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Therapiesitzung mit Maxim Gorki

Im Hause Protassow lebt eine Bildungselite, die es gut hat, während draußen die Cholera grassiert; eine Gruppe, die sich abschottet gegen die da unten: die "Kinder der Sonne". Der Regisseur Luk Perceval hat aus dem gleichnamigen Stück von Maxim Gorki eine tragikomische Bearbeitung für das Thalia Theater in Hamburg gemacht.

Von Michael Laages | 25.03.2010
    Soweit ist alles klar und überzeugend - wenn das vielköpfige Personal im Hause des Wissenschaftlers Protassow sowie in der näheren dörflich-familiären Nachbarschaft alle nur erdenklichen privaten Probleme und Problemchen, all die Dramen und Dramolettchen bürgerlicher Unzufriedenheit herunterbetet, dann klingt das zuweilen tatsächlich wie in der Volkshochschulen-Psychogruppe.

    Alle fassen sich friedlich-freundlich an den Händen, stellen sich im Kreis auf und reden endlich mal miteinander; der bücherkluge, aber weltabgewandte Protassow selbst ist der Profi-Versteher in der Gruppe und bekommt schon darum eigentlich nichts mit, gar nichts; nicht die Frustration der eigenen Ehefrau, die ihrerseits von einem Maler beflirtet wird, nicht die abgöttische Verehrung, die ihm die wohlhabende Witwe von nebenan entgegenbringt. Irgendwie hängen alle ja mit allen zusammen, im Lieben wie im Hassen, und noch beim ruppigen Jegor - bei Gorki noch ein derber Prolet unter lauter Bürgern - kehrt der Therapeut den Gutmenschen raus:

    Viel wird gelacht in Luk Percevals Gorki-Bearbeitung. Vor allem, weil sie sich so rabiat ironisch herleitet aus der Therapiesitzung - in der zunächst alle wie die Hühner auf der Stange auf einer Maler-Planke hocken und meditativ schweigen, bis Jegor, gleich der Frauenprügler, einen Anruf auf dem Handy bekommt.

    Zuweilen rennen alle panisch nach vorn an die Rampe, manchmal auch im Kreis durch den Bühnenraum, um dann in neuer Formation nebeneinander aufs Brett zu hüpfen: zur Familienaufstellung. Dahinter malt die Njanja, das urrussische, hier ostpreußisch plappernde Mütterchen/Kindermädchen, ganz naiv eine Sonne auf eine riesige Rollleinwand; danach Häuschen und - in schönen kyrillischen Buchstaben - die Namen der Bewohner, später Tannen und Gräber. Dies ist wieder eine dieser prächtigen Bühnenideen von Katrin Brack - durch die Naivität der Dauermalerei wird der Fabel wie den Träumen und Albträumen der Sonnenkinder aller Tiefsinn ausgetrieben.

    Immerhin: Der da vom einsamen Ferkelchen träumt, wird sich schließlich erhängen, so unnütz fühlt er sich. Und die ihm zuhört, ist dem Wahnsinn schon sehr nahe, noch bevor sie vom Tod des Geliebten erfährt. Diese tragikomische Fallhöhe aber entwickelt sich im Verlauf des ebenso kurzen wie prinzipiell kurzweiligen Abends zum Problem - so haarsträubend albern geht es zuweilen zu im Beziehungszoo bei Protassows, dass sich eine ganze Menge der ursprünglichen Gorki-Motive nicht mehr recht einstellen wollen; zumal der angeblich um die fundamentale, wissenschaftlich grundierte Verbesserung der Menschheit an sich kämpfende Hausherr den ganzen Abend über eigentlich gar nichts tut. Außer eben den hoffnungslos dümmlich taktierenden, aber immer wohlmeinenden Familientherapeuten zu geben - nichts als das, nichts als dieses lächerliche Nichts ist geblieben von der Rettung der Menschheit.

    Luk Perceval verstärkt die Gorki-Entkernung noch dadurch, dass er alle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen kleineren und größeren Katastrophenszenarien dramaturgisch einebnet - und so dafür sorgt, dass sich kaum je eine Szene organisch aus der vorherigen ergibt. Stattdessen tritt jeder und jede jeweils vor und erzählt immer nur seins - eine zu Monaden zerfallende Gesellschaft von Nomaden tritt an zu zwei Dutzend Solo-, bestenfalls Duoshows. Und eine Menge dieser Soloshows sind ja auch ziemlich klasse - Percevals Ensemble spielt eine Art finster funkelndes Gorki-Kabaret.

    So ist dieser Abend in jedem Fall, und selbst wo er fast quälend albern wird, sehr klug - nur: klug wozu? Kann und will er sich - wie die Gorki-Menschen das selbst im Irrtum noch konnten - Zukunft überhaupt vorstellen? Wohl kaum. Wenn aber nicht: Wozu dann Gorki - nur um mitzuteilen, wie wenig er uns noch zu sagen hat? Das wäre im Ergebnis doch ein wenig. Und das Thalia Theater, zuletzt mit Gorkis "Sommergästen", schon mal weiter.