Es ist vielleicht das Kinderzimmer mit dem Blick auf jenen Wolschaner Friedhof, und die frühe Gegenüberstellung mit dem Tod, die ihre Wahrnehmung in diese Zwischenbereiche zwischen Leben und Tod lenken. Dann später von der Politik mit Publikationsverbot belegt, von der tragischen Geschichte der Stadt bedrängt und durch Verluste geliebter Personen tief getroffen, erschaffte sie sich ihre eigene Stadt, in der all das Bekannte, diesmal durch keine Grenzen der Realität behindert, ihr Eigenleben entfaltet. Und als sie erfährt, daß ausgerechnet aus ihrem ehemaligen Kinderzimmer im Krieg das jüdische Mädchen Alice Davidovic aus dem Fenster stürzt, um der Deportation zu entgehen, betritt sie zum ersten Mal die Tore ihrer Stadt der Trauer, um die Spuren der Alice aufzunehmen. Hodrová dazu: "In dem Augenblick, in dem ich die Welt des ersten Romans erschuf, wurde ich davon mitgerissen, und ich ahnte schon, daß ich mich aus dieser Welt nicht wieder befreie. Dann fing ich an, an dem zweiten Roman zu schreiben, und ich begriff endgültig, daß ich in dieser Welt für immer verbleibe. Alle meine folgenden Romane sind so Teile dieser Unendlichkeit."
Auf diese Weise entsteht das "Wolschaner Reich". Und es sind die Toten aus der langen Geschichte jenes Friedhofs und des nahen Galgenbergs, die die Cità dolente bevölkern, um hier neue Spuren zu hinterlassen und so in das wirkliche Leben zurückzukehren. Und wenn in dem "Wolschaner Reich" das Mädchen Alice Davidovic heißt, ist es im "Reich der Lüfte" Sophie Ziesel, die die Botschaft von Alice und ihrem schwarzen Persianermuff weiterreicht. Und wie bereits im ersten Buch geschehen in den Straßen um den Friedhof wunderliche Dinge. Denn, so Hodrová, "nichts ist so, wie es scheint, nichts auf der Welt", - währenddessen sich Frau Ziesel, die ihre Mußestunden genüßlich in der Badewanne verbringt, in einen Schwan verwandelt, und der Muff in ein Lämmchen.
Und diese zwielichtige Welt, in der alles möglich erscheint, wird auch im letzten Roman der Trilogie, in "Theta" fortgesetzt. Nur daß hier Sophie Ziesel jetzt Eligka Lämmel heißt. Doch auch sie kennt den schwarzen Persianermuff. Die Handlungsebenen der beiden ersten Romane fließen ineinander, verschieben sich, um zu neuen Geschichten zusammenzuwachsen: "Auf einmal fühlte ich die Notwendigkeit, das Schreiben der beiden vorherigen Romane zu reflektieren", so Daniela Hodrová. "Es war eine sehr intime Mitteilung. In ‘Theta’ bin ich am offensten autobiographisch. Ich trete unter meinem richtigen Namen auf, und einige Szenen sind derart realistisch - wie ich zum Beispiel den Tod meines Vaters beschreibe - daß nur ganz selten dabei ein Detail ausgedacht ist. Vielleicht zerstört das gewissermaßen den Zauber, doch es deutet gleichzeitig an, daß es da auch noch etwas Fiktives, Ausgedachtes gibt. Dadurch entsteht ein neuer Zauber, der zeigt, daß diese Erfindungen ein Teil jenes Wesens sind, das diese Sachen ersinnt, und daß das wiederum keine Fiktion, sondern ein Teil der Seele dessen ist, der dies schreibt. So gesehen ist auch seine Geschichte keineswegs fiktiv, ebenso wenig wie der Traum eine Fiktion darstellt. Auch das ist ein Stück Realität. Es ist nichts Imaginäres. Es geschieht in uns."
Und Eligka Lämmel, die gleichzeitig Sophie Ziesel und Alice Davidovic ist, in Wirklichkeit aber Daniela Hodrová heißt, sucht ihren toten Vater, den Schauspieler Zdenek Hodr, dem der Vogel Kancer bereits den Brustkasten zerhackt hat und der an Lungenkrebs starb. Doch sie begegnet ihm immer wieder in seiner letzten Rolle im Stück "Die Nacht des Leguans" von Tennessee Williams. Er spielt den todkranken Jonathan Coffin, der sein letztes Gedicht vor dem Tode schreibt. Eligkas Blickwinkel hinter der Bühne ist auch der Blickwinkel des Romans. Es ist ein etwas schräger Blick, der einem ermöglicht, das Theater auf der Bühne und die Wirklichkeit hinter den Kulissen zu erfassen. Von dem Bühnentod des Vaters, der ja eine Fiktion darstellt, erhofft sie sich, ihn in das Leben zurückzuholen zu können.
Von der Bühne ist es nur ein Schritt in das Labyrinth der Unterwelt zum Vater. Indessen aber Tvor, das Geschöpf, eine vogelartige Marionette, das Herr Chaun, eigentlich der Vater, die Metrostufen hinunterführt, fürchtet sich vor den Tiefen des Untergrunds. Auch wenn Eligka den Schlüssel dazu in der Hand hält. Es ist der griechische Buchstabe Theta, was auch Thanatos heißt, der Tod. Doch Theta heißt auch Deleatur - das Tilgungszeichen -, das die Lektorin Hodrová allzu gut kennt. Werden ihre Wortsammlungen, die sie in den dunklen Gängen des Labyrinths mühsam zusammensuchte, vor diesem Zeichen bestehen? Der Tvor, Theta, Thanatos und Thema?
So schreibt sich Daniela Hodrová durch die leidvollen Straßen der Stadt der Trauer hindurch, begleitet nicht nur von Dante und ihren Prager Freunden. Auch die tschechische Schriftstellerin Bozena Nemcová und ihr großer Landsmann Comenius und sein "Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens" stehen ihr bei. Wie die Architektur von Prag, die die Gegenwart aller Zeiten erlebbar macht, ist auch die Geschichte der Stadt in zeitlosem Raum. Der Husiten-Hauptmann Prokop Holý und der Galgenberg, das Pankrácer Gestapogefängnis, oder Jan Palach. Alle Grenzen, die unser Bewußtsein und unsere Sichtweisen bestimmen, sind auf einmal aufgehoben. Nicht nur die Grenzen zwischen Leben und Tod. Auch die Geschichte mag sich bei Hodrová nicht an ihre zeitliche Bindung halten. Es ist Hodrovás Meisterschaft, daß sie dabei auch ohne durchgehende Handlung auskommt.
Sie schrieb ihren Roman, so sagt sie, ganz intuitiv. Auch dort, wo für den Leser Brüche entstehen - in den literaturtheoretischen Passagen, die in dem sinnenhaften Labyrinth der Unterwelt zu fremd, zu intellektuell und langatmig erscheinen. Sie schrieb, um ihre innere Welt besser zu ergründen: "Im Grunde begreife ich das Schreiben als eine Art Therapie. Insbesondere diesen Prozess des Schreibens. Dabei fühle ich, daß mit mir etwas geschieht. Ich denke hier nicht an das Abreagieren, das wäre sicherlich zu dürftig. Aber ich nehme wahr, wie ich mich durch das Schreiben verändere. Doch als das Ganze zu Ende ist, verspüre ich Trauer darüber, daß die Verbindung mit dieser Welt wieder abbricht. Und obwohl es oft eine qualvolle Welt ist, fühle ich mich darin irgendwie wohl. Und da ist noch die Angst, es könnte mit dem Schreiben endgültig aus sein. Diese Beklemmung - ich würde nie wieder in diese Welt zurückkehren, in dieses Schloß, das ich irgendwo einmal sah - wie in dem Roman von Alain Fournier -, und nie wieder den Weg dorthin zurückzufinden."
Das Buch spiegelt seine Schreiberin getreu wieder: feingliedrig, zerbrechlich, still, mit einem scheuen Lächeln. Im Bücherregal ihres Arbeitszimmers steht ein Foto von Susanna Roth, ihrer Freundin und meisterhaften Übersetzerin ihrer Romane. Es war ihre letzte große Arbeit, bevor sie noch viel zu jung das Reich der Toten betrat. Doch sie wird sicher zurückkehren, auch sie wird in Hodrvás Welt eingehen, wie das schon vor ihr die ebenso allzufrüh verstorbene Libuse Moniková in diesem Roman tat. Es ist schön zu wissen, daß auch das heutige Prag noch Menschen wie Daniela Hodrová beherbergt.