Die mythologische Thematik von Senecas "Thyeste" betreffe unsere Gesellschaft "scheinbar nur von ferne", meinte Jan van Vlijmen in einem Interview, das er kurz vor seinem Tod im vergangenen Dezember gab; freilich seien Themen wie Frustration, Eifersucht, Rivalität unter Brüdern, Rachegelüste und Mordlust so dauerhafte Themen, dass sie in allgemeiner Form abgehandelt werden sollten, ohne dass z.B. mit Blick auf den Kosovo aktualisiert werden müsse.
Ursprünglich war das Projekt sehr viel gegenwartsnäher angesiedelt: Der flämische Dichter Hugo Claus entwarf zunächst ein Textbuch, das zwar auf dem Medeastoff beruhte, jedoch in der Gegenwart und im Antwerpener Stadtteil Borgerhout spielte und die Integration von Ausländern behandelte. Da de vlaamse opera, der ursprüngliche Auftraggeber, aus Angst vor Konflikten ein Werk mit diesem Sujet nicht herausbringen wollte, verschob sich das Projekt hin zu Episoden aus der Tantaliden- und Atreus-Sage. Schon der Stammvater der Sippe – er geistert zu Beginn und am Ende durch van Vlijmens Oper – hatte Menschenopfer praktiziert, welche exemplarisch geächtet wurden: Tantalus, eines der Kinder des Zeus, schlachtete seinen Sohn Pelops (nach dem der Peloponnes benannt ist) und setzte ihn, gut gewürzt, dem Götterkollegium vor, um die Allwissenheit der hohen Herrschaften auf die Probe zu stellen (die Verurteilung zu ewigen Durstqualen im Tartarus waren die Strafe). Auch bei den Enkeln ging es recht archaisch zu: Thyestes und Atreus ermordeten ihren Halbbruder Chrysippos und flohen nach Mykene, wo sie zunächst gemeinsam herrschten; dann aber betrog Thyestes den Bruder mit dessen Frau, wurde von Atreus zuerst vertrieben, später mitsamt seinen Kindern zurückgelockt. Und der "Fluch der Tantaliden", die Tragödie der Adriden geht in die nächste Runde.
Schon vor drei Jahrzehnten hatte Jan van Vlijmen seine zunächst an Schönbergs Zwölftontechnik geschulte Schreibweise aufgegeben und sich zunehmend einem neuen "Lyrismus" verschrieben, dem er selbst eine "italienische Färbung" zusprach. Aber so richtig klingt Italianità da doch nicht auf – es verhält sich wie mit Amsterdam, das von den Holländern gern als "Venedig des Nordens" bezeichnet wird (während umgekehrt kaum ein Italiener auf die Idee käme, Venedig als Amsterdam des Südens zu bezeichnen). Dem Remigranten Thyestes wurde – wie dem in klassisch greichischer Weise reümierenden Chor – eine auf modalen Wendungen beruhende Melodien-Lineatur zugeordnet, während die Stimme des aggressiven Atreus stark chromatisch bestimmt ist; freilich nähern sich die Partien der beiden Protagonisten, die von Dale Duesing und John Daszak überzeugend bestritten werden, zunehmend an und charakterisieren beide als Täter, die zugleich Opfer wurden. Denn Atreus opfert in einem nächtlichen Ritual drei Söhne des Bruders und serviert sie Thyestes, der sich an den Köstlichkeiten aus den Silberschüsseln überfrißt und am Wein berauscht, der mit dem Kinderblut vermischt wurde.
Gerardjan Rijnders hat bei seiner Inszenierung in schlicht abstrakter Ausstattung vor einem Lamellen-Rundhorizont und auf einer erhöhten Scheibe den antikisierenden Kurs des Werks ungebrochen beibehalten. Edle Einfalt, stille Größe. Es finden sich keinerlei Anspielungen auf neuere Historie oder gar die Gegenwart. Das Theaterereignis bleibt weit unterhalb der Möglichkeiten, die sich naheliegender Weise anbieten. Man fragt sich, was uns heute der Rekurs auf den Kannibalismus der Tantaliden angeht, da neue Formen des Menschenopfers zum Problem wurden. Die Antwort kann bestenfalls lauten: Vegetarier werden! In einem Land wie Belgien, das von humanem Umgang mit Lebensmitteln wenig hält, sollte man sich von Verwandten keine Mahlzeit vorsetzen lassen, wenn man nicht gleichzeitig seine Kinder im Blick hat. Und die Frage, wie in unserem Nachbarland mit verschwundenen jungen Frauen und deren Peinigern umgegangen wird, wollen wir im Zusammenhang mit diesem beschönigenden Theaterabend lieber nicht stellen.
Ursprünglich war das Projekt sehr viel gegenwartsnäher angesiedelt: Der flämische Dichter Hugo Claus entwarf zunächst ein Textbuch, das zwar auf dem Medeastoff beruhte, jedoch in der Gegenwart und im Antwerpener Stadtteil Borgerhout spielte und die Integration von Ausländern behandelte. Da de vlaamse opera, der ursprüngliche Auftraggeber, aus Angst vor Konflikten ein Werk mit diesem Sujet nicht herausbringen wollte, verschob sich das Projekt hin zu Episoden aus der Tantaliden- und Atreus-Sage. Schon der Stammvater der Sippe – er geistert zu Beginn und am Ende durch van Vlijmens Oper – hatte Menschenopfer praktiziert, welche exemplarisch geächtet wurden: Tantalus, eines der Kinder des Zeus, schlachtete seinen Sohn Pelops (nach dem der Peloponnes benannt ist) und setzte ihn, gut gewürzt, dem Götterkollegium vor, um die Allwissenheit der hohen Herrschaften auf die Probe zu stellen (die Verurteilung zu ewigen Durstqualen im Tartarus waren die Strafe). Auch bei den Enkeln ging es recht archaisch zu: Thyestes und Atreus ermordeten ihren Halbbruder Chrysippos und flohen nach Mykene, wo sie zunächst gemeinsam herrschten; dann aber betrog Thyestes den Bruder mit dessen Frau, wurde von Atreus zuerst vertrieben, später mitsamt seinen Kindern zurückgelockt. Und der "Fluch der Tantaliden", die Tragödie der Adriden geht in die nächste Runde.
Schon vor drei Jahrzehnten hatte Jan van Vlijmen seine zunächst an Schönbergs Zwölftontechnik geschulte Schreibweise aufgegeben und sich zunehmend einem neuen "Lyrismus" verschrieben, dem er selbst eine "italienische Färbung" zusprach. Aber so richtig klingt Italianità da doch nicht auf – es verhält sich wie mit Amsterdam, das von den Holländern gern als "Venedig des Nordens" bezeichnet wird (während umgekehrt kaum ein Italiener auf die Idee käme, Venedig als Amsterdam des Südens zu bezeichnen). Dem Remigranten Thyestes wurde – wie dem in klassisch greichischer Weise reümierenden Chor – eine auf modalen Wendungen beruhende Melodien-Lineatur zugeordnet, während die Stimme des aggressiven Atreus stark chromatisch bestimmt ist; freilich nähern sich die Partien der beiden Protagonisten, die von Dale Duesing und John Daszak überzeugend bestritten werden, zunehmend an und charakterisieren beide als Täter, die zugleich Opfer wurden. Denn Atreus opfert in einem nächtlichen Ritual drei Söhne des Bruders und serviert sie Thyestes, der sich an den Köstlichkeiten aus den Silberschüsseln überfrißt und am Wein berauscht, der mit dem Kinderblut vermischt wurde.
Gerardjan Rijnders hat bei seiner Inszenierung in schlicht abstrakter Ausstattung vor einem Lamellen-Rundhorizont und auf einer erhöhten Scheibe den antikisierenden Kurs des Werks ungebrochen beibehalten. Edle Einfalt, stille Größe. Es finden sich keinerlei Anspielungen auf neuere Historie oder gar die Gegenwart. Das Theaterereignis bleibt weit unterhalb der Möglichkeiten, die sich naheliegender Weise anbieten. Man fragt sich, was uns heute der Rekurs auf den Kannibalismus der Tantaliden angeht, da neue Formen des Menschenopfers zum Problem wurden. Die Antwort kann bestenfalls lauten: Vegetarier werden! In einem Land wie Belgien, das von humanem Umgang mit Lebensmitteln wenig hält, sollte man sich von Verwandten keine Mahlzeit vorsetzen lassen, wenn man nicht gleichzeitig seine Kinder im Blick hat. Und die Frage, wie in unserem Nachbarland mit verschwundenen jungen Frauen und deren Peinigern umgegangen wird, wollen wir im Zusammenhang mit diesem beschönigenden Theaterabend lieber nicht stellen.