Wie kaum ein anderer hat der französische Philosoph Michel Serres die Veränderung des Wissens im Verlauf der Jahrhunderte beschrieben. Für Serres gab es in der menschlichen Geistesentwicklung drei Revolutionen. Alle hingen damit zusammen, daß sich der Raum des Wissens veränderte. Vor 5.300 Jahren ereignete sich in Mesopotamien der erste Umbruch. Die Erfindung der Schrift stellte damals den größten kulturellen Fortschritt der Menschheit dar. Zum ersten Mal war die Möglichkeit gegeben, Wissen zu speichern. Die zweite Revolution ereignete sich 1455 in Mainz: Johannes Gutenberg erfand den Buchdruck. Als er in seiner Werkstatt die Bibel vervielfältigte, war dies der Sprung von der kostbaren Handschrift zur maschinellen Reproduktion. Die nun ermöglichte Verbreitung wissenschaftlicher Werke war ein ungeheurer Fortschritt und markierte den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.
Schließlich die dritte - die technologische - Revolution. An deren Anfang stehen Namen wie John von Neumann und Alan Turing. Nun ist das Wissen nicht mehr einfach in Büchern und Zeitschriften gespeichert - also nicht nur in begrenzt verfügbaren Medien. Nein, heute surfen wir in Datenwelten, die weder Anfang noch Ende haben. Die heutigen Speicherkapazitäten übersteigen bei weitem das Vermögen eines einzelnen Menschen und sind am ehesten mit Borges' fiktiver "Bibliothek von Babel" vergleichbar. In den Zeiten des Internets, so Michel Serres, verändere sich das Lern- und Leseverhalten grundlegend. Wer im Internet surft, begibt sich auf die Suche. Er sammelt unterschiedlichste Informationen und er synthetisiert das Verstreute.
Serres schreibt dies im Vorwort seines, mit Nayla Farouki herausgegebenen Lexikons "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Aber warum gerade heute - 250 Jahre nach d'Alemberts "Encyclopédie" - ein Lexikon schreiben? Serres meint, daß die Enzyklopädie im Zeitalter des Internets eine Renaissance erleben wird. Denn für die Benutzer beider Medien gilt die gleiche Methode. Sie folgen nicht einem breiten Trampelpfad, der zu einem abgezirkelten und sicheren Wissen führt. Ganz im Gegenteil, sie gehen von den verstreuten Informationen aus und fügen nach und nach das Disparate zusammen:
Dank des dezentralen Charakters der neuen Ausstattungsmittel und der fehlenden Steuerung fällt die Initiative nun dem Lernenden zu; er sucht, wo er will, nach dem, was er braucht. Er liest weniger Bücher oder hört weniger Vorlesungen, dafür wird er sich aber in einem Wörterbuch oder Lexikon schlau machen und nach Lust und Laune durch den Raum des Wissens surfen. Er macht sich selbst auf die Suche nach den Quellen.
Der Universalgelehrte Michel Serres möchte "unser gesamtes Wissen möglichst verständlich präsentieren." Noch mehr: "Die meisten Artikel dieses Lexikons" - so die Zielsetzung - machen sich ans Erzählen." Diesem Konzept ist der Autor bereits vor zehn Jahren gefolgt, als er in einem 1.000seitigen Buch die "Elemente einer Geschichte der Wissenschaften" präsentierte. Schon damals hatte er ein renommiertes Team geschmiedet. Auch diesmal versammelte Serres wieder eine Gruppe von Gelehrten: "einen" - wie er sagt - "ideellen Gesamtwissenschaftler, der den kollektiven Sachverstand verkörpert" (X). Nun ging es aber um ein systematisches Ziel. Nach den Grundzügen der wissenschaftlichen Entwicklung sollten die Begriffe der exakten Wissenschaften einem breiten Lesepublikum vermittelt werden. Die Dringlichkeit dieser Vermittlungsarbeit steht für Serres außer Frage. Denn der Graben zwischen den spezialisierten Wissenschaften wird zusehends tiefer. Den Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen herzustellen und zu befördern - dies ist die immense Aufgabe, der sich Michel Serres stellt. Und warum?
Die Naturwissenschaftler verstehen nichts von der Philosophie, und die Philosophen verstehen nichts von der Naturwissenschaften. Dies führt dazu, daß zwischen beiden Bereichen keine Verbindung, sondern nur Unverständnis herrscht. Doch das Spiel besteht nicht aus zwei, sondern aus drei Figuren. Die dritte Figur ist die Öffentlichkeit. Die zivile Gesellschaft versteht nichts von der Wissenschaft und den ethischen Problemen, weil zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft die Medien stehen. Sie gehen an Probleme heran ohne Kenntnis der Geistes- oder Naturwissenschaften. Das macht das Spiel äußerst verwickelt. Wir befinden uns in einer dramatischen Situation.
Michel Serres weiß, wovon er spricht. Er hatte selber Mathematik und Philosophie studiert und unterrichtet heute Wissenschaftsgeschichte an der kalifornischen Stanford University. Zudem ist er Mitglied der Académie française und Programmberater des Bildungskanals "La Cinquième". Den Dialog von "hard" und "soft sciences" beschäftigt Serres schon lange Zeit. Heute hält er ihn für dringender denn je. Zwar ist das weite Feld der Medizin ausgespart und entsprechend die Namen der heute grassierenden Epidemien. Dafür findet der Benutzer zahllose Eintragungen aus der Biochemie und allein sechzehn Artikel mit der Vorsilbe "Gen-". Dies ist kein Wunder. Die Gentechnologie ist heute die meistdiskutierte Wissenschaft, ständig berichten die Medien von ihren Fortschritten und Gefahren. Serres warnt aber eindringlich vor einer Verteufelung der neuen Forschung, genauer: vor einer Verbreitung falscher Informationen:
Eine deutsch-französische Forschungsgruppe züchtete eine Reissorte, die nach der genetischen Veränderung einen höheren Eisenanteil und entsprechend einen höheren Nährwert besitzt. Dieser Reis soll die Hungerkatastrophen in der Dritten Welt bekämpfen. Natürlich ist das eine gute, aber leider eine zu wenig verbreitete Nachricht. (...) Ich bin der Überzeugung, daß die Entscheidungen der Politiker, die Mitteilungen der Medien und die Reaktionen der Öffentlichkeit sehr weit von einer wirklichen Kenntnis des Problems entfernt sind. Das Problem besteht heute darin, daß die Information des Adressaten nicht erreicht. Alle Medien berichten über die genetisch veränderten Organismen, als handele es sich um giftige Substanzen.
Und welches ist der von Serres anvisierte Ausweg? Der unermüdliche Wegbereiter für ein neues Wissenschaftsverständnis sagt mit dankenswerter Klarheit:
Der Ausweg kann nur darin bestehen, daß die wissenschaftliche Information - die gute Information - im Besitz der Philosophen, der Naturwissenschaftler, der Medien und der Öffentlichkeit ist und daß jeder auf der Grundlage seines Wissens eine Ethik zu konstruieren vermag, die zugleich die Ethik aller ist.
Deswegen - so Michel Serres - brauchen wir den "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Er ist ein unerläßlicher Navigator, damit wir besser durch das Meer der unbekannten Begriffe und Wissenschaften steuern können. Damit wir besser wissen, was es mit Apoptosis, Genom, Klonieren, neuronalen Netzen und Schwarzen Löchern auf sich hat. Zwar ist der "Thesaurus" nicht zu jenem Universallexikon geworden, von dem Borges geträumt hat, es sei "das Buch, das alle Bücher umfaßt." Und dennoch haben wir mit knapp 1200 Seiten und 850 Einträgen eine Schatzkiste in den Händen. In ihr finden sich die "wichtigsten Begriffe" aus Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Informatik, Mathematik und Physik. Die Herausgeber Michel Serres und Nayla Farouki sind der Überzeugung, daß der "Thesaurus" den heutigen Informationsansprüchen bestens genüge tut. Er regelt die Wissensaneignung ähnlich spielerisch wie das Internet. Ganz nebenbei werden dadurch, wie Serres im lesenswerten Vorwort schreibt, Gewohnheiten über den Haufen geworfen, "die sich seit der Entstehung der hellenischen paideia im 6. Jahrhundert vor Christus und der Entstehung der Schrift" herausgebildet haben. Deswegen erleben wir heute "die Geburt einer neuen Bildung.
Sie folgt, wie Serres berichtet, der prozeduralen Erkenntnis:
Die prozedurale Erkenntnis (...) macht sich einfach auf den Weg und reist durch die vielgestaltige Landschaft, ohne die Einzelheiten und Einzelfälle wegzuhobeln, um sich besser an die Gesetze und Gattungen erinnern zu können; (...) sie nimmt einen konventionellen Ariadnefaden auf und geht von Position zu Position, von Ort zu Ort, von site zu site, nachdem sie sich die Adressen beschafft hat, die zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr an bestimmte Orte der Welt gebunden sind.
Das Zeitalter der "neuen Bildung" steht im Zeichen eines doppelten Umbruchs. Es verschafft nicht nur einen spielerischen Zugang zum Wissen. Die Revolution ist noch wesentlich grundlegender, weil sie sogar den Raum des Wissens verändert:
Wir denken nun nicht mehr so sehr im Rahmen eines markierten, zentrierten Raums als vielmehr entlang der Bahnen eines flexiblen, in Bewegung befindlichen, dezentrierten Raumgitters.
Und weil dies so ist, bieten die neuen Formen der Wissensaneignung und des Informationstransfers eine große Chance. Denn die neuen Medien ermöglichen erstmals den allgemeinen und freien Zugang zu den Informationen. Aber Serres bleibt nicht bei dieser optimistischen Sichtweise stehen. Er weiß sehr wohl, daß das Internet vornehmlich mit Datenmüll vollgestopft ist. Deswegen gelte es, aus der Überfülle der Daten die wahre Information herauszufiltern:
Ich möchte betonen, daß in einer Zeit des beschleunigten technologischen Fortschritts alles auf die Zirkulation der guten Information ankommt oder, genauer gesagt, auf die Zirkulation der wahren Information. Nicht der Mangel an Freiheit ist heute das dringende Problem, sondern die Abwesenheit von Wahrheit. Wir erkennen heute, daß die Wahrheit in der gegenwärtigen Gesellschaft das grundlegende philosophische Problem ist. Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht über wahre Informationen verfügen.
Um diesem Missstand abzuhelfen, gibt es nun den "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Wenngleich einige Artikel - wie etwa der Eintrag zur "Topologie" - dem Leser ein undurchdringliches Dickicht von Formeln zumuten, bestechen andere durch unübertroffene Klarheit. Etwa der Artikel über die "Geometrie", der uns nebenbei darüber belehrt, daß wir - nach Herodot - die Geometrie den altägyptischen Landvermessern verdanken, die nach jeder Überschwemmung die Felder an den Ufern des Nil neu vermessen mußten, um die Steuern festzusetzen. Wenngleich die Zeit der großen Enzyklopädien vorbei ist, der "Thesaurus" ist ein wichtiger Baustein für die heutige Informations- und Wissensgesellschaft. Und warum?
In unseren gegenwärtigen Demokratien ist die Wahrheit das vordringliche Problem, denn unsere Freiheit hängt von der wahren Information ab.
Schließlich die dritte - die technologische - Revolution. An deren Anfang stehen Namen wie John von Neumann und Alan Turing. Nun ist das Wissen nicht mehr einfach in Büchern und Zeitschriften gespeichert - also nicht nur in begrenzt verfügbaren Medien. Nein, heute surfen wir in Datenwelten, die weder Anfang noch Ende haben. Die heutigen Speicherkapazitäten übersteigen bei weitem das Vermögen eines einzelnen Menschen und sind am ehesten mit Borges' fiktiver "Bibliothek von Babel" vergleichbar. In den Zeiten des Internets, so Michel Serres, verändere sich das Lern- und Leseverhalten grundlegend. Wer im Internet surft, begibt sich auf die Suche. Er sammelt unterschiedlichste Informationen und er synthetisiert das Verstreute.
Serres schreibt dies im Vorwort seines, mit Nayla Farouki herausgegebenen Lexikons "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Aber warum gerade heute - 250 Jahre nach d'Alemberts "Encyclopédie" - ein Lexikon schreiben? Serres meint, daß die Enzyklopädie im Zeitalter des Internets eine Renaissance erleben wird. Denn für die Benutzer beider Medien gilt die gleiche Methode. Sie folgen nicht einem breiten Trampelpfad, der zu einem abgezirkelten und sicheren Wissen führt. Ganz im Gegenteil, sie gehen von den verstreuten Informationen aus und fügen nach und nach das Disparate zusammen:
Dank des dezentralen Charakters der neuen Ausstattungsmittel und der fehlenden Steuerung fällt die Initiative nun dem Lernenden zu; er sucht, wo er will, nach dem, was er braucht. Er liest weniger Bücher oder hört weniger Vorlesungen, dafür wird er sich aber in einem Wörterbuch oder Lexikon schlau machen und nach Lust und Laune durch den Raum des Wissens surfen. Er macht sich selbst auf die Suche nach den Quellen.
Der Universalgelehrte Michel Serres möchte "unser gesamtes Wissen möglichst verständlich präsentieren." Noch mehr: "Die meisten Artikel dieses Lexikons" - so die Zielsetzung - machen sich ans Erzählen." Diesem Konzept ist der Autor bereits vor zehn Jahren gefolgt, als er in einem 1.000seitigen Buch die "Elemente einer Geschichte der Wissenschaften" präsentierte. Schon damals hatte er ein renommiertes Team geschmiedet. Auch diesmal versammelte Serres wieder eine Gruppe von Gelehrten: "einen" - wie er sagt - "ideellen Gesamtwissenschaftler, der den kollektiven Sachverstand verkörpert" (X). Nun ging es aber um ein systematisches Ziel. Nach den Grundzügen der wissenschaftlichen Entwicklung sollten die Begriffe der exakten Wissenschaften einem breiten Lesepublikum vermittelt werden. Die Dringlichkeit dieser Vermittlungsarbeit steht für Serres außer Frage. Denn der Graben zwischen den spezialisierten Wissenschaften wird zusehends tiefer. Den Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen herzustellen und zu befördern - dies ist die immense Aufgabe, der sich Michel Serres stellt. Und warum?
Die Naturwissenschaftler verstehen nichts von der Philosophie, und die Philosophen verstehen nichts von der Naturwissenschaften. Dies führt dazu, daß zwischen beiden Bereichen keine Verbindung, sondern nur Unverständnis herrscht. Doch das Spiel besteht nicht aus zwei, sondern aus drei Figuren. Die dritte Figur ist die Öffentlichkeit. Die zivile Gesellschaft versteht nichts von der Wissenschaft und den ethischen Problemen, weil zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft die Medien stehen. Sie gehen an Probleme heran ohne Kenntnis der Geistes- oder Naturwissenschaften. Das macht das Spiel äußerst verwickelt. Wir befinden uns in einer dramatischen Situation.
Michel Serres weiß, wovon er spricht. Er hatte selber Mathematik und Philosophie studiert und unterrichtet heute Wissenschaftsgeschichte an der kalifornischen Stanford University. Zudem ist er Mitglied der Académie française und Programmberater des Bildungskanals "La Cinquième". Den Dialog von "hard" und "soft sciences" beschäftigt Serres schon lange Zeit. Heute hält er ihn für dringender denn je. Zwar ist das weite Feld der Medizin ausgespart und entsprechend die Namen der heute grassierenden Epidemien. Dafür findet der Benutzer zahllose Eintragungen aus der Biochemie und allein sechzehn Artikel mit der Vorsilbe "Gen-". Dies ist kein Wunder. Die Gentechnologie ist heute die meistdiskutierte Wissenschaft, ständig berichten die Medien von ihren Fortschritten und Gefahren. Serres warnt aber eindringlich vor einer Verteufelung der neuen Forschung, genauer: vor einer Verbreitung falscher Informationen:
Eine deutsch-französische Forschungsgruppe züchtete eine Reissorte, die nach der genetischen Veränderung einen höheren Eisenanteil und entsprechend einen höheren Nährwert besitzt. Dieser Reis soll die Hungerkatastrophen in der Dritten Welt bekämpfen. Natürlich ist das eine gute, aber leider eine zu wenig verbreitete Nachricht. (...) Ich bin der Überzeugung, daß die Entscheidungen der Politiker, die Mitteilungen der Medien und die Reaktionen der Öffentlichkeit sehr weit von einer wirklichen Kenntnis des Problems entfernt sind. Das Problem besteht heute darin, daß die Information des Adressaten nicht erreicht. Alle Medien berichten über die genetisch veränderten Organismen, als handele es sich um giftige Substanzen.
Und welches ist der von Serres anvisierte Ausweg? Der unermüdliche Wegbereiter für ein neues Wissenschaftsverständnis sagt mit dankenswerter Klarheit:
Der Ausweg kann nur darin bestehen, daß die wissenschaftliche Information - die gute Information - im Besitz der Philosophen, der Naturwissenschaftler, der Medien und der Öffentlichkeit ist und daß jeder auf der Grundlage seines Wissens eine Ethik zu konstruieren vermag, die zugleich die Ethik aller ist.
Deswegen - so Michel Serres - brauchen wir den "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Er ist ein unerläßlicher Navigator, damit wir besser durch das Meer der unbekannten Begriffe und Wissenschaften steuern können. Damit wir besser wissen, was es mit Apoptosis, Genom, Klonieren, neuronalen Netzen und Schwarzen Löchern auf sich hat. Zwar ist der "Thesaurus" nicht zu jenem Universallexikon geworden, von dem Borges geträumt hat, es sei "das Buch, das alle Bücher umfaßt." Und dennoch haben wir mit knapp 1200 Seiten und 850 Einträgen eine Schatzkiste in den Händen. In ihr finden sich die "wichtigsten Begriffe" aus Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Informatik, Mathematik und Physik. Die Herausgeber Michel Serres und Nayla Farouki sind der Überzeugung, daß der "Thesaurus" den heutigen Informationsansprüchen bestens genüge tut. Er regelt die Wissensaneignung ähnlich spielerisch wie das Internet. Ganz nebenbei werden dadurch, wie Serres im lesenswerten Vorwort schreibt, Gewohnheiten über den Haufen geworfen, "die sich seit der Entstehung der hellenischen paideia im 6. Jahrhundert vor Christus und der Entstehung der Schrift" herausgebildet haben. Deswegen erleben wir heute "die Geburt einer neuen Bildung.
Sie folgt, wie Serres berichtet, der prozeduralen Erkenntnis:
Die prozedurale Erkenntnis (...) macht sich einfach auf den Weg und reist durch die vielgestaltige Landschaft, ohne die Einzelheiten und Einzelfälle wegzuhobeln, um sich besser an die Gesetze und Gattungen erinnern zu können; (...) sie nimmt einen konventionellen Ariadnefaden auf und geht von Position zu Position, von Ort zu Ort, von site zu site, nachdem sie sich die Adressen beschafft hat, die zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr an bestimmte Orte der Welt gebunden sind.
Das Zeitalter der "neuen Bildung" steht im Zeichen eines doppelten Umbruchs. Es verschafft nicht nur einen spielerischen Zugang zum Wissen. Die Revolution ist noch wesentlich grundlegender, weil sie sogar den Raum des Wissens verändert:
Wir denken nun nicht mehr so sehr im Rahmen eines markierten, zentrierten Raums als vielmehr entlang der Bahnen eines flexiblen, in Bewegung befindlichen, dezentrierten Raumgitters.
Und weil dies so ist, bieten die neuen Formen der Wissensaneignung und des Informationstransfers eine große Chance. Denn die neuen Medien ermöglichen erstmals den allgemeinen und freien Zugang zu den Informationen. Aber Serres bleibt nicht bei dieser optimistischen Sichtweise stehen. Er weiß sehr wohl, daß das Internet vornehmlich mit Datenmüll vollgestopft ist. Deswegen gelte es, aus der Überfülle der Daten die wahre Information herauszufiltern:
Ich möchte betonen, daß in einer Zeit des beschleunigten technologischen Fortschritts alles auf die Zirkulation der guten Information ankommt oder, genauer gesagt, auf die Zirkulation der wahren Information. Nicht der Mangel an Freiheit ist heute das dringende Problem, sondern die Abwesenheit von Wahrheit. Wir erkennen heute, daß die Wahrheit in der gegenwärtigen Gesellschaft das grundlegende philosophische Problem ist. Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht über wahre Informationen verfügen.
Um diesem Missstand abzuhelfen, gibt es nun den "Thesaurus der exakten Wissenschaften". Wenngleich einige Artikel - wie etwa der Eintrag zur "Topologie" - dem Leser ein undurchdringliches Dickicht von Formeln zumuten, bestechen andere durch unübertroffene Klarheit. Etwa der Artikel über die "Geometrie", der uns nebenbei darüber belehrt, daß wir - nach Herodot - die Geometrie den altägyptischen Landvermessern verdanken, die nach jeder Überschwemmung die Felder an den Ufern des Nil neu vermessen mußten, um die Steuern festzusetzen. Wenngleich die Zeit der großen Enzyklopädien vorbei ist, der "Thesaurus" ist ein wichtiger Baustein für die heutige Informations- und Wissensgesellschaft. Und warum?
In unseren gegenwärtigen Demokratien ist die Wahrheit das vordringliche Problem, denn unsere Freiheit hängt von der wahren Information ab.