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"This man's pill"

Bereits vor zehn Jahren hat Carl Djerassi seine Autobiografie geschrieben. Weil er in diesen zehn Jahren jedoch nicht nur älter, sondern auch reifer geworden ist, und vor allem weil zehn Jahre lang ständig der 40. oder 50. Geburtstag der Pille gefeiert wurde, weil also niemand so recht wußte, wann und wo und wie genau die Pille zur Welt gekommen war, hat sich Djerassi entschieden, die Geschichte der Pille noch einmal, und zwar noch genauer zu erzählen. 236 Seiten sind dabei herausgekommen, auf denen der Autor die lange Vor- und Nachgeschichte des ersten "oralen stereoiden Kontrazeptivums", wie die Pille genau heißt, erzählt, auf denen er aber auch - wie der Untertitel es andeutet: "Sex, die Kunst und Unsterblichkeit" - der Autor seinen anderen großen Neigungen weiten Raum gibt. Denn Djerassi ist neben einem weltbekannten Wissenschaftler auch ein Romanautor und ein Kunstsammler, der sogar eine der umfangreichsten Sammlungen der Werke Paul Klees besitzt. Im Mittelpunkt all dieser spannenden Abenteuer steht jedoch: die Pille!

Oliver Seppelfricke | 06.05.2002
    Die Pille erblickte am 15. Oktober 1951 das Licht der Welt. An diesem Tag schloß das Forscherteam um Carl Djerassi in einem kleinen Labor an der mexikanischen Grenze die allererste Synthese eines Stereoids ab. Eine Kohlenstoffverbindung, die die Welt verändern sollte. Norethindrone, wie der kostbare Stoff hieß, war zunächst nur in wenigen Milligramm da. Heute ist die Pille, die daraus hergestellt wurde, das wohl weitverbreitetste Pharmazeutikum der Welt. Der junge Djerassi, der mit seinen Eltern 1939 vor den Nazis aus Wien geflohen war, der in Bulgarien zur Schule gegangen war und der in den USA einer der brillantesten Chemiker wurde, verkaufte seine Erfindung für einen Dollar an die Firma Syntex. War aber schlau genug, sich Aktien des Unternehmens zu kaufen, die ihm ein Vermögen einbrachten. Heute finanziert er daraus einen Teil seiner philanthropischen Tätigkeiten, die Stiftungen zur Förderung von Kultur und Menschlichkeit, die er in den letzten Jahren vor allem nach dem Tod seiner Tochter eingerichtet hat. Sie waren auch der Grundstock für seine umfangreiche Kunstsammlung. Das Mittel, das Djerassi damals in dem kleinen mexikanischen Labor herstellte, trat seinen Siegeszug um die Welt an.

    Und über genau diesen Siegeszug, den viele auch für eine Katastrophe halten, nicht nur weil er, wie die katholische Kirche meint, die Sexualität entwerte, weil er den Akt der Zeugung vom Sex trennt, sondern auch weil er den Körper der Frau einem Eingriff unterzieht, der mal als Befreiung, mal als Belastung empfunden wird - über diesen Siegeszug macht sich Djerassi nun im neuen Buch mehr Gedanken als zuvor. Die Pille hält er nach wie vor für einen Gewinn für die Frau. Weil sie die Hoheit über ihre Fortpflanzung bekam, negative Folgen wie täglicher Druck, Hormonveränderungen interessieren Djerassi kaum. Großes Interesse findet er jedoch an den heutigen Veränderungen in der Reproduktionsmedizin. Für die die Pille quasi die Tür geöffnet hat: Djerassi plädiert für die frühzeitige Sterilisierung von Mann und Frau. Die ihre Eier und Spermien einfrieren lassen sollten, wie es heute ja bereits geschieht, um ungehemmt und unbeschwert Sex haben zu können, wenn sie ein Kind haben wollen, gehen sie zur Bank und lassen im Labor im Reagenzglas eines zeugen. Das ist die schöne neue Zukunft unserer Welt!

    Interessanter noch als diese Zukunftsausblicke und als die Ausflüge in die Vergangenheit sind jedoch die Einblicke in sein privates Leben. Die Carl Djerassi - ganz Charmeur, Fabulierer und genauer Wissenschaftler in einem - gibt. Der Leser erfährt nicht nur alles über die Pille. Sondern auch wie Djerassi zum mittlerweile anerkannten Romancier geworden ist (um sich an seiner ersten Frau zu rächen, einer Literaturwissenschaftlerin, die ihn verließ, hat er ein ganzes Genre, "Science-in-Fiction", also Wissenschaftsromane erfunden), man erfährt von diesem nicht uneitel zu nennenden Autor viel darüber, wie er seine Abende verbringt (mit Opern- und Konzertbesuchen nämlich, vor allem in London, seinem zweiten Domizil), und wer nicht nur etwas über die Pille, sondern auch über ihren rastlos reisenden Erfinder erfahren will, der die Doktorhüte zuhauf sammelt wie auch die Werke der Klassischen Moderne, der liegt mit der neuen und wohl auch abschließenden Autobiografie, die fast wie ein Tagebuch der Pille daherkommt, mehr als richtig! Eine spannende Reise durch das Universum einer wissenschaftlichen Leidenschaft und eine Entdeckungsfahrt durch die reichen Welten eines vielseitig begabten Mannes! Eben: Sex, Kunst und Unsterblichkeit!