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Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

In der zeitgeschichtlichen Publizistik erfreut sich neuerdings ein Genre großer Popularität, das man als Väter- oder Großvätersuchbilder bezeichnen könnte. Angeregt durch wiedergefundene Briefe oder Fotos begeben sich fast sechzig Jahre nach Kriegsende die Enkel auf historische Spurensuche und erforschen das Leben ihrer Ahnen in Kriegs- und Vorkriegszeit. Ein gefährliches Genre, denn da ist nicht nur die Gefahr eitler Selbstbespiegelung und unerträglicher Geschwätzigkeit, der literarische Familismus verleitet auch zu Verklärung und Entschuldigung. Ob Thomas Medicus solchen Gefahren bei der Suche nach seinem Großvater entgangen ist, sagt Ihnen nun Karin Beindorff.

Von Karin Beindorff | 17.05.2004
    Nichts genaues weiß man nicht - das wäre ein treffendes Motto für Thomas Medicus 'Familienroman’. Das zeitgeistige Irgendwie, das verschwiemelte und zaudernd Unbestimmte verspricht dem den Vorzug, sich nicht festlegen zu müssen. Derart werden die Leser von Thomas Medicus an der überaus prätentiösen Seelenschau, an der Suche nach dem Selbst ’in den Augen seines Großvaters’ beteiligt.

    Was hingegen der weiß und darum auch seine Leser schnell erfahren, ist leicht zusammengefasst: Wilhelm Crisolli, der Großvater des s war ein deutscher Militär, Offizier dreier deutscher Armeen, der kaiserlich preußischen, der Reichswehr und der nationalsozialistischen Wehrmacht. Ein Parvenue aus Pommern, im ebenso elitären wie itären Geiste der Kavallerie groß geworden, ein Herrenreiter, begeisterter Teilnehmer an Jagdgesellschaften und dem Milieu ostelbischer Gutsbesitzer und Junker verhaftet. 1944 wurde der zum Generalmajor beförderte Kommandeur der 20. Luftwaffen-Felddivision von italienischen Partisanen erschossen.
    Solche Karrieren kennt man bereits zu Dutzenden; man sollte meinen, über sie, ihre gesellschaftliche und politische Rolle im Nationalsozialismus gibt es nichts Neues mehr zu sagen, wäre da nicht ein Zeitgeist-Trend, der, ausgestattet mit dem Schein des Authentischen, Geschichte als Familiengeschichte wiederzukäuen begonnen hat, darin merkwürdig der selektiven Erinnerung der 50er Jahre ähnelnd. Der Faschismus wird Privatsache. Opa? Opa war anders.

    Enkel Thomas Medicus bekommt nach dem Tode seiner Großmutter 1986 ein paar Papiere, Gegenstände und Photos in die Hand und beginnt fortan Wilhelm Crisollis Spur aufzunehmen und sich Fragen zu stellen. Leider sind das allzu häufig Fragen, deren Beantwortung dieser ganzen aufwendigen Recherche gar nicht bedürften, sie liegt nämlich längst auf der Hand. Die Historiker waren ja nicht untätig.
    Und zu allem Überfluss wird diese ganze Suche in recht verschmockter, in ihrer literarischen Ambition oft missglückten Sprache ausgebreitet.
    Seinem Großvater Wilhelm Crisolli ist der Enkel nie begegnet und, wie in den meisten deutschen Familien, wollten Ehefrau und Kinder über die Wehrmachtstaten der Männer so genau gar nichts wissen, und noch weniger darüber reden. Dieser Mangel an persönlichem Erleben und das übliche Familienschweigen machen es dem erst möglich, den ahnungsvollen Naiven zu geben.

    In der kleinsten Schatulle, einem blauen Kästchen, das ich immer bis zuletzt aufhob, schlief Graf Dracula. Es barg ein Ritterkreuz. Das im Schnittpunkt erhabene, unter der schwarzen Legierung kaum sichtbare Hakenkreuz ließ mich jedes Mal erschauern.

    Warum erschauern? Was hatte der erwartet? Dass man einem Generalmajor der Naziarmee seinen Orden ausnahmsweise ohne Hakenkreuz verliehen hatte?

    Ich wusste, dass es sich bei dem Toten in dem Sarg um meinen Großvater handelte, und mir war auch bekannt, dass dieser Großvater der Vater meiner Mutter war, Wehrmachtsgeneral und in Oberitalien von Partisanen erschossen. All das hatte ich immer gewusst, aber darüber hinaus hatte ich nichts wissen wollen.

    Was aber will der Enkel fast 50 Jahre und unzähligen Regalmetern Literatur später eigentlich bei seiner Jahre dauernden, durch mehrere Länder führenden Suche herausfinden? Zunächst fühlt er ostelbische Landschaften, die er nie gesehen hat, die sich aber "wie Flöze" irgendwie in ihm "abgelagert" haben, in sich aufsteigen; und so entdeckt er 'den Osten in sich’, fährt nach Pommern und schwadroniert über die Bedeutung von Kiefernwäldern in seiner inneren Familien-Geographie. 50 Seiten nimmt der Leser an derart ermüdenden Exkursionen teil, wandert durch halb Europa, bevor endlich der angekündigte Großvater Gestalt annimmt.

    Im wesentlichen treibt Medicus, Jahrgang 1953, nun die Frage um, ob sein Großvater als Nazioffizier in Oberitalien Schuld auf sich geladen habe. Eine Frage, die angesichts der Kenntnisse seiner Generation über den nationalsozialistischen Terror künstlich blöd anmutet. Wie sollte der Kommandeur einer Division, die zur Bekämpfung von Partisanen eingesetzt war, wohl gänzlich ohne Schuld geblieben sein?

    Wie, so könnte man Medicus fragen, ist wohl der italienische Partisan (und Jude) Primo Levi nach Auschwitz geraten?
    Sehr unwahrscheinlich, dass ein hoher Offizier, selbst wenn er kein erklärter Nazi war, mit diesen aber die antidemokratische Gesinnung, den Glauben an 'Deutschlands Mission’, die Affekte gegen die Moderne, vielleicht auch den Antisemitismus geteilt hatte, der zudem an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg an vorderster Front beteiligt war und der kaum die Blutspur der SS in seiner Umgebung übersehen konnte – sehr unwahrscheinlich, dass der ohne Schuld sein konnte.

    Seitenlang kreißt nun der Berg, um ein Mäuschen zu gebären. Über Wilhelm Crisollis Kriegstaten, stellt sich heraus, gibt es wenig Gesichertes herauszufinden, Akten existieren nicht mehr, die wenigen Zeugen berichten vom Hörensagen, Ermittlungen, wie gegen vergleichbare ranghohe Militärs nach dem Krieg haben nicht stattgefunden, weil Crisolli schon tot war und man ihn ohnehin nicht hätte bestrafen können.

    Der Enkel ergeht sich ersatzweise in Spekulationen im Reportagestil. Die Ermordung eines Geistlichen und zweier Frauen, die für die Partisanen gearbeitet haben sollen, könnte auf Crisollis Befehl geschehen sein. Könnte, wahrscheinlich, vielleicht......nichts genaues weiß man nicht.
    In Ermangelung von Fakten und berauscht von der eigenen Wichtigkeit versteigt sich Medicus immer häufiger in die Fiktion:

    Eine der Eigentümlichkeiten der Geschichte von meinem Großvater und mir war, dass sie sich ohne großes Zutun meinerseits wie ein Roman entwickelte.

    Mal abgesehen von logischer Stümperei: Wie könnte ein ungeborener Enkel etwas zur Geschichte seines toten Großvaters beitragen? - dieser Roman, teilweise im Stile der Graf-Mucki-Heftchen der 50er Jahre verfasst, täuscht Erkenntnis und Reflexion vor gerade da, wo er sich vor der kritischen Analyse drückt. Zum Beispiel beschreibt Medicus des Führers Generalmajor in der Toskana, einquartiert in den Villen der örtlichen Bourgiosie:

    Das herrschaftliche toskanische Ambiente machte ihn wieder zu dem, der er hatte sein wollen. "Molto Junker", schoss es Maria Contesso, der Hausherrin, jedes mal durch den Kopf, wenn der Generalmajor durch die Halle der Villa lächelnd auf sie zuschritt. Den Kopf neigend, um der Signora einen Kuss auf den Handrücken zu hauchen, war Wilhelm Crisolli ganz Offizier vom alten Schlag.

    Angesichts solch klischeehafter Mentalitätsbeschreibungen wartet man ungeduldig auf die entscheidende Frage: Wie hat es eigentlich dazu kommen können, dass der pommersche Kavallerie-Offizier Crisolli, dem die Konvention, die preußischen Tugenden von Ehre und Tapferkeit, Mannesmut und Aufrichtigkeit so viel bedeuteten, in blindem Gehorsam für den Führer Russen und Italiener überfiel, wegsah, wenn die Kameraden der SS in nächster Nähe Zivilisten massakrierten? Und was könnte das alles noch heute mit seinem in Berlin lebenden und schreibenden Enkel zu tun haben? Doch diese Fragen stellt sich Thomas Medicus nicht, an solchen Antworten scheint er nicht interessiert.

    Nichts genaues will er gar nicht wissen, schwelgt stattdessen in Milieubeschreibungen, die man alle anderswo schon präziser gelesen hat. Schicksalhaft scheint die Geschichte über Großvater und Enkel gekommen zu sein, und wenn man sie in Familiengeschichte, in eine gleichsam naturhafte Kontinuität bettet, verliert sie auch ein wenig von ihrem Schrecken. Man kann sich wenigstens als ihr Objekt betrachten.

    Erst am Ende seines Buches gibt Medicus dann etwas von der politischen Absicht seiner Erzählung preis. Er berichtet über seine Lektüre von Alfred Andersch’: Die Kirschen der Freiheit’. Andersch hatte zufällig auch in der Division Crisollis als Soldat gedient und war 1944 zu den italienischen Partisanen desertiert. Was immer man sonst von Andersch politisch oder literarisch halten mag: er hat damals in gefährlichen Zeiten eine Entscheidung getroffen, die für ihn ein hohes Risiko barg: er wollte nicht länger nur Objekt der Geschichte sein. Doch Thomas Medicus irritiert Andersch 'negatives Heldentum’, wie er das nennt:

    Andersch Fahnenflucht mochte dem Zeitgeist der frühen Bundesrepublik widersprochen haben, de facto war sie jedoch weit weniger heroisch, als man damals glaubte. Am meisten befremdete mich, dass Andersch dieser Tat wegen glaubte, aus seiner Familiengeschichte wie der Genealogie der Täter ausgetreten und moralisch fortan salviert zu sein.

    Man könne seinen Vätern und Großvätern nicht entfliehen, behauptet Medicus weiter und denunziert so die Entscheidung des Deserteurs für den Widerstand als Flucht vor der angeblich schicksalhaft natürlichen Bindung an die Väter. Während Großvater Crisolli bewusstlos und tapfer bis zum eigenen Untergang seinen verbrecherischen Herren diente, stiehlt sich der Fahnenflüchtige aus der Schicksals-Gemeinschaft.

    Medicus bedient den Zeitgeist: Wie in den Nachkriegsjahren werden die militärischen Mitläufer aus Vollstreckern zu Verführten, angehaucht von preußischer Patina. Widerstand dagegen, sofern er nicht zum 20. Juli gehörte, trägt das Stigma der persönlichen Vorteilsnahme, ist eigentlich Verrat. 'Moralisch salviert’ wird am Ende dieser Medicus-Familiendichtung nur der mythisch beschworene Ahn, die Bilder der Toten vermischen sich im Kopf des s zu einer entlastenden Melange.

    Wilhelm Crisollis Schicksal besaß...seine eigenen Tücken. Täterschaft und Opferschicksal waren in seinem Fall derart dicht miteinander verwoben, dass sich für seine Familie nicht ohne weiteres Orientierung ergab und sich vielleicht auch gar nicht hatte ergeben können.

    Nicht ohne weiteres, vielleicht. Nichts genaues weiß man eben nicht.

    Karin Beindorff über Thomas Medicus: "In den Augen meines Großvaters" Der Band ist erschienen bei der DVA in München, hat 262 Seiten und kostet 17 Euro 90.
    Damit sind wir am Ende unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon war Hermann Theißen.