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Thomas Prüfer/Volker Stollorz: Bioethik

Humankapital hat nicht nur psychologische, soziale und wirtschaftliche Komponenten. Es ist auch eine ethische und philosophische Frage, ob und wie viel Humankapital es gibt. Hier öffnet sich das weite Feld der Bioethik, der Gentechnik, des Lebensschutzes, der Menschenwürde. Stefan Rehder hat einige beispielhafte Bücher gelesen:

Stefan Rehder |
    Thomas Prüfer und Volker Stollorz: Bioethik (Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, erschienen in der Reihe Wissen 3000, 96 Seiten, EUR 8,60)

    Martin Rhonheimer: Abtreibung und Lebensschutz. Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik (Paderborn, Verlag Ferdinand Schöningh, 240 Seiten, EUR 38,-)

    Eduard Picker: Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier fundamentaler Werte, (Stuttgart, Klett-Cotta, 220 Seiten, EUR 25,-)

    Jens Reich: Es wird ein Mensch gemacht. Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik (Berlin, Rowohlt-Verlag, 190 Seiten, EUR 16,90).

    Wir haben das Geheimnis des Lebens gelöst.

    Diesen Satz auf den Lippen stürmten vor 50 Jahren der britische Molekularbiologe Francis Crick und sein US-amerikanischer Kollege James D. Watson das Café Eagle im britischen Cambrigde. Und in der Tat: Die Entdeckung der beiden Wissenschaftler, dass das Erb-material, die DNA, die Struktur einer Doppelhelix besitzt, vermochte erstmals plausibel zu erklären, auf welche Weise sich die DNA bei jeder Zellteilung verdoppelt.

    Inzwischen sind Wissenschaftler in der Lage, die DNA immer präziser zu zerschneiden, zu kopieren und sogar zu manipulieren. Wo früher die Natur dem menschlichen Können Grenzen setzte, ist nun der Mensch selbst gefordert, seinem Können Grenzen aufzuerlegen.

    Wie weit Politik und Gesellschaft jedoch derzeit noch von einem Konsens über das entfernt ist, was der Mensch auf diesem Feld tun und was er unterlassen soll, belegen nicht zuletzt die zahlreichen Neuerscheinungen, die sich mit den strittigen bioethischen Fragen auseinandersetzen.

    Einen ersten Überblick über das weite Feld der unterschiedlichen ethischen Positionen liefert ein von den beiden Journalisten Thomas Prüfer und Volker Stollorz verfasstes Büchlein, das den schlichten Titel Bioethik trägt. In ihm werden nicht nur die beiden ethischen Hauptströmungen, ihre Entstehungsgeschichte, sondern auch ihre wesentlichen Verfechter in der Gegenwart vorgestellt:

    Ende des 18. Jahrhunderts entstanden zwei Grundmuster moderner Ethik, die bis heute wirksam sind und die auch die aktuellen bioethischen Debatten prägen: die deont logische, auch Pflichtethik genannt (von griechisch to deon, die Pflicht), und die utilitaristische, die man auch als Nutzenethik bezeichnen kann (von lateinisch utilitas, der Nutzen).

    Prüfer und Stollorz liefern nicht nur jeweils eine knappe aber zutreffende Darstellung der auf Immanuel Kant zurückgehenden Pflichtenethik sowie der von Jeremy Bentham entwickelten Nutzenethik, sondern zeigen auch, zu welchen Konsequenzen die eine und die andere Denkschule in den aktuellen bioethischen Fragen kommt und warum. Dabei zeigen sie, dass die Achtung der Menschenwürde, die die Autoren als das Grundgesetz aller demokratischen Verfassungen und des Völkerrechts bezeichnen und auf der auch die allgemeinen Menschenrechte beruhen, in der Tradition der Pflichtenethik steht:

    Aus der Würde des Menschen wird die unbedingte Pflicht für jeden abgeleitet, menschliches Leben zu schützen. Das christliche Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ steht hier Pate, erhält aber eine innerweltliche Begründung. Nicht weil der Mensch von Gott geschaffen wurde und sein Ebenbild ist, kommt ihm Menschenwürde und damit ein Recht auf Leben zu, sondern weil er als sittliches Wesen sein eigener Zweck ist. Die Würde, die er als freies und moralisches Subjekt besitzt, geht verloren, wenn seine Existenz vernichtet wird. Das Recht auf Leben gilt im Rahmen einer deontologischen Ethik absolut, weil mit seiner Aufgabe die Grundlagen der Sittlichkeit selbst zerstört würden.

    Dagegen kennt die Nutzenethik keine absoluten Gebote. Das gilt auch für das Menschenrecht auf Leben. Im utilitaristischen Gesamtkalkül ist das Leben des Einzelnen nur dann schützenswert, wenn dies zum größtmöglichen Nutzen aller beiträgt. Deshalb fehlt dem Utilitarismus auch die Grundlage, um die Tötung eines unschuldigen Menschen zu verurteilen, falls diese Tat für möglichst viele Menschen ein möglichst hohes Gut erzeuge. Utilitaristen wie Peter Singer, Richard Rorty, Reinhard Merkel oder Norbert Hoerster halten denn auch die Tötung von Embryonen zur Erforschung von Krankheiten, die Abtreibung von Föten, die genetische Defekte aufweisen und deren spätere Pflege die Gesellschaft finanziell belasten sowie die Euthanasie alter Menschen oder Neugeborener aus denselben Gründen unter bestimmten, wenn auch nicht immer unter den gleichen Voraussetzungen, für gerechtfertigt. Prüfer und Stollorz halten daher fest:

    Einen absoluten Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an gewährt nur eine Ethik, die sich auf die Menschenwürde beruft. Das von Utilitaristen eingesetzte Prinzip der Gattungssolidarität reicht dazu nicht aus.

    Während Prüfer und Stollorz in ihrem Überblicksbändchen jedoch die Beantwortung der letztlich alles entscheidende Frage, ob auch die ungeborene Menschen, wie bereits Kant annahm, Personen seien, offen lassen, räumt ihr der Moralphilosoph Martin Rhonheimer in seiner Untersuchung Abtreibung und Lebensschutz - Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik breiten Raum ein.

    Gegliedert ist das jüngste Werk des Professors für Ethik in Rom, der vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertierte, in drei, allesamt lesenswerte Teile. Während der erste sich mit der Frage der politisch-ethischen Frage der Begründung des Lebensschutzes in demokratischen Verfassungsstaaten am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt und sich der dritte der medizinethischen Frage der Güterabwägung in vitalen Konfliktfällen widmete, kreist der mittlere Teil ganz um die Frage, ob jeder, der der biologischen Spezies homo sapiens angehört, bereits auch eine Person sei, der Würde zukomme.

    Anhand der systematischen Widerlegung des Utilitarismus weist Rhonheimer nach, dass auch Embryonen und Föten im eigentlichen Sinne Menschen und Personen sind. Dabei gesteht Rhonheimer den Utilitaristen zu, Recht zu haben, wenn sie feststellen, dass Embryonen, Föten und Neugeborene in den jeweiligen Entwicklungsstadien noch keine Wünsche besitzen, die ein Überlebensinteresse implizieren. Er kritisiert jedoch, dass sie daraus den Schluss ziehen, dass die Personwerdung ein Prozess sei, der irgendwann nach der Geburt einsetze und Embryonen, Föten und Neugeborene deshalb nur den Status potentieller Personen einzuräumen bereit sind.

    Rhonheimer zeigt, dass dies ein Trugschluss ist, weil er notwendige Unterscheidungen außer Acht lässt, wie etwa die Unterscheidung zwischen Personsein und Personenverhalten:

    Das Personsein des Fötus ist durchaus aktuell und keineswegs erst potentieller Art. Nicht das Personsein ist potentiell, sondern das Personenverhalten. Nur ein Wesen, das schon aktuell Person ist, kann überhaupt ein potentielles Personenverhalten aufweisen und dann ein aktuelles entwickeln.

    Statt von Embryonen und Föten fälschlicherweise als potentiellen Personen zu sprechen und ihnen das Recht auf Leben abzusprechen, müsse man sie, so Rhonheimer, als ‚Personen in Potenz’ bezeichnen, denen das Recht auf Leben zukomme.

    Ein Fötus ist eine Person in Potenz. Auch ein zehnjähriges Kind ist in diesem Sinne immer noch eine ‚Person in Potenz’, auch wenn es schon viele, aber eben nicht alle dieser Eigenschaften entwickelt hat. Eigentlich sind alle Personen irgendwie auch ‚Personen in Potenz’, weil niemand je alle Möglichkeiten einer Person entwickelt hat.

    Ähnlich scharfsinnig, wie Rhonheimer geht auch Eduard Picker zu Werke. In seinem bei Klett-Cotta erschienenen Buch: Menschenwürde und Menschenleben, zu dem der Philosoph Robert Spaemann das Vorwort verfasst hat, konstatiert der Tübinger Zivilrechtslehrer ein Auseinanderdriften der beiden Verfassungswerte. Das erscheint umso bemerkenswerter, als sich Menschenwürde und Menschenleben ja auf ein und dasselbe Rechtsgut beziehen.

    Die Menschenwürde, darüber herrscht bei den Rechtsgenossen so gut wie frag- lose Einigkeit, steht als oberstes Tabu außer Zweifel. Dementsprechend bestimmt man auch den Schutz diese Gutes: Die Würde als die vom Substrat abgelöste ‚Idee’ des Menschen, als das Humanum schlechthin, ist nach der Verfassung, darüber hinaus aber auch nach heute selbstverständlicher Sicht jedem wertenden, damit relativierenden Zugriff entzogen. Sie ist - anders als ihr Träger - ein Absolutum.

    Während der eine Wert, die Menschenwürde - losgelöst vom konkreten Menschen als ihrem Träger - dem Alltag entrückt und dem Reich der Ideen zugeordnet wird, wird der andere Wert, das Menschenleben, ständig weiter relativiert und den Interessen Dritter unterstellt. Picker weist diesen Trend anhand zahlreicher Beispiele nach. So etwa anand der sogenannten ‚Kind als Schaden’-Rechtsprechung, bei der Eltern prinzipiell zugestanden wird, einen Arzt nach missglückter Abtreibung auf Ersatz des ‚Schadens’ zu verklagen, der den Eltern durch die nicht erfolgte Tötung ihres Kindes entstanden sei. Dabei vertritt der Autor durchaus die Ansicht, dass Würdeschutz und Lebensschutz auch von der Verfassung her nicht einfach deckungsgleich sind, wie etwa die Zulässigkeit der Notwehr oder des sogenannten finalen Rettungsschusses verdeutlichen. Picker plädiert dafür, die hier klaffende Lücke zu schließen und den Schutz des menschlichen Lebens wieder stärker in den Blick zu nehmen. Dies kommt letztlich sogar beiden Rechtsgütern zugute:

    Denn mit der Verwirklichung dieser Verwandlung des Menschen zum Mittel und Objekt der Gesellschaft wäre nicht nur zugunsten der Verfügbarkeit seiner Lebensgüter entschieden. Mit ihr wäre auch das Schicksal seiner Würde besiegelt. Sie selbst würde - wo nicht zum Mittel der Manipulation der Gesellschaft - zum rein symbolhaften Gut, gleichsam zum zeichenhaften Ersatz für den natürlichen Träger. Es gilt folglich einer Entwicklung zu wehren, in deren Konsequenz sich seine Bejahung und Achtung verflüchtigt zu blutleer-symbolhaften Akten, in deren Folge sich damit der Menschenschutz zu einer Art Denkmalschutz wandelt.

    Im direkten Vergleich mit den Werken der intellektuellen Schwergewichtskämpfer Rhonheimer und Picker nimmt sich das jüngste Buch des renommierten Molekularmediziners Jens Reich bedauerlicherweise wie das eines Papiergewichtlers aus. Soweit sich Reich, Mitbegründer des Neuen Forums und Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, auf sein wissenschaftliches Fachgebiet beschränkt und dem Leser die Grundlagen der Genomforschung nahe bringt oder erklärt, was ein Klon ist und wie Gene funktionieren, ist sein verständlich geschriebenes Buch durchaus von Wert.

    In Es wird ein Mensch gemacht - Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik stellt der Molekularmediziner jedoch vor allem philosophisch-ethische und politisch-juristische Überlegungen an. Und genau das hätte er vermutlich besser bleiben lassen sollen. Denn die sieben ‚Dialoge‘, in denen Reich über den gläsernen Menschen, die Verwendung menschlicher Embryonen für die Forschung, das Klonen von Menschen, das in Deutschland geltende Verbot der Embryonenselektion mittels PID sowie über die Abtreibung behinderter Kinder oder den perfekten Menschen nachzudenken vorgibt, entpuppen sich jedes Mal als richtungsloser Schlagabtausch. Anstatt nach und nach die relevanten naturwissenschaftlichen, juristischen, philosophischen und politischen Aspekte der jeweiligen zur Diskussion gestellten Frage abzuarbeiten, trampeln Reichs virtuelle Diskutanten quer durch den Garten der wissenschaftlichen Disziplinen und kommen orientierungslos vom Hölzchen aufs Stöckchen, ohne auch nur ein einziges Mal dem Ernst der behandelten Fragen gerecht zu werden.

    Damit nicht genug, macht Reich, der auch Mitglied in dem von Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufenen Nationalen Ethikrat ist, sich nicht einmal die Mühe, zwischen der Beschreibung biologischer Tatsachen und ihrer Interpretation zu unterscheiden:

    Die befruchtete menschliche Eizelle kann man nur mit aufwendigen biochemischen Tests von der befruchteten Eizelle eines Frosches unterscheiden. Es ist etwas abwegig zu behaupten, dass eine solche Zelle bereits Subjekt der Menschenwürde sein könnte. ‚No brain, no pain, no person’ urteilt der britische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert über den Embryo in den ersten Entwicklungsstadien. Weder Gehirn, noch Schmerzempfindungen noch personales Dasein. Diesen drei Feststellungen kann man wohl kaum widersprechen.

    Man kann. Und man muss. Zwar kann die Feststellung, dass der Embryo in seinen erstenTagen seiner Entwicklung bereits weder ein Hirn ausgebildet hat noch physischen Schmerz empfinden kann, nach dem Stand der Wissenschaft als biologische Tatsache gelten. Dass der Embryo aber deswegen auch schon keine Person sei, ist eindeutig eine philosophische Interpretation, die - wie Rhonheimer zeigt, aus guten Gründen für unzutreffend gehalten werden darf.