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Thomas Meyers Essay: "Die humane Revolution - Plädoyer für eine zivile Lebenskultur"

Historische Rückblicke auf das 20. Jahrhundert hat es in letzter Zeit reichlich gegeben. Nun legt der renommierte Dortmunder Politologe Thomas Meyer eine weitere, lesenwerte Bilanz vor. Er bilanziert im positiven Bereich die Ausweitung der Menschenrechte und den erzielten technischen Fortschritt, erinnert aber auch an die Barbarei von Auschwitz und an die Zündung der Atombombe. Eine Selbstaufgabe jeglicher Zivilisation? Meyer begnügt sich nicht mit der Beschreibung des Vergangenen. Er weist auch hin auf die Gefahren der Zukunft. Sei es die Mediengesellschaft, die Digitalisierung der neuen Ökonomie oder die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Wie dem entgehen? Meyer plädiert für eine zivile Lebenskultur: Die humane Revolution - durch selbstbestimmtes Zusammenleben in einer globalen Demokratie.

Andreas Baum |
    Thomas Meyer ist ein Idealist. Anders als seine Kollegen postmoderner philosophischer Strömungen reicht es ihm nicht, das Projekt der Moderne für gescheitert zu erklären. Zwar ist das 20. Jahrhundert reich an gesellschaftlichen Experimenten, die, im Namen des Menschen durchgeführt, zu Katastrophen gerieten: Kriege, Diktaturen, Hungersnöte, Vertreibung, Massenmord. Trotz alledem begreift Meyer diese Epoche als einen Pool von Erfahrungen, aus dem wir für die Zukunft schöpfen sollten.

    Eigentlich ist das 20. Jahrhundert ja ein großes Laboratorium gescheiterter Experimente. Angefangen vom Nationalsozialismus über den Kommunismus bis zu einigen anderen Bereichen, die sich erst gegen Ende des Jahrhunderts so richtig zeigen, also eine nicht vollendete, fragwürdige Globalisierung und anderes mehr, so dass ich denke, dass man aus diesen Erfahrungen eine Menge Orientierungen gewinnen kann, wie es nicht gehen kann, aber auch, wie es gehen könnte.

    Kann also das an Schrecken reiche 20. Jahrhundert als Orientierung für die Zukunft dienen? Kann es uns nutzen, um die Politik im 21. Jahrhundert klüger, menschennäher, risikoärmer und zielorientierter zu gestalten? Diese Fragen gaben den Anstoß für Meyers philosophischen Essay. Er blickt auf das 20. Jahrhundert zurück und entdeckt dort zunächst eine Tat, die so herausragend ist, das alle anderen dahinter zurücktreten müssen.

    Wenn es ein Ereignis gibt, in dem sich das zwanzigste Jahrhundert verkörpert, dann ist es Auschwitz. Die Debatten darüber, was es für Moderne und Zivilisation bedeutet, haben kein Ende genommen, seitdem das undenkbar Scheinende geschah. Auschwitz symbolisiert eine immer gegenwärtige Möglichkeit moderner Zivilisation, die nicht dadurch zu bannen ist, dass sie zur bloßen Erinnerung wird, bearbeitet, abgeschlossen und einsortiert.

    Ein Schlussstrich also würde nicht vor Wiederholung schützen. Daher plädiert Meyer dafür, die Lehren aus Auschwitz zu ziehen: In den Diskursen über die humane Gestaltung menschlicher Gesellschaft muss dieses Ereignis präsent bleiben, als Lektion für das, was der Autor die "Barbarei der Zivilisation" nennt.

    Ich denke, an Auschwitz ist das Interessanteste die Erfahrung, wie eine Hochzivilisation, der man es so nicht zugetraut hätte, innerhalb kürzester Zeit in Barbarei umschlagen kann, aus der Mitte der Normalität heraus, der Umschlag von Zivilisation und Barbarei, und zwar unter dem Beifall, wenn nicht gar unter dem aktiven Mittun, der allermeisten von denen, die vorher die Zivilisation mitgetragen hatten. Das ist eigentlich für mich das interessanteste an der Erfahrung von Auschwitz.

    Zivilität - der zentrale Begriff in Meyers Text - ist ein dünner Firnis auf der Oberfläche der Gesellschaft. Er kann reißen, plötzlich und unerwartet, wenn zum Beispiel Teile dieser Gesellschaft orientierungslos und unsicher werden , wenn Menschen, einfach gesagt, Angst haben. Dann erscheint das Gesicht der Barbarei. Gemeint ist nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch die anderen Experimente im Labor des 20. Jahrhunderts: Der Kommunismus, aber auch die Nutzung der Atomenergie haben zu Katastrophen geführt; und für die Versuchsanordnungen der Gegenwart, sei es die Gentechnik, sei es die entfesselte Kraft einer zügellosen, globalen Ökonomie, gilt das gleiche:

    Wenn bestimmte Bedingungen menschlichen Lebens, von Menschlichkeit, von anthropologischen Lebensvoraussetzungen in unseren Gesellschaften nicht mehr erfüllt sind, dann wächst die Gefahr, dass dieser Firnis der Zivilität reißt und eben viele, und in manchen Bereichen sehr viele dazu bereit sind, ganz aus diesen Bezügen rauszugehen und barbarisch zu handeln, Zivilität völlig preiszugeben.

    Zivilität definiert Meyer als die Fähigkeit, sich friedlich in den Formen des Rechts, des Respekts vor dem anderen zu verhalten. Das schließt die Bereitschaft, Konflikte geregelt auszutragen, mit ein. Als Barbarei dagegen gilt ihm die Bereitschaft, den anderen vollkommen zum Mittel für eigene Zwecke zu machen und ihm die Menschlichkeit zu bestreiten. Was also ist zu tun, um zu verhindern, dass sich die Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte in den kommenden wiederholen? Zunächst stellt Meyer, fest, dass die Bedrohungen der Gegenwart andere geworden sind.

    Drei der machtvollsten Entwicklungstrends an der Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die Mediatisierung von Politik und Kultur, die Digitalisierung der neuen Ökonomie und die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, gefährden die Integrität derjenigen Formen des sozialen Raumes und der sozialen Zeit, von denen die Chancen der Selbsterhaltung der Zivilität entscheidend abhängen.

    Anders als bei der Lektion Auschwitz befürchtet Meyer den Umschlag der Zivilisation in die Mikroformen neuer Barbarei.

    Er beginnt dort, wo Grenzen der Zumutbarkeit für Menschen dauerhaft und ohne Aussicht auf Besserung überschritten werden, wo das Zusammenleben von Gleichen in gemeinsamen Lebenswelten verhindert, unterbrochen, zerstört oder systematisch umgangen wird.

    Das selbstbestimmte Zusammenleben Gleichberechtigter in einer Gemeinschaft - das könnte der Kern einer politischen Anthropologie sein, die Meyer fordert. Dieser Satz ist natürlich nicht mehr als die zeitgemäße Adaption der Forderungen aus der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber es geht um mehr:

    Der Vorschlag ist ja: wir brauchen ein Menschenbild. Was ist eine menschliche Art zu leben? Was verträgt der Mensch? Welche Bedingungen braucht der Mensch, um als ein selbstbestimmtes, soziales aber eben auch biologisches Wesen intakt auch glücklich leben zu können. Und wenn man dieses konkretisiert, ich mach ja Vorschläge zu Konkretisierung, wäre das dann eine handfeste politische Orientierung zum Beispiel: Was kann im Bereich der Gentechnik laufen, und was nicht? Was kann im Bereich der Energietechnik laufen, und was nicht? Was kann im Bereich der Ökonomie laufen, und was nicht? Der Selbstlauf von ökonomischen oder technischen Entwicklungen ist ganz bestimmt weder menschengemäß noch akzeptabel.

    Die Einwände gegen Thomas Meyers Essay liegen auf der Hand. Er hat sich mit Forderungen nach einem neuen Menschenbild, nach einer konsequent zivilen Lebenskultur weit aus dem Fenster gehängt und ist deshalb leicht angreifbar: Zu optimistisch sein Glaube an den Willen des Menschen zur Selbstkorrektur, könnte man ihm zurufen. Vor allem aber ist es sein geographischer Standpunkt, der ihm Kritik eingebracht hat: Meyer argumentiert aus der Position eines an den Lehren der Aufklärung geschulten Mitteleuropäers. Der Nationalsozialismus ist ihn, der er aus dem Land der Täter und der Opfer stammt, eine unvergleichliche Tat. Ein Chinese, ein Bangla Deshi, ein Guatemalteke würde das möglicherweise anders sehen und auf eigene, nicht minder verheerende Katastrophen verweisen. Die Welt ist voll von Kulturen, die nicht im Mindesten den Standards westlicher Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit genügen. Sollen wir nun ausziehen, um im Namen der Zivilität moralisch missionieren oder gar kolonisieren? Eurozentrismus, das ist der Vorwurf, den sich Thomas Meyer gefallen lassen muss.

    Das habe ich gelegentlich gehört, das bezieht sich unter Umständen darauf, dass man überhaupt noch solche Kategorien wie Zivilität oder Menschenrechte oder Demokratie verteidigt, aber das halte ich für einen völlig falschen Vorwurf, weil ja Zivilität nicht kulturspezifisch ist, schon gar nicht ethnospezifisch. Zivilität, zivile Umgangsformen gibt's in sämtlichen Kulturen, gibt's in allen Teilen der Welt, und die können in allen Teilen der Welt entweder stabil sein, entweder lebendig sein und das Verhältnis der Menschen regeln oder eben gefährdet oder zerreißen. Das ist eine globale Erfahrung.

    Meyers Ausblick ist vorsichtig optimistisch: Er verweist auf die Ökologiebewegung, die Friedensbewegung und, neben anderen, auf die Anti-Globalisierungsbewegung, die Hoffnung machen auf eine weltweite zivile Lebenskultur. Voraussetzung aber für seine humane Revolution ist die Zivilisierung des Kapitalismus. Nur sie ermögliche eine Lebensform, die heute noch als utopische Träumerei gelten müssen: Die globale Demokratie.

    Thomas Meyers Essay: "Die humane Revolution - Plädoyer für eine zivile Lebenskultur" ist erschienen im Berliner Aufbau-Verlag. 160 Seiten, 17 Euro 50 Cent.