtung" schlägt Onfray eine Rückbesinnung auf den Materialismus der Antike vor. Dieser gilt ihm als Wegweiser zu einer "schuldfreien Erotik, die die Wiedervereinigung der Körper mit dem Leben ermöglicht". Der Philosoph muss sich allerdings fragen lassen, welches Jahrhundert oder welchen Kulturkreis er meint, wenn er mit Schuldgefühlen belastete sexuelle Erfahrungen unterstellt. Das Jahrhundert Nietzsches, dasjenige Freuds? Aber verfolgen wir die Argumente jener "Kriegserklärung an alle Formen, die der Todestrieb in den Geschlechtsbeziehungen annimmt", weiter. Die Theorie des verliebten Körpers möchte eine Alternative sein zur Philosophie des Begehrens, deren Grundlage die Idee des Mangels darstellt. Gibt es nicht zölibatären Sex und Wunschmaschinen statt des begehrenden Menschen, dem der andere mangelt? Man vergesse also Platon, Freud, Lacan, auch den "Weihwassergeruch der frommen Anhänger der Grenzerfahrung". Onfrays hedonistischer Materialismus möchte dekonstruieren, was er als "asketisches Ideal" attackiert: die Monogamie, die Treue, die exklusive Liebe, die Familie. Wenn wir also mit Ovid zwischen Liebe und Erotik unterscheiden und die letztere nicht zur Voraussetzung der Liebe machen - und umgekehrt; wenn wir Epikurs Kalkül zustimmen, die Lust müsse größer sein als die Unlust, denn diese würde die Ruhe des Weisen gefährden; wenn wir schließlich nach Onfray Liebe neu bestimmen als egoistische Begierde nach Lust, den hehren Begriff der Liebe folglich ins Reich der Mystik verweisen, ergibt sich für das Paar das Bild von unabhängigen Planeten und freien Kometen - zwischen zwei Formen von Nichtsein . Eros statt Agape, lautet die Devise. Nach Onfray erproben Mann und Frau, einmal vom Wahn der exklusiven Liebe befreit, im erregten Begehren und übersteigerter Lust jeder die autistische Ekstase und die solipsistische Wollust, radikal fremd gegenüber den Gefühlen des andere . Der Marquis de Sade berief sich vorzugsweise auf die materialistischen Philosophen seiner zeit, um seinen subjektiven Obsessionen einen Freibrief auszustellen. Wenn der Baron von Holbach das vermeintlich grausame, amoralische Wirken der Natur hervorhob oder La Mettrie - in der Nachfolge Descartes''- den Menschen als animierte Maschine dachte: was hinderte den Atheisten Sade dann noch daran, durch Grausamkeiten sexuell auf seine Kosten zu kommen?
Charles Fourier, einer der Vordenker der Februarrevolution von 1848, beflügelte dagegen derselbe radikale Materialismus zum Traum vom Reich ‚Harmonia' und der Utopie von der ‚Neuen Liebeswelt'. Zweifellos steht Onfrays Abhandlung über die Libertinage, seine Feier der leichten Erotik und der fröhlichen Libido, sein großes Ja zur Existenz Fouriers ‚Utopia' näher als der schwarzen Erotik von Sades Club der ‚Freunde des Verbrechens'. Nachdrücklich bekennt sich der Denker einer materialistischen Physiologie der Liebe" zu einer "Ethik der Sanftmut .
Mehr als einmal erinnert seine Rhetorik an den Anti-Ödipus, an die ‚Rhizomatik' von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Während vor mehr als zwei Dezennien mit der befreiten Sexualität zwangsläufig ein politisches Programm verbunden war, beschränkt sich Onfray auf Ratschläge zum Lebens-Stil. Statt einer revolutionären Gesellschaftsveränderung empfiehlt er die Bildung mobiler "Mikrogesellschaften". Zwar kann der Philosoph weder der kleinbürgerlichen Familie noch dem "Nihilismus von heute" etwas abgewinnen, und nicht ein Argument spricht seines Erachtens für die Fortpflanzung. In diesen skeptischen Ausführungen wirkt der Franzose übrigens am überzeugendsten, wie ich meine.
Wenn sich Onfray dann doch dazu hinreißen lässt, in Gestalt eines ‚Vertrags', die "epikureische Form von Ethik" auszuformulieren, erliegt er dem vom "Gesetz besessenen Denken", das er selbst bei anderen zu Recht moniert. "Die epikureische Form von Ethik macht eine solare, egalitäre Erotik möglich", schreibt er. "Die beiden Vertragspartner haben die gleichen Rechte, gehorchen ähnlichen Prinzipien und unterschreiben unter ähnlichen Bedingungen." Viel mehr als eine Variante des kategorischen Imperativs vermag ich in der Formel nicht zu erkennen, und die Nähe zu juristischen Gütertrennungsverträgen wirkt peinlich.
Die Rede war von einem Buch, das das Versprechen einer fröhlichen Wissenschaft nur bedingt einlöst, an dessen Thesen zu reiben aber sich lohnt.
Von Behauptungen dieses Kalibers strotzt Onfrays Streitschrift Für eine solare Erotik . Die Sprache der Liebe sei noch immer eine sentimentale, verhüllende, idealisierende, die sich scheue, offen das Begehren zu artikulieren. "Das Abendland" konstatiert der Autor, "versetzt Milliarden von Menschen in 2000 Jahre Selbsthass, Körperverachtung und gnadenlose Frauenverachtung". Sind Bordelle, Misogynie und Geschlechterkampf nicht die traurigen Errungenschaften der "christlichen Gesellschaftsneurose" fragt er sich. Dem ist nicht so, kannten doch spätestens die Römer das Lupanar als feste Einrichtung. Gleichwohl hält Onfray an der "ideologisch reaktivierten Begriffsordnung der stumpfsinnigen jüdisch-christlichen Welt", in der wir lebten, fest, um die Dringlichkeit seiner Theorie der Libertinage einschließlich seines Plädoyers für einen "libertinen Egalitarismus" zu unterstreichen. Diese Theorie beruft sich auf die Dichtung wie auch die Philosophie der Alten, insbesondere die der Stoiker und Kyniker. Ferner auf Lukrez als dem "Erfinder der Libertinage", d.h. der solaren Erotik, sowie auf Ovid, Autor der Liebeskunst, als dem Konstrukteur der "Wunschmaschinen". Die Begriffsschöpfer, Deleuze und Guattari definierten Wunschmaschine als das Unbewusste der sozialen und technischen Maschinen.
Als Medizin gegen monotheistische "Lebensverachtung und Lustvernichtung" schlägt Onfray eine Rückbesinnung auf den Materialismus der Antike vor. Dieser gilt ihm als Wegweiser zu einer "schuldfreien Erotik, die die Wiedervereinigung der Körper mit dem Leben ermöglicht". Der Philosoph muss sich allerdings fragen lassen, welches Jahrhundert oder welchen Kulturkreis er meint, wenn er mit Schuldgefühlen belastete sexuelle Erfahrungen unterstellt. Das Jahrhundert Nietzsches, dasjenige Freuds? Aber verfolgen wir die Argumente jener "Kriegserklärung an alle Formen, die der Todestrieb in den Geschlechtsbeziehungen annimmt", weiter. Die Theorie des verliebten Körpers möchte eine Alternative sein zur Philosophie des Begehrens, deren Grundlage die Idee des Mangels darstellt. Gibt es nicht zölibatären Sex und Wunschmaschinen statt des begehrenden Menschen, dem der andere mangelt? Man vergesse also Platon, Freud, Lacan, auch den "Weihwassergeruch der frommen Anhänger der Grenzerfahrung". Onfrays hedonistischer Materialismus möchte dekonstruieren, was er als "asketisches Ideal" attackiert: die Monogamie, die Treue, die exklusive Liebe, die Familie. Wenn wir also mit Ovid zwischen Liebe und Erotik unterscheiden und die letztere nicht zur Voraussetzung der Liebe machen - und umgekehrt; wenn wir Epikurs Kalkül zustimmen, die Lust müsse größer sein als die Unlust, denn diese würde die Ruhe des Weisen gefährden; wenn wir schließlich nach Onfray Liebe neu bestimmen als egoistische Begierde nach Lust, den hehren Begriff der Liebe folglich ins Reich der Mystik verweisen, ergibt sich für das Paar das Bild von unabhängigen Planeten und freien Kometen - zwischen zwei Formen von Nichtsein . Eros statt Agape, lautet die Devise. Nach Onfray erproben Mann und Frau, einmal vom Wahn der exklusiven Liebe befreit, im erregten Begehren und übersteigerter Lust jeder die autistische Ekstase und die solipsistische Wollust, radikal fremd gegenüber den Gefühlen des andere . Der Marquis de Sade berief sich vorzugsweise auf die materialistischen Philosophen seiner zeit, um seinen subjektiven Obsessionen einen Freibrief auszustellen. Wenn der Baron von Holbach das vermeintlich grausame, amoralische Wirken der Natur hervorhob oder La Mettrie - in der Nachfolge Descartes''- den Menschen als animierte Maschine dachte: was hinderte den Atheisten Sade dann noch daran, durch Grausamkeiten sexuell auf seine Kosten zu kommen?
Charles Fourier, einer der Vordenker der Februarrevolution von 1848, beflügelte dagegen derselbe radikale Materialismus zum Traum vom Reich ‚Harmonia' und der Utopie von der ‚Neuen Liebeswelt'. Zweifellos steht Onfrays Abhandlung über die Libertinage, seine Feier der leichten Erotik und der fröhlichen Libido, sein großes Ja zur Existenz Fouriers ‚Utopia' näher als der schwarzen Erotik von Sades Club der ‚Freunde des Verbrechens'. Nachdrücklich bekennt sich der Denker einer materialistischen Physiologie der Liebe" zu einer "Ethik der Sanftmut .
Mehr als einmal erinnert seine Rhetorik an den Anti-Ödipus, an die ‚Rhizomatik' von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Während vor mehr als zwei Dezennien mit der befreiten Sexualität zwangsläufig ein politisches Programm verbunden war, beschränkt sich Onfray auf Ratschläge zum Lebens-Stil. Statt einer revolutionären Gesellschaftsveränderung empfiehlt er die Bildung mobiler "Mikrogesellschaften". Zwar kann der Philosoph weder der kleinbürgerlichen Familie noch dem "Nihilismus von heute" etwas abgewinnen, und nicht ein Argument spricht seines Erachtens für die Fortpflanzung. In diesen skeptischen Ausführungen wirkt der Franzose übrigens am überzeugendsten, wie ich meine.
Wenn sich Onfray dann doch dazu hinreißen lässt, in Gestalt eines ‚Vertrags', die "epikureische Form von Ethik" auszuformulieren, erliegt er dem vom "Gesetz besessenen Denken", das er selbst bei anderen zu Recht moniert. "Die epikureische Form von Ethik macht eine solare, egalitäre Erotik möglich", schreibt er. "Die beiden Vertragspartner haben die gleichen Rechte, gehorchen ähnlichen Prinzipien und unterschreiben unter ähnlichen Bedingungen." Viel mehr als eine Variante des kategorischen Imperativs vermag ich in der Formel nicht zu erkennen, und die Nähe zu juristischen Gütertrennungsverträgen wirkt peinlich.
Die Rede war von einem Buch, das das Versprechen einer fröhlichen Wissenschaft nur bedingt einlöst, an dessen Thesen zu reiben aber sich lohnt.