Günter Müchler: Herr Vogel, Sie lieben gute Weine und - oh Schreck - gute Zigarren. Sind Sie ein schlechtes Vorbild?
Bernhard Vogel: Ich bemühe mich, das nicht zu sein, aber ich habe etwas dagegen, dass wir in Deutschland von einem Extrem ins andere fallen. Rücksichtnahme auf Nichtraucher und auf die, die sich durch Rauch beeinträchtigt finden, aber auch ein bisschen Rücksichtnahme darauf, dass auch manche Leute Freude an einer guten Zigarre haben.
Müchler: Der Soziologe Wolfgang Sofsky schreibt in einer neuen Streitschrift, in der es um die Verteidigung des Privaten geht, die Ansprüche von Staat und Gesellschaft an den Einzelnen - und da meint er durchaus auch den Kampf gegen das Rauchen - seien dermaßen gewachsen, dass das Beharren auf Eigensinn als sozialer Verrat erscheine. Der Eigensinn als bürgerliche Tugend: Muss er verteidigt werden?
Vogel: Der Eigensinn nicht, denn die bürgerliche Tugend ist der Gemeinsinn. Aber der Respekt vor Freiräumen muss verteidigt werden. Wir stehen in der Gefahr, zuviel, um nicht zu sagen, alles zu regeln, und das heißt, Misstrauen gegen den Einzelnen zu schüren. Das ist nicht gut. Es ist nicht gut, dass zu viele Regelungen versprochen werden, aber es ist auch nicht gut, dass sich zu viele Bürger zu viel versprechen lassen.
Müchler: Sie haben Anfang des Jahres zusammen mit Ihrem Bruder Hans-Jochen ein Buch über Deutschland veröffentlicht mit dem vielsagenden Titel "Aus der Vogel-Perspektive", ein schönes Lesebuch über das Deutschland der Nachkriegszeit. Der eine Bruder schwarz, der andere rot, politisch einander nicht grün. Wie kam es, dass der eine, Ihr Bruder Hans-Jochen, sich als junger Mann von Kurt Schumacher angezogen fühlte, während Ihr Leitbild Konrad Adenauer wurde? Die politische Sozialisation verläuft doch in aller Regel familienbündig.
Vogel: Ja, aber sie verläuft auch zeitbezogen. Mein Bruder ist 1945 mit neunzehn Jahren aus dem Krieg zurückgekommen. Deutschland war moralisch und materiell ein Trümmerhaufen. Einer der damals beherrschenden, Mut machenden Figuren war der durch KZ-Haft und Krieg gezeichnete Kurt Schumacher und die wiedererstandene Sozialdemokratie. Ich, sechs bis sieben Jahre jünger, habe politisch zu denken angefangen, als Konrad Adenauer bereits Kanzler und als die Christlich Demokratische Union bereits stärkste Partei in Deutschland war. Mich haben dieser Mann und sein Programm fasziniert, und das muss man, glaube ich, verstehen. Ich habe Verständnis dafür, für die Situation von 1945 und nachfolgenden Jahren bei meinem Bruder, erwarte aber auch das Verständnis für mich, und das Buch, das wir geschrieben haben, ist kein Plädoyer für eine Große Koalition. Im Gegenteil, es ist ein Plädoyer für eine eigene politische Überzeugung, allerdings auch für den Respekt vor der Überzeugung des anderen.
Müchler: Ich habe das Buch als eine Art Parabel gelesen, als Beispiel dafür, dass das Freund-Feind-Denken, das ja noch die Weimarer Republik prägte, in der zweiten deutschen Demokratie überwunden werden konnte. Ist das eine Überinterpretation?
Vogel: Nein, das ist schon eine richtige Interpretation, zu der auch gehört, dass ja die beiden Volksparteien, die CDU sogar ausdrücklich in ihrem Namen "Union" die Aufspaltung in der Weimarer Republik überwinden wollte, also keine katholische Partei und eine evangelische Partei, sondern eine ökumenische Idee. Das ist schon richtig, dass zusammengeführt werden muss, aber noch wichtiger ist mir, dass man nicht die Meinung des Anderen erst als dumm, unüberlegt, tölpelhaft, töricht bezeichnet, sondern dass man ihr mit einem gewissen Respekt begegnet. Natürlich bin ich betrübt darüber, dass mein Bruder nicht in meiner Partei ist, und ich habe lange gehofft, das würde sich noch ändern. Er würde es ähnlich sagen, aber man muss doch Respekt davor haben, wenn einer seine Überzeugungen lebt.
Müchler: Herr Vogel, vor einiger Zeit hat in diesem Studio Heiner Geißler gesessen, der langjährige CDU-Generalsekretär und er gehört der CDU ja auch immer noch an. Er hat hier auf die Frage, welcher Grundwert derzeit am meisten gefährdet sei, ganz entschieden geantwortet: Es ist die Solidarität, die gefährdet ist, nicht die Freiheit. Sehen Sie das auch so?
Vogel: Das sieht meinem Freund Heiner Geißler in der Tat ähnlich. Ich sehe es anders, ich fürchte, am meisten gefährdet ist die Freiheit.
Müchler: Woran machen Sie das fest?
Vogel: An der Entwicklung, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten nimmt. Immer wieder gab es eine Konkurrenz zwischen Freiheit und Gleichheit. Im Moment hat die Gleichheit Hochzeit, in Umfragen merken wir das, und gerade deswegen muss man klarmachen: Gleichheit herrscht auch in Gefängnissen, Freiheit ist Voraussetzung, das Gleiches gleich und zur Gerechtigkeit gehört, dass Ungleiches ungleich behandelt wird.
Müchler: Das passt zu meiner nächsten Frage. Sie sind ja Doktorsohn von Dolf Sternberger, dem Nestor der deutschen Politikwissenschaft nach dem Kriege. Ein vielzitierter Satz Sternbergers lautete, ich glaube, schon geschrieben im Jahre 1946: "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit." Wenn man so will, ist das das Grundgesetz der wehrhaften Demokratie. Heute, in zeitgemäßer Auslegung dieses Diktums, könnte man sagen: "Keine Freiheit der NPD." Sind Sie für einen neuen Verbotsantrag?
Vogel: Zunächst einmal bin ich meinem Lehrer Dolf Sternberger dankbar, denn er hat mich zur Politischen Wissenschaft gebracht und zu meinen Grundeinsichten, was die res publica, was den Staat, was die Politik betrifft. Den Satz "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" hat er auf dem Heidelberger Schloss im Jahr 1946 gesprochen und damals ausdrücklich gegen Rechts, gegen die Nationalsozialisten und gegen Leute dieser Gesinnung gewarnt. Er hat dann später ausdrücklich gesagt, er sei generell gegen jede Form von Feinden der Freiheit, also nicht nur von rechts. Ich bin nicht für einen Gerichtsprozess über die NPD, weil mich die Erfahrung mit dem Verbot der KPD vor langen Jahren gelehrt hat, der Kopf wächst, wenn Sie ihn abschlagen, wieder unter einem anderen Namen nach. Dann war es nicht die KPD, sondern die DKP. Wenn wir nicht die Sache bekämpfen, wenn wir nicht die Auseinandersetzung gegen eine absurde Ideologie führen und gegen eine ewig gestrige Philosophie, dann werden wir das Phänomen durch Verbot allein nicht beherrschen. Und mir ist die offene Feldschlacht lieber, als das Verbot, das nicht dazu führt, diese giftige Pflanze wirklich mit Wurzel herauszureißen.
Müchler: Geschieht da genug? Wird ausreichend Trennschärfe praktiziert, auch in Ostdeutschland? Da hat man gelegentlich den Eindruck, dass vieles, was sich dort unter braunen Vorzeichen tut, hingenommen wird.
Vogel: Mir sind die Reaktionen von den Demokraten zu nervös und zu wenig selbstsicher. Es ist gar keine Frage, alle Demokraten sollten sich für einen Kampf gegen Rechts und sollten keine Kraft darauf verschwenden, sich gegenseitig vorzuwerfen "Du bekämpfst sie aber weniger als ich", sondern das ist ein gemeinsames Erbe der nationalsozialistischen Diktatur, dass jeder recht denkende Bürger so etwas nicht duldet. Und dafür muss gekämpft werden, nicht durch nervöse Aufgeregtheit, sondern mit handfesten Argumenten, die es ja Gott sei Dank gibt. Was Ostdeutschland betrifft, so ist es zwar richtig, dass gerade die Unvertrautheit mit Fremden, die ja viel weniger Erfahrung mit Zuwanderern aus anderen Ländern haben als der Westen, eine Quelle dafür ist. Aber das ist kein ostdeutsches Problem. Ich darf darauf aufmerksam machen, was gelegentlich vergessen wird: Im wohlhabenden Baden-Württemberg saßen zwei Legislaturperioden Rechtsradikale im Parlament. Also es kann gar keine Rede davon sein, dass das, was bedauerlicherweise in einigen ostdeutschen Parlamenten geschehen ist, eine völlig neue Erscheinung ist. Sie muss bekämpft werden, aber sie darf auch nicht verringert werden, indem man sagt, "na ja, die Ossis halt". Das ist falsch.
Müchler: Wir sprachen eben über Dolf Sternberger. Ein anderes Wort von ihm, das immer wieder zitiert wird, ist "Verfassungspatriotismus". Der Verfassungspatriotismus war gewissermaßen Teil der Leitkultur der alten Bundesrepublik, da die Nation als Bezugspunkt für Patriotismus, für Vaterlandsliebe nicht zur Verfügung stand, weil schrecklich missbraucht durch die Nazi-Herrenmenschen, war das Grundgesetz gewissermaßen der Platzhalter. Dann kam die Wiedervereinigung und es stellte sich heraus, man sollte die Verfassung respektieren, man kann sie schätzen, aber kann man sie lieben? Die Deutschen in Ostdeutschland versammelten sich unter schwarz-rot-goldenen Fahnen unter der Parole "Wir sind ein Volk", in Westdeutschland war man perplex.
Vogel: Der Begriff ist von Sternberger Anfang der 50er Jahre zum ersten Mal in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verwendet, aber dann später wieder aufgegriffen, und leider von manchem, der ihn heute benützt, falsch interpretiert worden. Sie haben recht, es hatte auch etwas mit dem geteilten Vaterland zu tun, in das hinein diese Formulierung gefallen ist, aber die eigentliche Definition ist, dass Patriotismus Demokratie voraussetzt. Der eigentliche Grundgedanke Sternbergers ist, dass ein Patriot jemand ist, der nicht nur die Landschaft und die Berge oder die Seen, sondern auch seine demokratische Verfassungsordnung liebt. Nun haben Sie recht - das hat schon Gustav Heinemann gesagt, "ich liebe meine Frau" - aber ich meine, richtig interpretiert, wir haben es ja bei der Fußballweltmeisterschaft gesehen, lieben wir schon auch unsere Heimat. Wir sind etwas gebrannte Kinder, weil die übertriebene Liebe uns über alles gestellt hat, so die erste Strophe des Deutschlandliedes, und das darf es nie wieder geben. Aber niemand nimmt doch einem Franzosen übel, dass er gerne Franzose ist und einem Amerikaner, dass er gerne Amerikaner ist, und ich möchte bei vollem Respekt dafür auch nicht übel genommen bekommen, dass ich gerne Deutscher bin und dass ich dieses Land liebe, sowohl mit seiner Fahne als auch mit dem Brandenburger Tor, mit der Wartburg und mit der demokratischen Verfassung. Das betrifft nicht jeden Artikel, aber beispielsweise den Kernsatz dieser Verfassung "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Das ist mir schon Liebe wert.
Müchler: Sternberger hat Sie zur Politischen Wissenschaft gebracht, Sie waren Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, sind dann aber rasch in die praktische Politik gewechselt. 1967, mit 35 Jahren, wurden Sie Kultusminister in Rheinland-Pfalz, dann hat die Politik Sie nicht mehr losgelassen. Was ist die Faszination des Politikerberufes? Man spricht ja gelegentlich von der Droge "Macht". Der Politikerberuf ist ja nicht sonderlich gut bezahlt und er verlangt einen hohen Preis. Ist es die "Droge Macht", die abhängig macht?
Vogel: Zunächst habe ich nie beschlossen, Politik als Beruf zu betreiben. Im Gegenteil, Sternberger und andere Lehrer haben mir gesagt, "wenn Du die Politik als Wissenschaft betreiben willst, dann darfst Du nicht in eine Partei gehen". Und das habe ich zunächst auch nicht getan, aber dann kam ein Heidelberger Schlossermeister meines Alters, der mich dafür warb, für den Heidelberger Stadtrat zu kandidieren, und das konnte man ja nur, wenn man auch in die Partei eintrat. Dann habe ich dem und nicht den gelehrten Häuptern Folge geleistet - nun ist der Stadtrat kein politischer Vollberuf -, dann kamen andere, die ich aus Kursen in der christlichen Soziallehre, die ich abgehalten habe, kannte, und sagten, wir brauchen einen neuen Bundestagsabgeordneten, Du redest da immer so klug über die christliche Soziallehre, wie wäre das. Und dann habe ich fälschlicherweise gedacht, na ja, vier Jahre Praxis würde ja nicht schaden und habe kandidiert in der Absicht, nach vier Jahren machst Du mit Deiner Habilitationsarbeit weiter. Das erste Kapitel gibt es, das liegt auch noch irgendwo. Dann aber kam der Ruf "Kultusminister". Und da muss ich nun sagen, auch da habe ich mir gedacht, mit 34 diese Chance, wehr die ab, obwohl ich dann schon gemerkt habe, jetzt wird es wohl bei der Politik bleiben. Allerdings, ich war schon Ministerpräsident, zu meinem 50. Geburtstag hat ein Onkel von mir gesagt, überleg Dir doch, ob Du nicht doch noch einen richtigen Beruf ergreifen willst und an die Universität gehen willst. Wie Sie sehen, habe ich den Rat nicht befolgt. Nun haben Sie Recht, die Politik hat etwas mit Macht zu tun, ein machtloser Politiker ist kein Politiker. Aber Macht ist nicht von vornherein etwas Gutes oder etwas Böses. Es ist etwas Heikles, es ist etwas, mit dem man umgehen muss. Ich habe etwas dagegen, wenn man als einziges Motiv Machtgelüste angibt, das habe ich eigentlich nie empfunden. Ich habe mich - mit einer Ausnahme - um diese Positionen nie beworben, sondern weil Freunde kamen mit den Worten "wir brauchen Dich da", deshalb habe ich das gemacht, so dass für mich der Gedanke des Dienstes eigentlich immer eine größere Bedeutung gehabt hat als der Machtrausch oder das Bewusstsein "dann hast Du Macht". Und so fürchterlich ist das mit der Macht ja auch nicht, Sie müssen ja vieles tun, um tatsächlich Autorität zu besitzen.
Müchler: Aber es gibt viele Beispiele dafür, dass man von der Politik nicht lassen kann und dann auch den richtige Zeitpunkt, auszuscheiden, verpasst.
Vogel: In der Tat, dafür haben wir ja lebende Beispiele genug. Und deswegen haben sowohl mein Bruder als auch ich großen Wert darauf gelegt, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Das war bei mir nicht der Fall bei meinem Abschied in Rheinland-Pfalz. Das war auch nicht vom Zeitpunkt her notwendig, damals war ich Mitte 50. Aber ich glaube, ich habe das in Thüringen einigermaßen befriedigend praktiziert, wo ich gesagt habe, in 14 Tagen wird ein Wechsel stattfinden, allerdings dadurch begünstigt, dass ich einen Nachfolger kommen sah, der meinem Wunsch entsprach und mit dem ich in voller Übereinstimmung war.
Müchler: Auf Rheinland-Pfalz und Ihren Abschied dort als Ministerpräsident kommen wir gleich noch zu sprechen. 1974 wurden Sie CDU-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz als Nachfolger von Helmut Kohl, der seinerseits gern Heiner Geißler als Nachfolger gehabt hätte. Bernhard Vogel, Heiner Geißler, in mancherlei Hinsicht ein Zwillingspaar, beide altersmäßig nah beieinander, beide über lange Jahre Gefolgsleute von Helmut Kohl, bis Geißler 1989 einen Putschversuch gegen den Patriarchen unternahm. Auf welcher Seite standen Sie damals in den hoch spannenden Tagen vor dem Bremer Parteitag?
Vogel: Vor und beim Bremer Parteitag stand ich selbstverständlich auf der Seite Helmut Kohls, obwohl Sie in der Tat zu Recht darauf hinweisen, nach anfänglich gleichen Sympathien für Geißler und Kohl hat bei der Entscheidung um den Landesvorsitz in Rheinland-Pfalz, der ja auch die Vorentscheidung für die Nachfolge Kohls als Ministerpräsident war, Helmut Kohl für Heiner Geißler Partei ergriffen. Das ist dieser eine Fall, wo ich mich aktiv, hart kämpfend, um diesen Vorsitz beworben habe und ihn ja dann auch überraschend deutlich gegen Heiner Geißler gewonnen habe. Aber - und das ist, glaube ich, erwähnenswert - das hat die Freundschaft zu Heiner Geißler und auch die Empfehlung von Kohl hat die Freundschaft zu Helmut Kohl auf Dauer nicht belastet.
Müchler: Herr Vogel, nach der CDU-Spendenaffäre haben viele Parteifreunde Helmut Kohl den Rücken gekehrt, Sie nicht. Ich kann mich an ein sehr entschiedenes Zitat von Ihnen erinnern. Sie haben gesagt: "Ich billige die Los-von-Kohl-Bewegung nicht." Das war für viele ein schwieriger Konflikt damals. Auf der einen Seite Kohls Verhalten - schwer verständlich -, auf der anderen Freundesverrat. Sie haben sich gegen den Freundesverrat entschieden. Warum?
Vogel: Das ist jetzt sehr zugespitzt ausgedrückt, aber in der Tat, wenn man einem Menschen freundschaftlich verbunden ist, wenn man eine Wegstrecke, eine so dramatische Wegstrecke mit ihm geht wie die Jahre der Wiedervereinigung, aber auch insgesamt die Jahre seiner Kanzlerschaft, dann kann man nicht über ihn den Stab brechen, wenn Dinge bekannt werden, die man nicht wusste und die man auch nicht für gut gehalten hat. Dann muss sich meines Erachtens eine Freundschaft bewähren, und mir hat es nicht gefallen, dass manche Leute ihre Beziehungen fallen ließen wie eine heiße Kartoffel.
Müchler: Sie haben heute noch ein gutes Verhältnis zu Helmut Kohl, haben Kontakt zu ihm?
Vogel: Ich habe Kontakt zu ihm, habe ein gutes Verhältnis zu ihm, will aber ausdrücklich sagen, dass ich keineswegs immer mit ihm einer Meinung war, wie der Fall Geißler als Beispiel oder nachher dann auch die Nachfolge Ministerpräsidentenamt - da hat er die Kandidatur von Johann Wilhelm Gaddum unterstützt - oder auch bei anderer Gelegenheit. Aber das zeichnet ja eine Freundschaft nicht aus, dass man immer und in allem einer Meinung ist.
Müchler: Was glauben Sie, was dereinst in den Geschichtsbüchern über den Staatsmann Helmut Kohl zu lesen sein wird?
Vogel: Ich denke, in einiger Zeit wird der Einer Europas an erster Stelle und die Leistung im Rahmen der Wiedervereinigung an zweiter Stelle stehen, ganz einfach weil man, je länger, je mehr die Wiedervereinigung als etwas Selbstverständliches und die Einigung Europas als etwas ganz Neues ansehen wird. Deswegen denke ich, wird das die Reihenfolge in den Geschichtsbüchern unserer Enkel sein.
Müchler: Sie waren insgesamt zwölf Jahre lang Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, dann kam das Jahr 1988, Sie wurden, wenn ich das so salopp sagen darf, infolge einer nicht gut ausgegangenen Landtagswahl als CDU-Parteivorsitzender abgeschossen von einem Mann, dessen Name heute niemandem etwas sagt, Hans Otto Wilhelm. Von da an ging es mit der CDU in Rheinland-Pfalz bergab. Im Nachhinein haben Sie Recht behalten. Empfindet man da Genugtuung?
Vogel: Nein, ich bedaure, dass ich Recht behalten habe und bedaure vor allem, dass ich nicht nur vorübergehend Recht behalten habe, sondern dass auf dieses Bubenstück von Koblenz letztendlich ein 20-jähriger Verlust der Verantwortung für ein im Grunde christlich-demokratisch geprägtes Land die Folge war. Und insofern habe ich bedauerlicherweise nicht nur Recht gehabt, sondern die Wirklichkeit hat mich übertroffen.
Müchler: Aber Sie haben, wenn man so will, Glück im Unglück gehabt, denn ohne den Verlust des Amtes in Rheinland-Pfalz wären Sie nicht Ministerpräsident im Freistaat Thüringen geworden.
Vogel: Ja, das ist richtig. Und wenn mir 1988 an jenem Novemberabend jemand gesagt hätte, "nimms nicht so tragisch, Du wirst ein paar Jahre später Ministerpräsident von Thüringen", dann hätte ich den Menschen für verrückt erklärt und zum Arzt geschickt. Das hat niemand ahnen können. Glück im Unglück - nach Thüringen zu kommen, war eine faszinierende Aufgabe, das größte Abenteuer meines Lebens, aber war natürlich nicht ein persönlicher Verdienst, sondern war die Folge einer historisch einmaligen Situation und darum bin ich der einzige Ministerpräsident, der in zwei Ländern Ministerpräsident war, aber das wird wohl auch für die Zukunft so bleiben, weil sich eine solche Situation hoffentlich nie wiederholen wird.
Müchler: Was haben Sie, glauben Sie, den Thüringern geben können und was hat dieses schöne, alte mitteldeutsche Land Ihnen gegeben?
Vogel: Das Land hat mir ungeheuer viel gegeben. Im Gegensatz zum Grenzland Rheinland-Pfalz ist Thüringen ein Land mit offenen Grenzen immer gewesen, nur von deutschen Nachbarn immer umgeben. Im Gegensatz zu einem Land wie Rheinland-Pfalz, das seine Wurzeln in der römischen Geschichte, in der römischen Zeit hat, ist Thüringen das Land des 18. und 19. Jahrhunderts, von Goethe und Schiller und Weimar und zuvor von Martin Luther gewesen. Was ich geben konnte, war Regierungserfahrung. Ich wusste, wie man den Wagen fährt. Was ich brauchte, und das war am Anfang sehr schwierig, waren Menschen, die aus dem Stand heraus bereit waren, mitzumachen, obwohl sie vorher keine Übungszeit hatten. Ich hätte doch in Rheinland-Pfalz nie jemanden zum Minister ernannt, den ich nur eine Stunde vorher sprechen konnte, und nie jemanden, der mir nicht sagte, dass er von Kindesbeinen an Erfahrung hat, Landrat war oder irgendetwas anderes. Das fiel alles weg. Der Mut derer, die sich ohne genau zu wissen, worauf sie sich einließen, darauf eingelassen haben, der verdient irgendwann später einmal ein Denkmal.
Müchler: Also ein großes Abenteuer.
Vogel: Es war das größte Abenteuer meines Lebens, ganz ohne Frage.
Müchler: Es war ja auch in der CDU nicht ganz einfach, es gab heftige Turbulenzen in den ersten Jahren.
Vogel: Im Gegensatz zu meiner Meinung in Rheinland-Pfalz, wo ich gesagt habe, wenn die Partei mich nicht mehr wählt, dann muss ich als Ministerpräsident zurücktreten, habe ich ja angesichts dieser ungewöhnlichen Aufgabe in Thüringen zunächst gesagt, Ministerpräsident ja, aber bitte nicht auch noch Parteivorsitzender. Aber nach einiger Zeit habe ich gespürt, die Regierung kracht auseinander, wenn ich nicht auch noch den zweiten Koffer aufnehme, und darum bin ich in der Tat eine Reihe von Jahren auch wieder Parteivorsitzender geworden, bis mir dann Anfang des neuen Jahrhunderts Dieter Althaus in dieser Funktion nachgefolgt ist.
Müchler: Es gab während Ihrer Amtszeit in Thüringen ein schreckliches Ereignis, den Anschlag auf das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt.
Vogel: Zweimal in meiner langjährigen Regierungszeit hat es solche Ereignisse gegeben, in Rheinland-Pfalz 1988, als Flugzeuge bei einer Flugschau in Ramstein in eine große Menschenmenge stürzten und über siebzig Tote zurückblieben, und das zweite Mal bei diesem schrecklichen Attentat auf Lehrer, Schüler, Sekretärinnen, Polizisten in Erfurt. Das sind die beiden schwierigsten Ereignisse für mich gewesen, und die beschäftigen mich natürlich auch heute noch, weil Sie da, ohne vorbereitet zu sein, in eine Aufgabe hineinkommen, den Hinterbliebenen Trost zu spenden, sich darum zu kümmern, wie mit den Toten umgegangen wird, den Menschen etwas zu sagen. Also beides, zum Beispiel die Ansprache bei der Trauerfeier in Ramstein und diese Demonstration dieser Betroffenheit in Erfurt vor dem Dom, auf den Domplätzen, sind mir natürlich unvergesslich, wobei es in Thüringen gut getan hat, niemand hat in diesen Wochen von Ostdeutschland oder einer ostdeutschen Stadt gesprochen, sondern es ging um die Menschen in Erfurt, einer deutschen Stadt.
Müchler: Man urteilt leicht pauschal über das, was zwischen Ostdeutschland und der alten Bundesrepublik sich entwickelt. Immer noch verlassen viele junge Menschen, ganz besonders junge Frauen, ost- und mitteldeutsche Landschaften, gehen nach Westdeutschland, der Arbeit wegen. Wird die Kluft tiefer statt kleiner?
Vogel: Nein. Sie wird schon deswegen nicht tiefer, weil die Abiturienten dieses Jahrgangs die Mauer und die Trennung nicht mehr erlebt haben. Wir wollen sie daran erinnern, es ist Geschichte, wir müssen sie daran erinnern, aber das ist nicht mehr erlebte, selbst erlebte Zeit. Was mich schmerzt, ist, dass immer noch in Westdeutschland man zuwenig über Ostdeutschland weiß. Wie oft habe ich von Besuchern in Erfurt den Satz gehört: "Das haben wir ja gar nicht gewusst, dass diese Stadt so schön ist" oder was man erlebt hat. Da krankt es. Die Ostdeutschen haben, nicht zuletzt dank der Medien, viel mehr über Westdeutschland gewusst als die Westdeutschen über Ostdeutschland. Jeder, der nur überhaupt konnte, hat die Nachrichten damals des Deutschlandfunk gehört, hat die Nachrichten des ZDF oder des ARD gesehen, aber wer hat in Westdeutschland die "Aktuelle Kamera" gesehen? Niemand. Selbst wenn das Bild der Medien nicht ganz übereinstimmt mit der realen Wirklichkeit: Es ist sehr viel mehr Kenntnis in Ostdeutschland über Westdeutschland vorhanden als in Westdeutschland über Ostdeutschland.
Müchler: Interessiert man sich jetzt in Westdeutschland stärker für Ostdeutschland?
Vogel: Es gibt dauernd Umfragen, wie viele Westdeutsche schon in Ostdeutschland waren, und wenn die Zahlen veröffentlicht werden, steht meistens in der Nähe ein Kommentar, dass wir noch weit von der Wiedervereinigung entfernt seien. Ich halte das für ziemlichen Unsinn. Es gibt ja auch keine Umfragen, wie viele Bayern schon in Schleswig-Holstein gewesen sind. Nein, es ist inzwischen Gott sei Dank selbstverständlich geworden, dass die Franken nach Südthüringen kommen und dass die Hessen auf die Wartburg gehen. Natürlich kommen die Schleswig-Holsteiner seltener nach Sachsen, das ist aber in Westdeutschland auch so.
Müchler: Sie sind, Herr Vogel, ein in der Wolle gefärbter Föderalist.
Vogel: Ja.
Müchler: Als Ministerpräsident gehörte es zu Ihren Aufgaben, darauf zu achten, dass die starke Stellung der Länder nicht ausgehöhlt wird. Ich darf ausnahmsweise einmal zitieren, und zwar aus der Bundesratsrede des Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel vom 14. März 2003, es war die 786. Sitzung des Bundesrates, da lautete Ihr letzter Satz wie eine Kriegserklärung an die Bundesregierung: "Nein, Befehlsempfänger sind wir nicht."
Vogel: Ja.
Müchler: Inzwischen geht es mit dem Ansehen des Föderalismus bergab.
Vogel: Zunächst, wir sind in der Tat nicht Befehlsempfänger und deswegen spreche ich auch nie von Bundesländern, weil die Länder nicht des Bundes sind, sondern die Länder den Bund gegründet haben und die Länder die Elemente waren, aus denen heraus der Bund entstanden ist. Ich bin Föderalist, aber nicht Kirchturmspartikularist, und zwar aus zwei Gründen: erstens, wir Deutsche sollten uns vor konzentrierter Macht hüten. Föderalismus heißt, Macht ist geteilt und nicht auf ein Zentrum konzentriert. Wir haben in Deutschland weder zu Wilhelms Zeiten noch zu Hitlers Zeiten mit dem Zentralismus gute Erfahrungen gemacht. Und zweitens: Ein durchschnittliches Mitglied der Europäischen Union hat die Größe eines mittleren deutschen Bundeslandes, was allzu sehr vergessen wird. Auch um Europa willen ist es gut, dass wir eine föderale Ordnung haben.
Müchler: Trotzdem herrscht der Eindruck vor, der Föderalismus sei irgendwo im Bremserhäuschen angesiedelt, es käme nichts voran, die Brechung der Macht sei zu stark, und die Anpassungsgeschwindigkeit, wie es heißt, deshalb zu gering. In der Großen Koalition ist das Gewicht der Ministerpräsidenten ohnehin eingeebnet.
Vogel: Das ist immer so gewesen, das habe ich mehrfach erlebt. Im Bundesvorstand meiner Partei hatten die Ministerpräsidenten immer viel zu sagen, wenn wir nicht den Ministerpräsidenten stellten und weniger zu sagen, wenn wir den Kanzler oder die Kanzlerin stellten. Das ist gut erklärbar. Sie haben Recht, der Föderalismus hat im Augenblick keine Hochkonjunktur, weil manche - auch übrigens manchmal aus Schuld der Länder - wenn sie überziehen, sind sie selber Ursache der Kritik, aber ich bin überzeugt, als Bauelement der Bundesrepublik Deutschland ist der Föderalismus ein unverzichtbarer Grundstein.
Müchler: Manches verdorrt in der Großen Koalition. Wird es Zeit, dass sie zu Ende geht?
Vogel: Natürlich verdorrt manches, nämlich alles, was die eine Partei will und die andere nicht, das verdorrt. Aber sie ist ja auf Zeit geschlossen, und übrigens ist sie nicht aus Lust an der Großen Koalition geschlossen, wir wollten sie nicht und die SPD wollte sie auch nicht. Aber aus Einsicht, dass eine stabile Regierung - und das muss unser oberstes Interesse sein - nach dem letzten Wahlergebnis nur durch eine Große Koalition zu sichern ist. Und darum muss man sie zum Erfolg führen, sie arbeitet übrigens ja auch gar nicht so schlecht. Ich muss aber gleichzeitig auch sagen, gebe nicht nur Gott, sondern die Wähler, dass das nach 2009 nicht mehr notwendig ist. Übrigens war ja die erste Koalition unter Kiesinger auch eine Ausnahme, aber alles in allem im Rückblick ja nicht die schlechtesten Jahre der Bundesrepublik.
Müchler: Als Sie in die Politik gingen und noch hinein bis in die 1980er Jahre, vereinigten die beiden großen Volksparteien so ungefähr neunzig Prozent der Wahlbevölkerung auf sich. Heute geht es, wenn es gut geht, um sechzig Prozent. Woran liegt das?
Vogel: Das gehört zu den Besorgnis erregenden Fakten - übrigens gehört das Erstarken der Radikalen ebenfalls dazu - und die sinkende Wahlbeteiligung. Und um diese Vorgänge muss man sich Sorgen machen, denn die Stärke der beiden Volksparteien war ebenfalls eines der stabilisierenden Elemente, am besten so, dass eine starke Volkspartei mit einem kleineren Partner die Regierung stellte und dass es auch eine starke Opposition gab, denn die Folge der Großen Koalition ist ja auch, dass es eine kleine Opposition nur gibt. Und deswegen sollten wir, übrigens auch in den politischen Stiftungen, in der Bildungsarbeit alles tun, um zu vermitteln, dass es weder gut ist, dass die Zustimmung zu den beiden Volksparteien zurückgeht, noch gut ist, dass die Wahlbeteiligung so sinkt, und schon gar nicht gut ist, dass rechtsradikale Parteien in deutsche Parlamente einziehen.
Müchler: Sozialdemokraten klagen über ein Zuwenig an Sozialdemokratie in der SPD, in der Union raufen sich Kritiker die Haare wegen einer angeblichen Sozialdemokratisierung der CDU. Haben die Parteien als Identifikations-Orte abgedankt, haben sie keine Bindungskraft mehr?
Vogel: Mich wundert, wenn ich die Zeitungen aufschlage, dass auf der einen Seite geschildert wird, wie ähnlich sich die Parteien geworden seien, auf der anderen Seite beklagt wird, in wie vielen Punkten in der Koalition gestritten würde, weil man unterschiedlicher Meinung sei.
Müchler: Ist das ein Widerspruch?
Vogel: Natürlich ist das ein Widerspruch, wenn ich in der Familienpolitik, in der Steuerpolitik, in der Energiepolitik und so weiter nicht übereinstimme, dann ja offensichtlich, weil grundsätzlich - nehmen Sie die Atomenergie beispielsweise - unterschiedliche Positionen vorhanden sind und insofern kann ich der Immer-ähnlicher-werden-Theorie der großen Parteien nicht zustimmen. Allerdings haben wir überhaupt eine Situation, wo sich große Organisationen gegenwärtig nicht in der Sonne der Sympathie der Menschen befinden. Das trifft für die Kirchen zu, das trifft übrigens bedauerlicherweise auch für die Gewerkschaften zu, es trifft sogar für die Unternehmerverbände zu und für die Parteien trifft es auch zu. Wir müssen der jungen Generation - und ich glaube, das hat auch einen guten Grund - hier vermitteln, was vorgeht, und der Grund heißt: Wir sind sehr stark geprägt von den negativen Erfahrungen der Weimarer Republik. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben aus dem unmittelbaren Erleben heraus formuliert. Das ist inzwischen über sechzig Jahre her. Ich habe als 20-Jähriger auch nicht parat gehabt, was zu Kaiser Wilhelms Zeiten in Deutschland - das war nämlich sechzig Jahre vorher - gewesen ist. Ich hätte Ihnen die Kanzler nach Bismarck nicht fehlerfrei aufsagen können. Aber wir jammern darüber, dass die Jetzigen die Bundeskanzler nicht fehlerfrei aufsagen können. Die Begründung unserer Ordnung aus dem Erleben der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus reicht nicht mehr, sie muss aus sich heraus der heutigen Generation begründet werden, weil dieses Erleben den jungen Menschen Gott sei Dank erspart geblieben ist.
Müchler: Kommen wir noch zu einem anderen Thema. Sie sind, wenn man so will, einer der Väter des privaten Rundfunks in Deutschland. Das erste Kabelprojekt wurde 1984 nicht zufällig in Ludwigshafen, also in Rheinland-Pfalz eingerichtet. Wenn Sie heute in das Privatfernsehen schauen oder Privatradio hören: Eine Erfolgsgeschichte ist das nicht.
Vogel: Im Augenblick stellt sich insbesondere einer der privaten Unternehmer nicht so positiv dar, wie ich das gerne hätte, das ist richtig. Nur bin ich der Vater der Pluralität. Als ich erkannte und als man erkannte, dass Fernsehprogramme nicht mehr auf drei oder vier Kanäle beschränkt sein müssen, sondern dass technisch mehr möglich ist, war ich in der Tat der Meinung, dass man aus dem Oligopol zweier öffentlich-rechtlicher Sender eine Vielheit machen müsse, und dazu stehe ich auch heute noch. Das Öffentlich-Rechtliche hat seine Berechtigung mit einem ganz besonderen Auftrag, nämlich der Grundversorgung. Es hat aber seine Berechtigung nicht dadurch, dass ich alles andere verbiete. Und im übrigen: Hätten wir in Deutschland Anfang der 1980er Jahre den Schritt nicht getan, dann hätten sich alle diese Unternehmen in Luxemburg, Frankreich, Österreich, der Schweiz oder sonst wo angesiedelt. Dass wir heute im Medienbereich mehr Beschäftigte haben als in der Automobilindustrie ist auch eine Konsequenz, dass wir in einem erbitterten Kampf damals mit den sozialdemokratischen Kollegen zunächst einmal durchgesetzt haben, dass in Ludwigshafen ein Pilotversuch unter Beteiligung von Privaten gegeben hat.
Müchler: Trotzdem, damals hatte man ja auch erwartet, dass die Privaten journalistisch etwas Anspruchsvolles würden leisten können. Wenn man sich die Realität anschaut, gewinnt man den Eindruck, als spielten wesentliche Anbieter auf Seiten der Privaten heute in einer Klasse, in der man der Frage nach dem journalistischen Anspruch nicht mehr begegnet.
Vogel: Also, zunächst bei hohem Respekt vor allem vor dem Deutschlandfunk: Nicht alles, was in Öffentlich-Rechtlichen gesendet wird, ist unbedingt preisverdächtig. Es gibt Preiswürdiges, aber es gibt auch nicht so Preiswürdiges. In den zwanzig Jahren hat sich das verändert. Mal waren die Öffentlich-Rechtlichen vorn, mal die Privaten. Im Moment ist die Stunde wieder mehr auf der Seite der Öffentlich-Rechtlichen, und ich hoffe, dass die Privaten Fehler, die sie gegenwärtig machen, korrigieren und wieder voll wettbewerbsfähig werden, denn das ist die Grundidee einer pluralen und offenen, auch Mediengesellschaft.
Müchler: Herr Vogel, Sie leben in Speyer. Sie haben gewirkt in Mainz und in Erfurt. Alle drei Städte sind geprägt von ganz großartigen Kathedralen. Welche ist Ihnen die liebste?
Vogel: Das machen Sie mir jetzt aber sehr schwer. Ich bin seit 42 Jahren in Speyer beheimatet, darum ist mir der Romanische Dom in Speyer am meisten ans Herz gewachsen. Aber ich bin sehr froh darüber, dass die Landeshauptstädte, in denen ich gearbeitet habe, Kathedralen haben, die nur Weniges dem Speyerer Dom nachstehen.
Müchler: Was möchten Sie, das einmal in den Geschichtsbüchern über Sie steht?
Vogel: Er hat versucht, seine Pflicht zu tun.
Müchler: Herr Vogel, wenn das ein politischer Großtrend ist, dass die Parteien Mitglieder verlieren, dass sie vielleicht mehr und mehr die Kraft verlieren, politisch und weltanschaulich Bindungen aufzubauen: Was können vor diesem Hintergrund parteinahe Stiftungen noch leisten? Sie sind ja Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Vogel: Wir sind in der Konrad-Adenauer-Stiftung gegenwärtig dabei, der politischen Bildungsarbeit in Deutschland noch größere Bedeutung zuzumessen. Wir können in der Welt draußen nicht für Demokratie werben, wenn zu Haus Mängel sichtbar werden. Und dabei kommt, glaube ich, neben der Vermittlung der Fähigkeiten, Demokrat zu sein, neben der Vermittlung des historischen Wissens vor allem der gesellschaftspolitischen Notwendigkeit eines demokratischen Staates eine Hauptrolle zu. Wir müssen Angebote für Menschen machen, die bereit sind, sich zu engagieren und müssen sie ermuntern, das auch tatsächlich zu tun. Und da bin ich ein bisschen ermutigt, weil ich neben mancher Enttäuschung doch auch erlebe, wie viele junge Leute, mehr als wir das früher waren, bereit sind, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen und wenn es notwendig ist, auch zu schlagen.
Müchler: Die Konrad-Adenauer-Stiftung gibt als profilierte Monatszeitschrift "Die Politische Meinung" heraus. So eine Zeitschrift kann Riesenauflagen niemals erreichen. Warum braucht man die Zeitschrift dennoch?
Vogel: Wir haben keine Riesenauflagen, weil das Lesen in Deutschland, und noch dazu anspruchsvoller Texte, Grenzen hat. Wir brauchen diese Zeitschrift, weil es ein Organ geben muss, wo unser Welt- und Menschenbild, wo unsere Grundauffassungen nachlesbar dargestellt sind, wo auch Diskussion stattfindet, vor allem aber, wo man zugreift, wenn man wissen will, was denken die der christlich-demokratischen Idee verbundene Menschen, mit Kenntnissen über diese mich interessierenden Fragen.
Bernhard Vogel: Ich bemühe mich, das nicht zu sein, aber ich habe etwas dagegen, dass wir in Deutschland von einem Extrem ins andere fallen. Rücksichtnahme auf Nichtraucher und auf die, die sich durch Rauch beeinträchtigt finden, aber auch ein bisschen Rücksichtnahme darauf, dass auch manche Leute Freude an einer guten Zigarre haben.
Müchler: Der Soziologe Wolfgang Sofsky schreibt in einer neuen Streitschrift, in der es um die Verteidigung des Privaten geht, die Ansprüche von Staat und Gesellschaft an den Einzelnen - und da meint er durchaus auch den Kampf gegen das Rauchen - seien dermaßen gewachsen, dass das Beharren auf Eigensinn als sozialer Verrat erscheine. Der Eigensinn als bürgerliche Tugend: Muss er verteidigt werden?
Vogel: Der Eigensinn nicht, denn die bürgerliche Tugend ist der Gemeinsinn. Aber der Respekt vor Freiräumen muss verteidigt werden. Wir stehen in der Gefahr, zuviel, um nicht zu sagen, alles zu regeln, und das heißt, Misstrauen gegen den Einzelnen zu schüren. Das ist nicht gut. Es ist nicht gut, dass zu viele Regelungen versprochen werden, aber es ist auch nicht gut, dass sich zu viele Bürger zu viel versprechen lassen.
Müchler: Sie haben Anfang des Jahres zusammen mit Ihrem Bruder Hans-Jochen ein Buch über Deutschland veröffentlicht mit dem vielsagenden Titel "Aus der Vogel-Perspektive", ein schönes Lesebuch über das Deutschland der Nachkriegszeit. Der eine Bruder schwarz, der andere rot, politisch einander nicht grün. Wie kam es, dass der eine, Ihr Bruder Hans-Jochen, sich als junger Mann von Kurt Schumacher angezogen fühlte, während Ihr Leitbild Konrad Adenauer wurde? Die politische Sozialisation verläuft doch in aller Regel familienbündig.
Vogel: Ja, aber sie verläuft auch zeitbezogen. Mein Bruder ist 1945 mit neunzehn Jahren aus dem Krieg zurückgekommen. Deutschland war moralisch und materiell ein Trümmerhaufen. Einer der damals beherrschenden, Mut machenden Figuren war der durch KZ-Haft und Krieg gezeichnete Kurt Schumacher und die wiedererstandene Sozialdemokratie. Ich, sechs bis sieben Jahre jünger, habe politisch zu denken angefangen, als Konrad Adenauer bereits Kanzler und als die Christlich Demokratische Union bereits stärkste Partei in Deutschland war. Mich haben dieser Mann und sein Programm fasziniert, und das muss man, glaube ich, verstehen. Ich habe Verständnis dafür, für die Situation von 1945 und nachfolgenden Jahren bei meinem Bruder, erwarte aber auch das Verständnis für mich, und das Buch, das wir geschrieben haben, ist kein Plädoyer für eine Große Koalition. Im Gegenteil, es ist ein Plädoyer für eine eigene politische Überzeugung, allerdings auch für den Respekt vor der Überzeugung des anderen.
Müchler: Ich habe das Buch als eine Art Parabel gelesen, als Beispiel dafür, dass das Freund-Feind-Denken, das ja noch die Weimarer Republik prägte, in der zweiten deutschen Demokratie überwunden werden konnte. Ist das eine Überinterpretation?
Vogel: Nein, das ist schon eine richtige Interpretation, zu der auch gehört, dass ja die beiden Volksparteien, die CDU sogar ausdrücklich in ihrem Namen "Union" die Aufspaltung in der Weimarer Republik überwinden wollte, also keine katholische Partei und eine evangelische Partei, sondern eine ökumenische Idee. Das ist schon richtig, dass zusammengeführt werden muss, aber noch wichtiger ist mir, dass man nicht die Meinung des Anderen erst als dumm, unüberlegt, tölpelhaft, töricht bezeichnet, sondern dass man ihr mit einem gewissen Respekt begegnet. Natürlich bin ich betrübt darüber, dass mein Bruder nicht in meiner Partei ist, und ich habe lange gehofft, das würde sich noch ändern. Er würde es ähnlich sagen, aber man muss doch Respekt davor haben, wenn einer seine Überzeugungen lebt.
Müchler: Herr Vogel, vor einiger Zeit hat in diesem Studio Heiner Geißler gesessen, der langjährige CDU-Generalsekretär und er gehört der CDU ja auch immer noch an. Er hat hier auf die Frage, welcher Grundwert derzeit am meisten gefährdet sei, ganz entschieden geantwortet: Es ist die Solidarität, die gefährdet ist, nicht die Freiheit. Sehen Sie das auch so?
Vogel: Das sieht meinem Freund Heiner Geißler in der Tat ähnlich. Ich sehe es anders, ich fürchte, am meisten gefährdet ist die Freiheit.
Müchler: Woran machen Sie das fest?
Vogel: An der Entwicklung, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten nimmt. Immer wieder gab es eine Konkurrenz zwischen Freiheit und Gleichheit. Im Moment hat die Gleichheit Hochzeit, in Umfragen merken wir das, und gerade deswegen muss man klarmachen: Gleichheit herrscht auch in Gefängnissen, Freiheit ist Voraussetzung, das Gleiches gleich und zur Gerechtigkeit gehört, dass Ungleiches ungleich behandelt wird.
Müchler: Das passt zu meiner nächsten Frage. Sie sind ja Doktorsohn von Dolf Sternberger, dem Nestor der deutschen Politikwissenschaft nach dem Kriege. Ein vielzitierter Satz Sternbergers lautete, ich glaube, schon geschrieben im Jahre 1946: "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit." Wenn man so will, ist das das Grundgesetz der wehrhaften Demokratie. Heute, in zeitgemäßer Auslegung dieses Diktums, könnte man sagen: "Keine Freiheit der NPD." Sind Sie für einen neuen Verbotsantrag?
Vogel: Zunächst einmal bin ich meinem Lehrer Dolf Sternberger dankbar, denn er hat mich zur Politischen Wissenschaft gebracht und zu meinen Grundeinsichten, was die res publica, was den Staat, was die Politik betrifft. Den Satz "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" hat er auf dem Heidelberger Schloss im Jahr 1946 gesprochen und damals ausdrücklich gegen Rechts, gegen die Nationalsozialisten und gegen Leute dieser Gesinnung gewarnt. Er hat dann später ausdrücklich gesagt, er sei generell gegen jede Form von Feinden der Freiheit, also nicht nur von rechts. Ich bin nicht für einen Gerichtsprozess über die NPD, weil mich die Erfahrung mit dem Verbot der KPD vor langen Jahren gelehrt hat, der Kopf wächst, wenn Sie ihn abschlagen, wieder unter einem anderen Namen nach. Dann war es nicht die KPD, sondern die DKP. Wenn wir nicht die Sache bekämpfen, wenn wir nicht die Auseinandersetzung gegen eine absurde Ideologie führen und gegen eine ewig gestrige Philosophie, dann werden wir das Phänomen durch Verbot allein nicht beherrschen. Und mir ist die offene Feldschlacht lieber, als das Verbot, das nicht dazu führt, diese giftige Pflanze wirklich mit Wurzel herauszureißen.
Müchler: Geschieht da genug? Wird ausreichend Trennschärfe praktiziert, auch in Ostdeutschland? Da hat man gelegentlich den Eindruck, dass vieles, was sich dort unter braunen Vorzeichen tut, hingenommen wird.
Vogel: Mir sind die Reaktionen von den Demokraten zu nervös und zu wenig selbstsicher. Es ist gar keine Frage, alle Demokraten sollten sich für einen Kampf gegen Rechts und sollten keine Kraft darauf verschwenden, sich gegenseitig vorzuwerfen "Du bekämpfst sie aber weniger als ich", sondern das ist ein gemeinsames Erbe der nationalsozialistischen Diktatur, dass jeder recht denkende Bürger so etwas nicht duldet. Und dafür muss gekämpft werden, nicht durch nervöse Aufgeregtheit, sondern mit handfesten Argumenten, die es ja Gott sei Dank gibt. Was Ostdeutschland betrifft, so ist es zwar richtig, dass gerade die Unvertrautheit mit Fremden, die ja viel weniger Erfahrung mit Zuwanderern aus anderen Ländern haben als der Westen, eine Quelle dafür ist. Aber das ist kein ostdeutsches Problem. Ich darf darauf aufmerksam machen, was gelegentlich vergessen wird: Im wohlhabenden Baden-Württemberg saßen zwei Legislaturperioden Rechtsradikale im Parlament. Also es kann gar keine Rede davon sein, dass das, was bedauerlicherweise in einigen ostdeutschen Parlamenten geschehen ist, eine völlig neue Erscheinung ist. Sie muss bekämpft werden, aber sie darf auch nicht verringert werden, indem man sagt, "na ja, die Ossis halt". Das ist falsch.
Müchler: Wir sprachen eben über Dolf Sternberger. Ein anderes Wort von ihm, das immer wieder zitiert wird, ist "Verfassungspatriotismus". Der Verfassungspatriotismus war gewissermaßen Teil der Leitkultur der alten Bundesrepublik, da die Nation als Bezugspunkt für Patriotismus, für Vaterlandsliebe nicht zur Verfügung stand, weil schrecklich missbraucht durch die Nazi-Herrenmenschen, war das Grundgesetz gewissermaßen der Platzhalter. Dann kam die Wiedervereinigung und es stellte sich heraus, man sollte die Verfassung respektieren, man kann sie schätzen, aber kann man sie lieben? Die Deutschen in Ostdeutschland versammelten sich unter schwarz-rot-goldenen Fahnen unter der Parole "Wir sind ein Volk", in Westdeutschland war man perplex.
Vogel: Der Begriff ist von Sternberger Anfang der 50er Jahre zum ersten Mal in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verwendet, aber dann später wieder aufgegriffen, und leider von manchem, der ihn heute benützt, falsch interpretiert worden. Sie haben recht, es hatte auch etwas mit dem geteilten Vaterland zu tun, in das hinein diese Formulierung gefallen ist, aber die eigentliche Definition ist, dass Patriotismus Demokratie voraussetzt. Der eigentliche Grundgedanke Sternbergers ist, dass ein Patriot jemand ist, der nicht nur die Landschaft und die Berge oder die Seen, sondern auch seine demokratische Verfassungsordnung liebt. Nun haben Sie recht - das hat schon Gustav Heinemann gesagt, "ich liebe meine Frau" - aber ich meine, richtig interpretiert, wir haben es ja bei der Fußballweltmeisterschaft gesehen, lieben wir schon auch unsere Heimat. Wir sind etwas gebrannte Kinder, weil die übertriebene Liebe uns über alles gestellt hat, so die erste Strophe des Deutschlandliedes, und das darf es nie wieder geben. Aber niemand nimmt doch einem Franzosen übel, dass er gerne Franzose ist und einem Amerikaner, dass er gerne Amerikaner ist, und ich möchte bei vollem Respekt dafür auch nicht übel genommen bekommen, dass ich gerne Deutscher bin und dass ich dieses Land liebe, sowohl mit seiner Fahne als auch mit dem Brandenburger Tor, mit der Wartburg und mit der demokratischen Verfassung. Das betrifft nicht jeden Artikel, aber beispielsweise den Kernsatz dieser Verfassung "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Das ist mir schon Liebe wert.
Müchler: Sternberger hat Sie zur Politischen Wissenschaft gebracht, Sie waren Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, sind dann aber rasch in die praktische Politik gewechselt. 1967, mit 35 Jahren, wurden Sie Kultusminister in Rheinland-Pfalz, dann hat die Politik Sie nicht mehr losgelassen. Was ist die Faszination des Politikerberufes? Man spricht ja gelegentlich von der Droge "Macht". Der Politikerberuf ist ja nicht sonderlich gut bezahlt und er verlangt einen hohen Preis. Ist es die "Droge Macht", die abhängig macht?
Vogel: Zunächst habe ich nie beschlossen, Politik als Beruf zu betreiben. Im Gegenteil, Sternberger und andere Lehrer haben mir gesagt, "wenn Du die Politik als Wissenschaft betreiben willst, dann darfst Du nicht in eine Partei gehen". Und das habe ich zunächst auch nicht getan, aber dann kam ein Heidelberger Schlossermeister meines Alters, der mich dafür warb, für den Heidelberger Stadtrat zu kandidieren, und das konnte man ja nur, wenn man auch in die Partei eintrat. Dann habe ich dem und nicht den gelehrten Häuptern Folge geleistet - nun ist der Stadtrat kein politischer Vollberuf -, dann kamen andere, die ich aus Kursen in der christlichen Soziallehre, die ich abgehalten habe, kannte, und sagten, wir brauchen einen neuen Bundestagsabgeordneten, Du redest da immer so klug über die christliche Soziallehre, wie wäre das. Und dann habe ich fälschlicherweise gedacht, na ja, vier Jahre Praxis würde ja nicht schaden und habe kandidiert in der Absicht, nach vier Jahren machst Du mit Deiner Habilitationsarbeit weiter. Das erste Kapitel gibt es, das liegt auch noch irgendwo. Dann aber kam der Ruf "Kultusminister". Und da muss ich nun sagen, auch da habe ich mir gedacht, mit 34 diese Chance, wehr die ab, obwohl ich dann schon gemerkt habe, jetzt wird es wohl bei der Politik bleiben. Allerdings, ich war schon Ministerpräsident, zu meinem 50. Geburtstag hat ein Onkel von mir gesagt, überleg Dir doch, ob Du nicht doch noch einen richtigen Beruf ergreifen willst und an die Universität gehen willst. Wie Sie sehen, habe ich den Rat nicht befolgt. Nun haben Sie Recht, die Politik hat etwas mit Macht zu tun, ein machtloser Politiker ist kein Politiker. Aber Macht ist nicht von vornherein etwas Gutes oder etwas Böses. Es ist etwas Heikles, es ist etwas, mit dem man umgehen muss. Ich habe etwas dagegen, wenn man als einziges Motiv Machtgelüste angibt, das habe ich eigentlich nie empfunden. Ich habe mich - mit einer Ausnahme - um diese Positionen nie beworben, sondern weil Freunde kamen mit den Worten "wir brauchen Dich da", deshalb habe ich das gemacht, so dass für mich der Gedanke des Dienstes eigentlich immer eine größere Bedeutung gehabt hat als der Machtrausch oder das Bewusstsein "dann hast Du Macht". Und so fürchterlich ist das mit der Macht ja auch nicht, Sie müssen ja vieles tun, um tatsächlich Autorität zu besitzen.
Müchler: Aber es gibt viele Beispiele dafür, dass man von der Politik nicht lassen kann und dann auch den richtige Zeitpunkt, auszuscheiden, verpasst.
Vogel: In der Tat, dafür haben wir ja lebende Beispiele genug. Und deswegen haben sowohl mein Bruder als auch ich großen Wert darauf gelegt, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Das war bei mir nicht der Fall bei meinem Abschied in Rheinland-Pfalz. Das war auch nicht vom Zeitpunkt her notwendig, damals war ich Mitte 50. Aber ich glaube, ich habe das in Thüringen einigermaßen befriedigend praktiziert, wo ich gesagt habe, in 14 Tagen wird ein Wechsel stattfinden, allerdings dadurch begünstigt, dass ich einen Nachfolger kommen sah, der meinem Wunsch entsprach und mit dem ich in voller Übereinstimmung war.
Müchler: Auf Rheinland-Pfalz und Ihren Abschied dort als Ministerpräsident kommen wir gleich noch zu sprechen. 1974 wurden Sie CDU-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz als Nachfolger von Helmut Kohl, der seinerseits gern Heiner Geißler als Nachfolger gehabt hätte. Bernhard Vogel, Heiner Geißler, in mancherlei Hinsicht ein Zwillingspaar, beide altersmäßig nah beieinander, beide über lange Jahre Gefolgsleute von Helmut Kohl, bis Geißler 1989 einen Putschversuch gegen den Patriarchen unternahm. Auf welcher Seite standen Sie damals in den hoch spannenden Tagen vor dem Bremer Parteitag?
Vogel: Vor und beim Bremer Parteitag stand ich selbstverständlich auf der Seite Helmut Kohls, obwohl Sie in der Tat zu Recht darauf hinweisen, nach anfänglich gleichen Sympathien für Geißler und Kohl hat bei der Entscheidung um den Landesvorsitz in Rheinland-Pfalz, der ja auch die Vorentscheidung für die Nachfolge Kohls als Ministerpräsident war, Helmut Kohl für Heiner Geißler Partei ergriffen. Das ist dieser eine Fall, wo ich mich aktiv, hart kämpfend, um diesen Vorsitz beworben habe und ihn ja dann auch überraschend deutlich gegen Heiner Geißler gewonnen habe. Aber - und das ist, glaube ich, erwähnenswert - das hat die Freundschaft zu Heiner Geißler und auch die Empfehlung von Kohl hat die Freundschaft zu Helmut Kohl auf Dauer nicht belastet.
Müchler: Herr Vogel, nach der CDU-Spendenaffäre haben viele Parteifreunde Helmut Kohl den Rücken gekehrt, Sie nicht. Ich kann mich an ein sehr entschiedenes Zitat von Ihnen erinnern. Sie haben gesagt: "Ich billige die Los-von-Kohl-Bewegung nicht." Das war für viele ein schwieriger Konflikt damals. Auf der einen Seite Kohls Verhalten - schwer verständlich -, auf der anderen Freundesverrat. Sie haben sich gegen den Freundesverrat entschieden. Warum?
Vogel: Das ist jetzt sehr zugespitzt ausgedrückt, aber in der Tat, wenn man einem Menschen freundschaftlich verbunden ist, wenn man eine Wegstrecke, eine so dramatische Wegstrecke mit ihm geht wie die Jahre der Wiedervereinigung, aber auch insgesamt die Jahre seiner Kanzlerschaft, dann kann man nicht über ihn den Stab brechen, wenn Dinge bekannt werden, die man nicht wusste und die man auch nicht für gut gehalten hat. Dann muss sich meines Erachtens eine Freundschaft bewähren, und mir hat es nicht gefallen, dass manche Leute ihre Beziehungen fallen ließen wie eine heiße Kartoffel.
Müchler: Sie haben heute noch ein gutes Verhältnis zu Helmut Kohl, haben Kontakt zu ihm?
Vogel: Ich habe Kontakt zu ihm, habe ein gutes Verhältnis zu ihm, will aber ausdrücklich sagen, dass ich keineswegs immer mit ihm einer Meinung war, wie der Fall Geißler als Beispiel oder nachher dann auch die Nachfolge Ministerpräsidentenamt - da hat er die Kandidatur von Johann Wilhelm Gaddum unterstützt - oder auch bei anderer Gelegenheit. Aber das zeichnet ja eine Freundschaft nicht aus, dass man immer und in allem einer Meinung ist.
Müchler: Was glauben Sie, was dereinst in den Geschichtsbüchern über den Staatsmann Helmut Kohl zu lesen sein wird?
Vogel: Ich denke, in einiger Zeit wird der Einer Europas an erster Stelle und die Leistung im Rahmen der Wiedervereinigung an zweiter Stelle stehen, ganz einfach weil man, je länger, je mehr die Wiedervereinigung als etwas Selbstverständliches und die Einigung Europas als etwas ganz Neues ansehen wird. Deswegen denke ich, wird das die Reihenfolge in den Geschichtsbüchern unserer Enkel sein.
Müchler: Sie waren insgesamt zwölf Jahre lang Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, dann kam das Jahr 1988, Sie wurden, wenn ich das so salopp sagen darf, infolge einer nicht gut ausgegangenen Landtagswahl als CDU-Parteivorsitzender abgeschossen von einem Mann, dessen Name heute niemandem etwas sagt, Hans Otto Wilhelm. Von da an ging es mit der CDU in Rheinland-Pfalz bergab. Im Nachhinein haben Sie Recht behalten. Empfindet man da Genugtuung?
Vogel: Nein, ich bedaure, dass ich Recht behalten habe und bedaure vor allem, dass ich nicht nur vorübergehend Recht behalten habe, sondern dass auf dieses Bubenstück von Koblenz letztendlich ein 20-jähriger Verlust der Verantwortung für ein im Grunde christlich-demokratisch geprägtes Land die Folge war. Und insofern habe ich bedauerlicherweise nicht nur Recht gehabt, sondern die Wirklichkeit hat mich übertroffen.
Müchler: Aber Sie haben, wenn man so will, Glück im Unglück gehabt, denn ohne den Verlust des Amtes in Rheinland-Pfalz wären Sie nicht Ministerpräsident im Freistaat Thüringen geworden.
Vogel: Ja, das ist richtig. Und wenn mir 1988 an jenem Novemberabend jemand gesagt hätte, "nimms nicht so tragisch, Du wirst ein paar Jahre später Ministerpräsident von Thüringen", dann hätte ich den Menschen für verrückt erklärt und zum Arzt geschickt. Das hat niemand ahnen können. Glück im Unglück - nach Thüringen zu kommen, war eine faszinierende Aufgabe, das größte Abenteuer meines Lebens, aber war natürlich nicht ein persönlicher Verdienst, sondern war die Folge einer historisch einmaligen Situation und darum bin ich der einzige Ministerpräsident, der in zwei Ländern Ministerpräsident war, aber das wird wohl auch für die Zukunft so bleiben, weil sich eine solche Situation hoffentlich nie wiederholen wird.
Müchler: Was haben Sie, glauben Sie, den Thüringern geben können und was hat dieses schöne, alte mitteldeutsche Land Ihnen gegeben?
Vogel: Das Land hat mir ungeheuer viel gegeben. Im Gegensatz zum Grenzland Rheinland-Pfalz ist Thüringen ein Land mit offenen Grenzen immer gewesen, nur von deutschen Nachbarn immer umgeben. Im Gegensatz zu einem Land wie Rheinland-Pfalz, das seine Wurzeln in der römischen Geschichte, in der römischen Zeit hat, ist Thüringen das Land des 18. und 19. Jahrhunderts, von Goethe und Schiller und Weimar und zuvor von Martin Luther gewesen. Was ich geben konnte, war Regierungserfahrung. Ich wusste, wie man den Wagen fährt. Was ich brauchte, und das war am Anfang sehr schwierig, waren Menschen, die aus dem Stand heraus bereit waren, mitzumachen, obwohl sie vorher keine Übungszeit hatten. Ich hätte doch in Rheinland-Pfalz nie jemanden zum Minister ernannt, den ich nur eine Stunde vorher sprechen konnte, und nie jemanden, der mir nicht sagte, dass er von Kindesbeinen an Erfahrung hat, Landrat war oder irgendetwas anderes. Das fiel alles weg. Der Mut derer, die sich ohne genau zu wissen, worauf sie sich einließen, darauf eingelassen haben, der verdient irgendwann später einmal ein Denkmal.
Müchler: Also ein großes Abenteuer.
Vogel: Es war das größte Abenteuer meines Lebens, ganz ohne Frage.
Müchler: Es war ja auch in der CDU nicht ganz einfach, es gab heftige Turbulenzen in den ersten Jahren.
Vogel: Im Gegensatz zu meiner Meinung in Rheinland-Pfalz, wo ich gesagt habe, wenn die Partei mich nicht mehr wählt, dann muss ich als Ministerpräsident zurücktreten, habe ich ja angesichts dieser ungewöhnlichen Aufgabe in Thüringen zunächst gesagt, Ministerpräsident ja, aber bitte nicht auch noch Parteivorsitzender. Aber nach einiger Zeit habe ich gespürt, die Regierung kracht auseinander, wenn ich nicht auch noch den zweiten Koffer aufnehme, und darum bin ich in der Tat eine Reihe von Jahren auch wieder Parteivorsitzender geworden, bis mir dann Anfang des neuen Jahrhunderts Dieter Althaus in dieser Funktion nachgefolgt ist.
Müchler: Es gab während Ihrer Amtszeit in Thüringen ein schreckliches Ereignis, den Anschlag auf das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt.
Vogel: Zweimal in meiner langjährigen Regierungszeit hat es solche Ereignisse gegeben, in Rheinland-Pfalz 1988, als Flugzeuge bei einer Flugschau in Ramstein in eine große Menschenmenge stürzten und über siebzig Tote zurückblieben, und das zweite Mal bei diesem schrecklichen Attentat auf Lehrer, Schüler, Sekretärinnen, Polizisten in Erfurt. Das sind die beiden schwierigsten Ereignisse für mich gewesen, und die beschäftigen mich natürlich auch heute noch, weil Sie da, ohne vorbereitet zu sein, in eine Aufgabe hineinkommen, den Hinterbliebenen Trost zu spenden, sich darum zu kümmern, wie mit den Toten umgegangen wird, den Menschen etwas zu sagen. Also beides, zum Beispiel die Ansprache bei der Trauerfeier in Ramstein und diese Demonstration dieser Betroffenheit in Erfurt vor dem Dom, auf den Domplätzen, sind mir natürlich unvergesslich, wobei es in Thüringen gut getan hat, niemand hat in diesen Wochen von Ostdeutschland oder einer ostdeutschen Stadt gesprochen, sondern es ging um die Menschen in Erfurt, einer deutschen Stadt.
Müchler: Man urteilt leicht pauschal über das, was zwischen Ostdeutschland und der alten Bundesrepublik sich entwickelt. Immer noch verlassen viele junge Menschen, ganz besonders junge Frauen, ost- und mitteldeutsche Landschaften, gehen nach Westdeutschland, der Arbeit wegen. Wird die Kluft tiefer statt kleiner?
Vogel: Nein. Sie wird schon deswegen nicht tiefer, weil die Abiturienten dieses Jahrgangs die Mauer und die Trennung nicht mehr erlebt haben. Wir wollen sie daran erinnern, es ist Geschichte, wir müssen sie daran erinnern, aber das ist nicht mehr erlebte, selbst erlebte Zeit. Was mich schmerzt, ist, dass immer noch in Westdeutschland man zuwenig über Ostdeutschland weiß. Wie oft habe ich von Besuchern in Erfurt den Satz gehört: "Das haben wir ja gar nicht gewusst, dass diese Stadt so schön ist" oder was man erlebt hat. Da krankt es. Die Ostdeutschen haben, nicht zuletzt dank der Medien, viel mehr über Westdeutschland gewusst als die Westdeutschen über Ostdeutschland. Jeder, der nur überhaupt konnte, hat die Nachrichten damals des Deutschlandfunk gehört, hat die Nachrichten des ZDF oder des ARD gesehen, aber wer hat in Westdeutschland die "Aktuelle Kamera" gesehen? Niemand. Selbst wenn das Bild der Medien nicht ganz übereinstimmt mit der realen Wirklichkeit: Es ist sehr viel mehr Kenntnis in Ostdeutschland über Westdeutschland vorhanden als in Westdeutschland über Ostdeutschland.
Müchler: Interessiert man sich jetzt in Westdeutschland stärker für Ostdeutschland?
Vogel: Es gibt dauernd Umfragen, wie viele Westdeutsche schon in Ostdeutschland waren, und wenn die Zahlen veröffentlicht werden, steht meistens in der Nähe ein Kommentar, dass wir noch weit von der Wiedervereinigung entfernt seien. Ich halte das für ziemlichen Unsinn. Es gibt ja auch keine Umfragen, wie viele Bayern schon in Schleswig-Holstein gewesen sind. Nein, es ist inzwischen Gott sei Dank selbstverständlich geworden, dass die Franken nach Südthüringen kommen und dass die Hessen auf die Wartburg gehen. Natürlich kommen die Schleswig-Holsteiner seltener nach Sachsen, das ist aber in Westdeutschland auch so.
Müchler: Sie sind, Herr Vogel, ein in der Wolle gefärbter Föderalist.
Vogel: Ja.
Müchler: Als Ministerpräsident gehörte es zu Ihren Aufgaben, darauf zu achten, dass die starke Stellung der Länder nicht ausgehöhlt wird. Ich darf ausnahmsweise einmal zitieren, und zwar aus der Bundesratsrede des Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel vom 14. März 2003, es war die 786. Sitzung des Bundesrates, da lautete Ihr letzter Satz wie eine Kriegserklärung an die Bundesregierung: "Nein, Befehlsempfänger sind wir nicht."
Vogel: Ja.
Müchler: Inzwischen geht es mit dem Ansehen des Föderalismus bergab.
Vogel: Zunächst, wir sind in der Tat nicht Befehlsempfänger und deswegen spreche ich auch nie von Bundesländern, weil die Länder nicht des Bundes sind, sondern die Länder den Bund gegründet haben und die Länder die Elemente waren, aus denen heraus der Bund entstanden ist. Ich bin Föderalist, aber nicht Kirchturmspartikularist, und zwar aus zwei Gründen: erstens, wir Deutsche sollten uns vor konzentrierter Macht hüten. Föderalismus heißt, Macht ist geteilt und nicht auf ein Zentrum konzentriert. Wir haben in Deutschland weder zu Wilhelms Zeiten noch zu Hitlers Zeiten mit dem Zentralismus gute Erfahrungen gemacht. Und zweitens: Ein durchschnittliches Mitglied der Europäischen Union hat die Größe eines mittleren deutschen Bundeslandes, was allzu sehr vergessen wird. Auch um Europa willen ist es gut, dass wir eine föderale Ordnung haben.
Müchler: Trotzdem herrscht der Eindruck vor, der Föderalismus sei irgendwo im Bremserhäuschen angesiedelt, es käme nichts voran, die Brechung der Macht sei zu stark, und die Anpassungsgeschwindigkeit, wie es heißt, deshalb zu gering. In der Großen Koalition ist das Gewicht der Ministerpräsidenten ohnehin eingeebnet.
Vogel: Das ist immer so gewesen, das habe ich mehrfach erlebt. Im Bundesvorstand meiner Partei hatten die Ministerpräsidenten immer viel zu sagen, wenn wir nicht den Ministerpräsidenten stellten und weniger zu sagen, wenn wir den Kanzler oder die Kanzlerin stellten. Das ist gut erklärbar. Sie haben Recht, der Föderalismus hat im Augenblick keine Hochkonjunktur, weil manche - auch übrigens manchmal aus Schuld der Länder - wenn sie überziehen, sind sie selber Ursache der Kritik, aber ich bin überzeugt, als Bauelement der Bundesrepublik Deutschland ist der Föderalismus ein unverzichtbarer Grundstein.
Müchler: Manches verdorrt in der Großen Koalition. Wird es Zeit, dass sie zu Ende geht?
Vogel: Natürlich verdorrt manches, nämlich alles, was die eine Partei will und die andere nicht, das verdorrt. Aber sie ist ja auf Zeit geschlossen, und übrigens ist sie nicht aus Lust an der Großen Koalition geschlossen, wir wollten sie nicht und die SPD wollte sie auch nicht. Aber aus Einsicht, dass eine stabile Regierung - und das muss unser oberstes Interesse sein - nach dem letzten Wahlergebnis nur durch eine Große Koalition zu sichern ist. Und darum muss man sie zum Erfolg führen, sie arbeitet übrigens ja auch gar nicht so schlecht. Ich muss aber gleichzeitig auch sagen, gebe nicht nur Gott, sondern die Wähler, dass das nach 2009 nicht mehr notwendig ist. Übrigens war ja die erste Koalition unter Kiesinger auch eine Ausnahme, aber alles in allem im Rückblick ja nicht die schlechtesten Jahre der Bundesrepublik.
Müchler: Als Sie in die Politik gingen und noch hinein bis in die 1980er Jahre, vereinigten die beiden großen Volksparteien so ungefähr neunzig Prozent der Wahlbevölkerung auf sich. Heute geht es, wenn es gut geht, um sechzig Prozent. Woran liegt das?
Vogel: Das gehört zu den Besorgnis erregenden Fakten - übrigens gehört das Erstarken der Radikalen ebenfalls dazu - und die sinkende Wahlbeteiligung. Und um diese Vorgänge muss man sich Sorgen machen, denn die Stärke der beiden Volksparteien war ebenfalls eines der stabilisierenden Elemente, am besten so, dass eine starke Volkspartei mit einem kleineren Partner die Regierung stellte und dass es auch eine starke Opposition gab, denn die Folge der Großen Koalition ist ja auch, dass es eine kleine Opposition nur gibt. Und deswegen sollten wir, übrigens auch in den politischen Stiftungen, in der Bildungsarbeit alles tun, um zu vermitteln, dass es weder gut ist, dass die Zustimmung zu den beiden Volksparteien zurückgeht, noch gut ist, dass die Wahlbeteiligung so sinkt, und schon gar nicht gut ist, dass rechtsradikale Parteien in deutsche Parlamente einziehen.
Müchler: Sozialdemokraten klagen über ein Zuwenig an Sozialdemokratie in der SPD, in der Union raufen sich Kritiker die Haare wegen einer angeblichen Sozialdemokratisierung der CDU. Haben die Parteien als Identifikations-Orte abgedankt, haben sie keine Bindungskraft mehr?
Vogel: Mich wundert, wenn ich die Zeitungen aufschlage, dass auf der einen Seite geschildert wird, wie ähnlich sich die Parteien geworden seien, auf der anderen Seite beklagt wird, in wie vielen Punkten in der Koalition gestritten würde, weil man unterschiedlicher Meinung sei.
Müchler: Ist das ein Widerspruch?
Vogel: Natürlich ist das ein Widerspruch, wenn ich in der Familienpolitik, in der Steuerpolitik, in der Energiepolitik und so weiter nicht übereinstimme, dann ja offensichtlich, weil grundsätzlich - nehmen Sie die Atomenergie beispielsweise - unterschiedliche Positionen vorhanden sind und insofern kann ich der Immer-ähnlicher-werden-Theorie der großen Parteien nicht zustimmen. Allerdings haben wir überhaupt eine Situation, wo sich große Organisationen gegenwärtig nicht in der Sonne der Sympathie der Menschen befinden. Das trifft für die Kirchen zu, das trifft übrigens bedauerlicherweise auch für die Gewerkschaften zu, es trifft sogar für die Unternehmerverbände zu und für die Parteien trifft es auch zu. Wir müssen der jungen Generation - und ich glaube, das hat auch einen guten Grund - hier vermitteln, was vorgeht, und der Grund heißt: Wir sind sehr stark geprägt von den negativen Erfahrungen der Weimarer Republik. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben aus dem unmittelbaren Erleben heraus formuliert. Das ist inzwischen über sechzig Jahre her. Ich habe als 20-Jähriger auch nicht parat gehabt, was zu Kaiser Wilhelms Zeiten in Deutschland - das war nämlich sechzig Jahre vorher - gewesen ist. Ich hätte Ihnen die Kanzler nach Bismarck nicht fehlerfrei aufsagen können. Aber wir jammern darüber, dass die Jetzigen die Bundeskanzler nicht fehlerfrei aufsagen können. Die Begründung unserer Ordnung aus dem Erleben der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus reicht nicht mehr, sie muss aus sich heraus der heutigen Generation begründet werden, weil dieses Erleben den jungen Menschen Gott sei Dank erspart geblieben ist.
Müchler: Kommen wir noch zu einem anderen Thema. Sie sind, wenn man so will, einer der Väter des privaten Rundfunks in Deutschland. Das erste Kabelprojekt wurde 1984 nicht zufällig in Ludwigshafen, also in Rheinland-Pfalz eingerichtet. Wenn Sie heute in das Privatfernsehen schauen oder Privatradio hören: Eine Erfolgsgeschichte ist das nicht.
Vogel: Im Augenblick stellt sich insbesondere einer der privaten Unternehmer nicht so positiv dar, wie ich das gerne hätte, das ist richtig. Nur bin ich der Vater der Pluralität. Als ich erkannte und als man erkannte, dass Fernsehprogramme nicht mehr auf drei oder vier Kanäle beschränkt sein müssen, sondern dass technisch mehr möglich ist, war ich in der Tat der Meinung, dass man aus dem Oligopol zweier öffentlich-rechtlicher Sender eine Vielheit machen müsse, und dazu stehe ich auch heute noch. Das Öffentlich-Rechtliche hat seine Berechtigung mit einem ganz besonderen Auftrag, nämlich der Grundversorgung. Es hat aber seine Berechtigung nicht dadurch, dass ich alles andere verbiete. Und im übrigen: Hätten wir in Deutschland Anfang der 1980er Jahre den Schritt nicht getan, dann hätten sich alle diese Unternehmen in Luxemburg, Frankreich, Österreich, der Schweiz oder sonst wo angesiedelt. Dass wir heute im Medienbereich mehr Beschäftigte haben als in der Automobilindustrie ist auch eine Konsequenz, dass wir in einem erbitterten Kampf damals mit den sozialdemokratischen Kollegen zunächst einmal durchgesetzt haben, dass in Ludwigshafen ein Pilotversuch unter Beteiligung von Privaten gegeben hat.
Müchler: Trotzdem, damals hatte man ja auch erwartet, dass die Privaten journalistisch etwas Anspruchsvolles würden leisten können. Wenn man sich die Realität anschaut, gewinnt man den Eindruck, als spielten wesentliche Anbieter auf Seiten der Privaten heute in einer Klasse, in der man der Frage nach dem journalistischen Anspruch nicht mehr begegnet.
Vogel: Also, zunächst bei hohem Respekt vor allem vor dem Deutschlandfunk: Nicht alles, was in Öffentlich-Rechtlichen gesendet wird, ist unbedingt preisverdächtig. Es gibt Preiswürdiges, aber es gibt auch nicht so Preiswürdiges. In den zwanzig Jahren hat sich das verändert. Mal waren die Öffentlich-Rechtlichen vorn, mal die Privaten. Im Moment ist die Stunde wieder mehr auf der Seite der Öffentlich-Rechtlichen, und ich hoffe, dass die Privaten Fehler, die sie gegenwärtig machen, korrigieren und wieder voll wettbewerbsfähig werden, denn das ist die Grundidee einer pluralen und offenen, auch Mediengesellschaft.
Müchler: Herr Vogel, Sie leben in Speyer. Sie haben gewirkt in Mainz und in Erfurt. Alle drei Städte sind geprägt von ganz großartigen Kathedralen. Welche ist Ihnen die liebste?
Vogel: Das machen Sie mir jetzt aber sehr schwer. Ich bin seit 42 Jahren in Speyer beheimatet, darum ist mir der Romanische Dom in Speyer am meisten ans Herz gewachsen. Aber ich bin sehr froh darüber, dass die Landeshauptstädte, in denen ich gearbeitet habe, Kathedralen haben, die nur Weniges dem Speyerer Dom nachstehen.
Müchler: Was möchten Sie, das einmal in den Geschichtsbüchern über Sie steht?
Vogel: Er hat versucht, seine Pflicht zu tun.
Müchler: Herr Vogel, wenn das ein politischer Großtrend ist, dass die Parteien Mitglieder verlieren, dass sie vielleicht mehr und mehr die Kraft verlieren, politisch und weltanschaulich Bindungen aufzubauen: Was können vor diesem Hintergrund parteinahe Stiftungen noch leisten? Sie sind ja Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Vogel: Wir sind in der Konrad-Adenauer-Stiftung gegenwärtig dabei, der politischen Bildungsarbeit in Deutschland noch größere Bedeutung zuzumessen. Wir können in der Welt draußen nicht für Demokratie werben, wenn zu Haus Mängel sichtbar werden. Und dabei kommt, glaube ich, neben der Vermittlung der Fähigkeiten, Demokrat zu sein, neben der Vermittlung des historischen Wissens vor allem der gesellschaftspolitischen Notwendigkeit eines demokratischen Staates eine Hauptrolle zu. Wir müssen Angebote für Menschen machen, die bereit sind, sich zu engagieren und müssen sie ermuntern, das auch tatsächlich zu tun. Und da bin ich ein bisschen ermutigt, weil ich neben mancher Enttäuschung doch auch erlebe, wie viele junge Leute, mehr als wir das früher waren, bereit sind, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen und wenn es notwendig ist, auch zu schlagen.
Müchler: Die Konrad-Adenauer-Stiftung gibt als profilierte Monatszeitschrift "Die Politische Meinung" heraus. So eine Zeitschrift kann Riesenauflagen niemals erreichen. Warum braucht man die Zeitschrift dennoch?
Vogel: Wir haben keine Riesenauflagen, weil das Lesen in Deutschland, und noch dazu anspruchsvoller Texte, Grenzen hat. Wir brauchen diese Zeitschrift, weil es ein Organ geben muss, wo unser Welt- und Menschenbild, wo unsere Grundauffassungen nachlesbar dargestellt sind, wo auch Diskussion stattfindet, vor allem aber, wo man zugreift, wenn man wissen will, was denken die der christlich-demokratischen Idee verbundene Menschen, mit Kenntnissen über diese mich interessierenden Fragen.