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Thüringen
CDU entdeckt die direkte Demokratie

Die thüringische rot-rot-grüne Regierungskoalition plant eine Gebietsreform, in deren Zuge zum Beispiel Weimar seine Kreisfreiheit verlieren würde. Vor allem die CDU-Opposition kämpft vehement dagegen. Dabei entdeckt sie gerade das klassische Volksbegehren für sich - und Rot-Rot-Grün versucht, das zu verhindern. Vertauschte Rollen in Thüringen.

Von Henry Bernhard | 20.10.2016
    Das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Nationaltheater in Weimar (Thüringen)
    Nationaltheater Weimar: Eine geplante Gebietsreform könnte die Stadt ihre Kreisfreiheit kosten. (dpa / picture alliance / Soeren Stache)
    Protest geht auch mit Stil: Wenn Weimarer vor dem Thüringer Landtag protestieren, dann nur mit ihrem Oberbürgermeister, Bühne und Kulturprogramm. Der OB ist zwar Sozialdemokrat, dennoch passt ihm die Politik von Rot-Rot-Grün in Erfurt gar nicht: Die geplante Kreisgebietsreform sieht vor, dass Weimar seine Kreisfreiheit verliert, also künftig mit Städten wie Apolda oder Sömmerda auf einer Ebene verkehrt. Unvorstellbar für die Bürger der wohl bekanntesten Kleinstadt der Welt, die 1999 "Kulturstadt Europas" war. Auch sonst regt sich viel Widerstand gegen die Gebietsreform in Thüringen; statt der benötigten 5.000 kamen vor Kurzem fast 50.000 Unterschriften für ein Volksbegehren gegen die Gebietsreform zusammen. Die CDU wird nicht müde, zu verkünden, dass die Reform, die Kreise und Gemeinden größer und damit effizienter machen soll, die Axt an "den Markenkern der Thüringer Identität" anlegt, so der CDU-Fraktionsvorsitzende Mike Mohring:
    "Alles über die Köpfe der Menschen hinweg, gegen den Willen der kommunalen Familie, im Schweinsgalopp, wo kein Baustein auf den anderen passt. Und wo jede Bürgerbeteiligung sich vermissen lässt."
    Und deshalb haben Mohring und die CDU, die 24 Jahre lang mit üppigen Mehrheiten im Landtag regiert hat und nie etwas mit Bürgerbeteiligung im Sinn hatte, die direkte Demokratie für sich entdeckt.
    "Wir sagen: Dann lasst doch wenigstens am Ende das Volk darüber abstimmen! Da verweigert sich ja Rot-Rot-Grün. Und ich habe ja in diesen Tagen in die Diskussion noch mal eingebracht, dass es der damalige Oppositionsführer und jetzige Ministerpräsident war, der 2011 gefordert hat, dass bei einer Gebietsreform, wenn die stattfindet, anschließend das Volk entscheiden soll. Und jetzt kann sich Rot-Rot-Grün an den eigenen Worten und Taten messen lassen."
    CDU hat in der Vergangenheit Volksbegehren verhindert
    Aber wer will sich schon an den eigenen Worten messen lassen, wenn dazwischen ein Machtwechsel liegt? Auch bei der CDU hat es da einen spontanen Gedächtnisverlust gegeben, erinnert sich Anja Müller, Sprecherin für Petitionen und Bürgerbeteiligung der Linkspartei im Thüringer Landtag.
    "Die CDU – ja, die hat jedes Volksbegehren erst mal beklagt. Das war beim Kita-Volksbegehren, bei "Mehr direkte Demokratie", überall haben sie erst mal dagegen geklagt."
    Und zwar vor dem Thüringer Verfassungsgericht. Denn der Haken an dem bereits heute möglichen Volksbegehren in Thüringen ist: Es ist nur rechtmäßig, wenn das Gesetz, gegen dass es sich wendet, keine finanziellen Auswirkungen hat. Dieses sogenannte Finanztabu aber hat bislang noch fast jedes Volksbegehren im Keim erstickt. Immer wieder auch zur Freude der CDU. Nun, nach dem Machtwechsel 2014, will die rot-rot-grüne Landesregierung ihrerseits prüfen lassen, ob ein Volksbegehren gegen die Gebietsreform nicht verfassungswidrig ist, weil es eben in den Haushalt und damit in Parlamentsrechte eingreift. Nun jammert die CDU wie früher die Linken:
    "Wir haben jetzt bei der Vorstufe für ein Volksbegehren 47.000 Unterschriften gesammelt vor Ort. Und ich finde es einfach ungeheuerlich, dass die Regierung nicht einmal die Annahme aufnimmt, dass von den 47.000 Leuten, die sich gegen die Gebietsreform wenden, vielleicht auch nur einer Recht haben könnte. Das überrascht einen bei denen, die 26 Jahre lang gemeint haben, mehr Demokratie, Basisdemokratie, direkte Mitbestimmung, die das alles plötzlich über den Tisch wischen und sagen, interessiert uns nicht. Und stattdessen sagen, wir verklagen das Volk, wir klagen gegen das Volksbegehren. Das ist mehr als bemerkenswert."
    CDU will sogar "Schweizer Volksbegehren"
    Die CDU will ein fakultatives Referendum nach dem Vorbild der Schweiz einführen, mit dessen Hilfe die Bürger jedes Gesetz bis zu 100 Tage nach dessen Verabschiedung kippen können. Vertauschte Rollen also im Freistaat Thüringen. Zwischen der CDU auf der einen und den Linken auf der anderen Seite sitzt die SPD. Sie möchte schon mehr Bürgerbeteiligung, aber dass die Bürger jedes Gesetz zu Fall bringen könnten, behagt den Genossen auch nicht. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Hey sieht deshalb mit Verwunderung den Vorstoß der CDU, die nun von rechts nach links an ihr vorbei schießt, und vermutet ein taktisches Manöver.
    "Es ist nicht Populismus, aber es ist fast schon grob fahrlässig, eine Verfassung soweit hinzubiegen, um ein bestimmtes zentrales Reformprojekt der Koalition zu verhindern, nämlich zu sagen: Jetzt schnell noch die Verfassung ändern, damit es keine Gebietsreform gibt. Und dann sage ich immer: Wie verzweifelt muss eigentlich eine in der Verantwortung stehende, ehemals große Volkspartei wie die CDU, wie verzweifelt muss die sein, dass sie sogar die Verfassung lieber ändert, nur um diese Gebietsreform aufzuhalten. Und wenn er es darauf anlegt, vielleicht noch als kleinen Seitenschlenker die Koalition als diejenigen hinzustellen, die vielleicht Bürgerbeteiligung gar nicht wollen, wenn er das auch noch mit beabsichtigt, dann wäre es Populismus."
    Linke und Grüne freuen sich erst mal, dass die CDU den Plebiszit für sich entdeckt hat und wollen in Gespräche eintreten – gerade über den Finanzvorbehalt. Eine dafür nötige Verfassungsänderung aber braucht Zeit. Mehr Zeit, als die CDU hat, um die Gebietsreform auf diesem Wege zu verhindern. Dennoch, der Sinneswandel der CDU sei in jedem Fall positiv zu sehen, findet Ralf-Uwe Beck, Sprecher des Bundesvorstands des Vereins "Mehr Demokratie e. V.".
    "Es mag sein, dass der Vorschlag, den die CDU in Thüringen jetzt gemacht hat, den ich spektakulär finde, dass der angestoßen sein mag durch die Gebietsreform und durch ihr Erleben in der Opposition. Aber ein fakultatives Referendum, so wie es die CDU vorschlägt, würde auf Dauer angelegt sein. Sollte also die CDU in Thüringen wieder einmal regieren müssen, dann würde auch ihr dieses fakultative Referendum im Nacken sitzen."
    Und allein das mache doch auf denkbar plastische Weise deutlich, wie gut ein Machtwechsel nach langer Alleinherrschaft einer Partei der Demokratie bekomme.