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Tiefensee für Nachdenken über Länderfusionen

Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee plädiert für ein Nachdenken über Länderfusionen. "Wir werden mittelfristig ins Auge fassen müssen, über eine Länderneugliederung nicht nur bei Berlin und Brandenburg nachzudenken, sondern diese Frage auch in einem größeren Maßstab auf die Tagesordnung zu setzen", sagte der SPD-Politiker. Zunächst solle aber die Kooperation unter den Bundesländern vorangetrieben werden.

Moderation: Dieter Jepsen-Föge |
    Dieter Jepsen-Föge: Herr Tiefensee, Ihre Heimatstadt Leipzig, deren Oberbürgermeister Sie lange waren, ist der einzige Austragungsort in Ostdeutschland für die Fußball-Weltmeisterschaft. Haben Sie eigentlich Sorgen, die Gäste könnten sich nicht wie Freunde behandelt fühlen?

    Wolfgang Tiefensee: Nein. Deutschland ist ein gastfreundliches Land, die Stadt Leipzig eine gastfreundliche Stadt. Im Übrigen kann man sogar Berlin noch als neues Bundesland mit hinzuzählen. Ich bin mir sicher, dass die Gäste sich sehr wohl fühlen werden. Wir haben im letzten Jahr den Confederations Cup in Leipzig gehabt, in anderen Städten auch. Das war ein fulminantes Ereignis. Die Brasilianer haben sich wohlgefühlt in der Stadt. Eine ganze Meile - die so genannte Gottsched-Straßenmeile - ist für unsere Gäste ausgestattet worden, jeweils in den Landesfarben. beflaggt, jeweils mit der Küche ausgestattet - ob südamerikanisch oder skandinavisch oder wie auch immer. Also, ich bin mir sicher, dass Deutschland und die Städte sich von der besten Seite zeigen werden.

    Jepsen-Föge: Nun haben ja manche Länder für ihre Fans gleichsam Warnhinweise gegeben. Ist das übertrieben, oder haben Sie dafür Verständnis?

    Tiefensee: Wie überall steckt man im Detail nicht drin. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber Deutschland ist wie kein zweites Land, was die Sicherheitsvorkehrungen betrifft, vorbereitet. Und ich denke, dass wir im Großen und Ganzen eine lockere, eine friedliche Atmosphäre erleben werden. Wir wissen aber auch, dass bei Fußballereignissen jedweder Art die Hooligans auf der Matte stehen, die eigentlich keine Fußballfans sind - das zu allerletzt -, sondern die diese Plattform nutzen, um ihre Gewalttätigkeiten auszutauschen. Und hier muss die Staatsmacht mit allen Mitteln eingreifen. Und ich denke, man ist gut vorbereitet. Ich kann nur alle bitten - alle friedlichen Bürger -, dieses Ereignis zu nutzen, um Deutschland als ein gastfreundliches, weltoffenes, ausländerfreundliches Land zu präsentieren. Ich bin sicher, das wird gelingen.

    Jepsen-Föge: Herr Tiefensee, Sie sind ja nun nicht nur Bundesminister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung - das würde sicher schon einen Arbeitstag ausfüllen - , sondern auch innerhalb der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständig. Stimmt der Befund, dass sich Deutschland Ost und Deutschland West auseinander entwickeln anstatt zusammenzuwachsen - emotional und wirtschaftlich?

    Tiefensee: Vielleicht kann man die Überschrift wählen "Viel erreicht - viel zu tun". Es ist Unglaubliches in den letzten Jahren geschafft worden. Vielleicht kann man plakativ sagen: Sieben von zehn Politikfeldern sind im Osten unseres Landes so entwickelt, dass man sehr zufrieden sein kann, dass wir uns durchaus messen können mit Westeuropa. Ich zähle auf die Infrastruktur, die Umweltbedingungen, die Schulen, die saniert sind, die Pflegeheime. Oder denken Sie an die Kultureinrichtungen oder an die Möglichkeit, als Bürger Vereine und Organisationen zu gründen oder zu reisen und dergleichen mehr. Vieles, vieles ließe sich aufzählen. Aber in drei wesentlichen Politikfeldern sind wir noch nicht dort, wo wir sein wollen. Das erste ist, es gibt keinen selbsttragenden Aufschwung. Immer noch hängen wir am Tropf, die Wirtschaft trägt sich nicht. Damit einhergeht ein weiteres Problem: Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Wir haben ein weiteres Problem, das in der Demografie begründet ist: Wanderungsbewegungen in einer Vielzahl von Gebieten in Ostdeutschland, einige Städte und Regionen sind ausgenommen. Und wir haben auch eine Umkehr des Lebensbaums, also die Bevölkerung wird älter. Und schließlich haben wir natürlich noch mit der Gebäudesubstanz zu tun. Immer noch sind die Finanzen der Kommunen - im Osten besonders - nicht in Ordnung, so dass die Belastungen hier besonders hoch sind.

    Also eine Entwicklung, die sehr, sehr viele positive Anzeichen hat, aber trotzdem noch nicht dort ist, wo sie am Ende sein muss. Und auch, was die Wirtschaft speziell anbetrifft, stellen wir fest: Der industrielle Sektor entwickelt sich hervorragend, die Steigerungsraten sind größer als die in den alten Bundesländern. Und auf der anderen Seite macht uns die Bauwirtschaft nach wie vor Sorgen, die industrienahe Forschung und Entwicklung ist nicht genügend ausgebildet. Sie merken also: Es gibt kein Schwarz-Weiß oder ein ganz positives oder ganz negatives Bild, sondern es gibt immer ein Sowohl-als-auch. Und deshalb müssen wir weiter die Ärmel aufkrempeln.

    Jepsen-Föge: Ich nehme das mal auf: Viel erreicht - aber noch viel zu tun. Stimmt die allgemeine Beschreibung, die Helmut Schmidt einmal so formuliert hat: "Bei der Wiedervereinigung haben wir politisch alles richtig und wirtschaftlich alles falsch gemacht"?

    Tiefensee: Nein, auch das ist wieder zu holzschnittartig und zu plakativ ...

    Jepsen-Föge: ... aber es trifft einen wichtigen Kern, oder?

    Tiefensee: Es gibt einige Themen, die man anders hätte angehen und lösen können. Aber da gilt natürlich auch der Befund: Wenn wir eine zweite Einigung Deutschlands machen, dann machen wir das oder jenes besser. Das ist eine theoretische Debatte. Die Entscheidungen sind aus der jeweiligen Situation heraus gefällt worden. Es gibt nicht nur "die" wirtschaftliche Entscheidung oder wirtschaftspolitische Entscheidung, und nicht nur "die" politische an sich, sondern das sind immer Gemengelagen. Und ich erinnere mal an die Frage der Umtauschkurse oder die Frage: Hätte es eine Konföderation oder eine tatsächliche Einigung geben sollen? - das sind alles Fragen, die jetzt ...

    Jepsen-Föge: ... ein Niedrigsteuergebiet ...

    Tiefensee: ... ein Niedrigsteuergebiet - Stichwort: Hätte das die EU überhaupt zugelassen? Oder wie sieht es aus mit Übergangsregelungen, wie ist das mit der Festlegung "Rückgabe vor Entschädigung", die uns Anfang der 90er Jahre lange beschäftigt hat? Alles das sind jetzt theoretische Diskussionen, wichtig für die Geschichtsschreibung, vielleicht auch wichtig für andere Einigungsprozesse auf der Welt. Aber wir müssen jetzt mit der gegebenen Situation umgehen, und da hilft einerseits ein ganz nüchterner Blick, der besagt: Wir werden erhebliche Anstrengungen brauchen, auch erhebliche Finanztransfers von West nach Ost in der Zukunft, um einen selbsttragenden Aufschwung, eine selbsttragende Wirtschaft hinzubekommen. Die Alternative wäre, jetzt den Hahn zuzudrehen, aber dann auf die Dauer mit Sozialleistungen konfrontiert zu werden, die auch erhebliche Summen in der Zukunft verlangen werden. Das kann nicht das Ziel sein. Was wir brauchen, sind neue Bundesländer, die sich selbst helfen, die sich selbst tragen, wo die Bürger selbst für ihr Schicksal sorgen können.

    Jepsen-Föge: Was bedeutet für Sie der Auftrag des Grundgesetzes, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen?

    Tiefensee: Das heißt nicht, dass Hamburg aussehen muss wie Dresden oder Chemnitz sich wie Düsseldorf entwickeln muss, sondern das heißt, dass wir in allen Landesteilen mit den jeweiligen Spezifika in Nord, in Süd, in West und in Ost die gleichen Startbedingungen brauchen, also einen fairen Wettbewerb, einen solidarischen Wettbewerb, um die Herausforderung in Deutschland insgesamt anzugehen. Also, die Region Berlin-Brandenburg muss so aufgestellt sein, dass sie in einem fairen Wettbewerb und in Solidarität mit den anderen Bundesländern gewappnet ist, um bei Fragen der Forschung und Entwicklung, der Bildung oder der neuen Technologien wie Biotechnologie oder IT oder Life sciences und dergleichen mehr Arbeitsplätze zu generieren und Wirtschaftskraft zu entfalten, damit diese Region sich selbst trägt und ausstrahlt. Alles das, was die gravierenden Unterschiede zementiert, wäre letztlich für Deutschland insgesamt falsch. Und deshalb appelliere ich immer an die Ministerpräsidenten der alten Bundesländer: Eine Entwicklung in den neuen Bundesländern hilft auf dem Umweg den alten Bundesländern, weil sie Belastungen abbaut, die auch die alten sonst dauerhaft tragen müssten.

    Jepsen-Föge: Aber damit auch die ostdeutschen Bundesländer - die finanziell schwächeren Bundesländer - wettbewerbsfähig sein können, wäre es da nicht zwingend, auch einem Auftrag oder einer Möglichkeit des Grundgesetzes zu folgen, nämlich das Bundesgebiet neu zu gliedern, um etwa gleich starke, auch gleich wirtschaftlich starke Länder zu ermöglichen? Denn all das, was Sie als Ziel formuliert haben, ist doch im Grunde - das wissen wir - nicht möglich mit der jetzigen Struktur von 16 Bundesländern, fünf ostdeutschen Bundesländern.

    Tiefensee: Ich begrüße sehr die Diskussion, die sich mit der Frage beschäftigt, ob sich unsere Verwaltungsstrukturen und damit die Ländergrenzen als Vorteil herausstellen oder eher eine Belastung darstellen in der jetzigen Form. Diese Diskussion muss geführt werden, es ist nicht die Diskussion über lokale Identitäten. Der Lausitzer bleibt Lausitzer, und der Oberbayer bleibt Oberbayer ...

    Jepsen-Föge: Das kann er auch in einem größeren Länderverbund.

    Tiefensee: Es geht darum, wie wir Verwaltung organisieren. Deshalb begrüße ich diese Diskussion prinzipiell und wir werden mittelfristig ins Auge fassen müssen, über eine Länderneugliederung nicht nur bei Berlin und Brandenburg nachzudenken, sondern diese Frage auch in einem größeren Maßstab auf die Tagesordnung zu setzen...

    Jepsen-Föge: Müssen wir nicht mehr, als nur nachdenken? Nachdenken tun wir schon lange.

    Tiefensee: Aber in dem Moment, wo sich diese Frage vor die tagesaktuellen Entscheidungen schiebt, also wo man sagt, ich will keine Länderneugliederung, und aus diesem Grunde beschäftige ich mich auch nicht mit der Kooperation von Verwaltungen, in dem Moment ist diese Diskussion schädlich. Wir müssen also beides tun. Momentan steht auf der Tagesordnung, aktuell und sofort zu vollziehen, dass in den neuen Bundesländern, aber auch in den alten, die Kooperation zwischen den Bundesländern stärker werden muss. Da gibt es Behörden, die man zusammenlegen kann. Da können Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen besser miteinander zusammenarbeiten und so Ressourcen sparen. Wenn das getan wird, ist das ein erster Schritt in der Diskussion oder auf dem Wege hin zu der nächsten Frage: Können wir uns die Verwaltungseinheiten, so wie sie jetzt bestehen, im Sinne der Ländergrenzen leisten?

    Jepsen-Föge: Herr Tiefensee, der Solidarpakt II, der bis 2019 gilt, sichert Ostdeutschland aus dem Bundeshaushalt und dem Länderfinanzausgleich insgesamt 156 Milliarden Euro für den Aufbau Ost zu. Nun wird Jahr für Jahr festgestellt, dass diese Mittel nicht so wie vereinbart eingesetzt werden, sondern zum Beispiel zum Stopfen von Haushaltslöchern, um die Verwaltung zu bezahlen, aber eben nicht für die notwendigen Investitionen. Heißt das, dass Sie auch da im Grunde nur tatenlos zusehen müssen, auch das immer wieder thematisieren, aber eigentlich nichts tun können. Müssen wir das so hinnehmen?

    Tiefensee: Der Solidarpakt II mit seinen zwei Körben, so heißt das technisch, ist der Grundpfeiler für die Entwicklung des Ostens. Vielleicht ist der Begriff Aufbau Ost mittlerweile gar nicht mehr der richtige. Es geht um einen Aufschwung, um einen weiteren Aufbruch im Osten, denn vieles ist ja schon aufgebaut. Und dennoch - ich habe versucht, das vorhin bereits anklingen zu lassen - sind diese Finanztransfers nötig, um eine selbsttragende Wirtschaft im Laufe dieser Periode, also in 30 Jahren nach der friedlichen Revolution zu schaffen. Die aktuelle Diskussion dreht sich um den so genannten Korb 1, die 105 Milliarden Euro bis 2019, die dazu dienen sollen, die Infrastrukturlücke zu beseitigen und die kommunale, die finanzielle Schieflage zu beseitigen, die besteht.

    Jepsen-Föge: Besteht tatsächlich noch eine Infrastrukturlücke? Wer durch ostdeutsche Landschaften, Städte und Gemeinden fährt, der stellt ja fest, dass die Straßen in einem sehr guten Zustand sind, dass die Wege in einem sehr guten Zustand sind, deutlich besser sogar als in den alten Bundesländern. Wer über die Autobahn fährt, der wird merken, dass er in Westdeutschland im Stau steht, aber nicht in Ostdeutschland, weil dort die Straßen und die Infrastruktur eigentlich gut sind. Kann man wirklich von einer Infrastrukturlücke noch sprechen?

    Tiefensee: Die Infrastrukturlücke ist seriös berechnet worden zu Beginn der Solidarpakt-II-Verhandlung und sie lassen sich, fernab vom subjektiven Eindruck, von einem Infrastrukturkoeffizienten der Europäischen Union messen. Ich warne also davor, die Subjektivität zu weit zu treiben. Und hier besteht noch erheblicher Nachholbedarf. Aber: Viel erreicht, viel geschafft und noch viel zu tun. Wir haben natürlich, auch optisch sichtbar, eine Menge zugelegt. Diese 105 Milliarden Euro sollen also letztlich dazu beitragen, dass der wirtschaftliche Aufschwung im Osten Deutschlands ab dem Jahre 2019 alleine ohne spezielle Finanztransfers gelingt, außerhalb der ohnehin üblichen Länderausgleiche. Jetzt haben wir eine Fehlverwendungsdebatte. Und auch hier plädiere ich dafür, genauer hinzuschauen. Es gibt eine Verwendung von Geldern, die nicht explizit auf die Definition zutrifft, wo man beispielsweise Kredite aufgenommen hat, um Infrastrukturprojekte zu realisieren, zeitlich nach vorne zu ziehen. Das dient dem Aufschwung Ost, das dient der langfristigen Stärkung der Wirtschaftskraft und ist deshalb zwar definitionsgemäß nicht hundertprozentig auf der Linie, aber dient dem langfristigen Ziel. Was nicht akzeptabel ist, das ist die Bedienung von laufenden Kosten beziehungsweise von Krediten, die aufgenommen worden sind, um laufende Kosten zu decken ...

    Jepsen-Föge: Auch für einen großen Personalbestand?

    Tiefensee: Für einen zu großen Personalbestand. Und deshalb ist Folgendes zu sagen: Wir müssen dem Osten, den neuen Bundesländern zugute halten, dass sie in einer extrem schwierigen Finanzsituation sind, in einer extrem schwierigen Arbeitsmarktsituation. Das muss man bedenken. Zum zweiten: Wir haben diese Infrastrukturlücke auch im letzten Jahr wieder um 7,5 Milliarden abgebaut. Die Länder haben erhebliche Anstrengungen dafür unternommen. Und sie müssen zum Dritten dafür sorgen, auch angesichts der Situation der alten Bundesländer, dass Personal abgebaut wird, dass die Verwaltungen schlanker werden, dass wir auch Sachkosten einsparen und dass die Kredite, die für die laufenden Kosten aufgenommen worden sind, nicht aus den Solidarpakt-II-Mitteln bedient werden. Und wir haben einige Bundesländer, die auf sehr, sehr gutem Wege sind. Ich nenne mal Mecklenburg-Vorpommern, ich nenne Brandenburg, Sachsen ohnehin. Das sind Länder, die jetzt Schritt für Schritt vorankommen. Der Kollege Bullerjahn in Sachsen-Anhalt ist auf diesen Kurs eingeschwenkt und wird ab dem Jahre 2006, also ab jetzt, auch deutlich diese Fehlverwendung zurückfahren. Und so bin ich zuversichtlich, wenn wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen, dass dieser Pfad der Tugend jetzt eingeschlagen wird, dass über kurz oder lang diese Fehlverwendungsdebatte aufhört.

    Jepsen-Föge: Und wenn der Pfad der Tugend nicht eingeschlagen wird? Der Solidarpakt sieht ja keine Sanktionsmöglichkeiten vor. Es kann höchstens sein, - und die Frage: Sehen Sie das kommen? - dass Bundesländer, die dann in einen Haushaltsnotstand geraten, unter Bundesverwaltung gestellt werden.

    Tiefensee: Sanktionen sind nicht das probate, das sinnvolle Mittel. Denn in der Ministerpräsidentenkonferenz Ost habe ich ein großes Verständnis dafür erkennen können, und zwar bei allen Ministerpräsidenten, dass dieser Teil der Fehlverwendung, nämlich der Verwendung für die laufenden Kosten, dass dieser Teil abgebaut wird. Die Diskussion ist momentan im Gange, wie können wir in Forschung, wie können wir in Bildung, wie können wir in Innovationen investieren in den neuen Bundesländern, damit sie den Anschluss bekommen an Westeuropa? Da ist gerade bei der industrienahen Forschung noch eine Menge zu tun. Und ich denke, diese Diskussion wird im Lauf der nächsten Monate zu führen sein. Dann übrigens steht der Bericht der neuen Bundesländer an, wie sie das Geld verwendet haben. Und dann wollen wir noch mal genau hinschauen und uns Gedanken machen, wie wir das in der Zukunft regeln. Die Geldgeber quer durch Deutschland haben ein Recht darauf, dass das Geld optimal eingesetzt wird. Das ist in allen neuen Bundesländern erkannt und Konsens: Jetzt müssen wir nur noch den Weg ganz konsequent dort hin gehen.

    Jepsen-Föge: 2019 läuft der Solidarpakt aus. Das ist noch eine lange Zeit. Sie haben gesagt, bis dahin müsse er auch laufen. Noch mal nachgefragt: Selbst, wenn man feststellt, was ja Institute tun, die sagen, das ist eigentlich eine falsche Politik, hier wird eine Subventionspolitik betrieben, die sogar dafür verantwortlich ist, dass die Arbeitslosigkeit noch immer so hoch ist, und dass die Kluft zwischen Ost und West sogar auseinander geht - etwa das Kieler Weltwirtschaftsinstitut sagt das in einer Analyse - muss man dann nicht doch noch einmal diese Förderpolitik und den Solidarpakt II überprüfen, ob es wirklich vernünftig ist, so weiter zu verfahren?

    Tiefensee: Wir haben über die 156 Milliarden Euro bis zum Jahr 2019 gesprochen. Was weithin unbekannt ist, dass wir von einem sehr hohen Niveau, etwa 10 Milliarden Euro pro anno, ab dem Jahre 2009 in ganz deutlichen Schritten zurückfahren, etwa 700 Millionen Euro weniger pro Jahr. Das heißt, der Solidarpakt II läuft aus, und zwar in ganz deutlichen 700/800-Millionen-Schritten. Die neuen Bundesländer sind, selbst mit diesem Geld, mit dieser finanziellen Unterstützung, gehalten, die großen Probleme zu schultern und zu lösen. Was sind das? Erstens: Der Solidarpakt II geht zurück. Zweitens: Die Gelder der Europäischen Union fließen nicht mehr so üppig. Drittens: Wir fallen mit einigen Regionen aus dem so genannten Ziel-1-Gebiet der Europäischen Union heraus. Die Beihilfen sind nicht mehr so stark, die Förderungen nicht mehr so quotal hoch. Viertens: Wir haben es mit demografischen Prozessen zu tun, mit einer Bevölkerungswanderung, die im Länderfinanzausgleich innerhalb Deutschlands dazu führt, dass weniger Geld in die Kassen der neuen Bundesländer kommt. Und schließlich, weniger Einwohner heißt weniger Einkommensteuer. Auch das spielt eine Rolle. Und alles das zusammen genommen zwingt die neuen Bundesländer dazu, jetzt ganz schnell den Weg zu beschreiten, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, die Arbeitslosigkeit abzubauen und dergleichen mehr. Das benötigt aber dieses Geld. Und aus diesem Grund sehe ich entgegen so mancher Expertise von Instituten keinen anderen Weg, als dieses Geld einzusetzen, es zielgenau einzusetzen, nicht mit der Gießkanne zu verbreiten, sondern dort einzusetzen, wo es den optimalen Nutzen entfaltet und dann dafür zu sorgen, dass 2019, also 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, die Wachstumsregionen auf eigenen Füßen stehen können und wie Lokomotiven den ländlichen Raum hinter sich her ziehen.

    Jepsen-Föge: Auf eigenen Füßen stehen heißt, dass dann oder vorher schon der so genannte selbsttragende Aufschwung tatsächlich gelingt?

    Tiefensee: Ich befürchte, er wird nicht in allen Teilen der neuen Bundesländer greifen können, weil nicht zuletzt auch in den alten Bundesländern, oder ziehen wir den Zirkel größer, in Westeuropa nicht jedes Gebiet gleichermaßen stark ist. Aber die Disparitäten zwischen Nord und Süd und Ost und West sollten bis 2019 so ausgeglichen oder angenähert sein, dass wir auf diese erheblichen Sozialtransfers, die Stützung der Sozialkassen, die Unterstützung der Arbeitslosen verzichten können oder weitgehend verzichten können, so dass wir das im normalen Länderfinanzausgleich regeln und nicht mit den so genannten Sonderbedarfsergänzungszuweisungen, fachtechnisch gesprochen, also dem Mehr, dem Plus an Geld, das sollte 2019 geschafft sein. Und das ist ein ganz ehrgeiziges Vorhaben, wenn man bedenkt, dass kein anders EU-Land eine solche Last zu schultern hatte und wir sind dabei, das Schritt für Schritt zu schaffen.

    Jepsen-Föge: Sprechen wir über die EU. Vor zwei Jahren wurde die Europäische Union erweitert um ost- und südosteuropäische Staaten. Wie hat sich das für Ostdeutschland ausgewirkt? Mehr als Vorteil durch die direkte Nachbarschaft, durch neue Märkte, oder mehr als Nachteil durch die Konkurrenz von billigeren Arbeitskräften?

    Tiefensee: Mit den Beitrittsverhandlungen sind eine Reihe von Konditionen ausgehandelt worden, die Ostdeutschland gut tun, aber nicht nur Ostdeutschland, es gibt auch andere Grenzregionen. Wir haben beispielsweise, was die Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft, flexible und zeitlich begrenzte Übergangsregelungen gefunden, die ein schrittweises Zusammenwachsen der Arbeitsmärkte ermöglichen. Dennoch müssen diese Sorgen und Probleme offen angesprochen werden. Die Europäische Union ist manchmal im Verruf, ein weit weg stehender Schreibtisch in Brüssel zu sein und ist im Verruf, dass sie dem Mittelstand in den jeweiligen Ländern schadet, dass sie also umgekehrt gesagt keinen Mehrwert entfaltet. Wenn man die Probleme benennt - Sie haben sie angesprochen - und gleichermaßen sagt, wie die Lösung aussieht, dann kann man Ängste abbauen. Und die neuen Bundesländer, Deutschland insgesamt, Westeuropa insgesamt, werden sich nach diesen Übergangsfristen von in der Regel sieben Jahren darauf einstellen müssen, dass ein stärkerer Wettbewerb stattfindet. Der ist beispielsweise auf unseren Autobahnen bei den Speditionsunternehmen schon im Gange. Was ist die Antwort darauf?

    Wenn dann die Grenzen tatsächlich hundertprozentig fallen, dann müssen die Ungleichheiten zwischen Ost- und Südosteuropa einerseits und Westeuropa andererseits so weit behoben sein oder auf gutem Wege sein, dass der Lohn adäquat ist, dass die Standards der Arbeitssicherheit oder der sozialen Bereiche weitgehend angeglichen sind, so dass ein Wettbewerbsnachteil nicht entsteht. Da ist noch viel zu tun in dieser Richtung. Aber auf Dauer wird es nicht anders gehen, will man nicht hohe Zäune um die EU-Staaten ziehen und damit verhindern, dass tatsächlicher Wettbewerb stattfindet. Also, beides gehört zum Geschäft: Öffnung einerseits, Transparenz, Subsidiarität, Wettbewerb und andererseits der Ausgleich, die gleichen Bedingungen, die gleichen Standards, die am Ende dazu führen, dass der Wettbewerb tatsächlich unter Gleichen stattfindet.

    Jepsen-Föge: Herr Tiefensee, zum Schluss: Gibt es am Kabinettstisch in Berlin so etwas wie eine ostdeutsche Solidarität, eine Solidargemeinschaft zwischen Ihnen und der Bundeskanzlerin Angela Merkel?

    Tiefensee: Wir kommen aus den neuen Bundesländern, sie aus dem nördlichen, ich aus dem südlichen Bereich, und bringen unsere Erfahrungen, unsere Lebensläufe ein in die Diskussion, sicherlich auch in die politische Entscheidung. Der Aufschwung Ost, der wird nur gelingen, wenn auch am Kabinettstisch über diejenigen hinaus, die eine solche Vita haben, eine Solidarität besteht.

    Jepsen-Föge: Besteht die?

    Tiefensee: Und die besteht, die muss immer mal wieder auch vom Beauftragten für die neuen Bundesländer eingefordert und angemahnt werden. Das ist meine Rolle dort. Die besteht, weil es einfach nicht anders geht. Wenn ein Wirtschaftsminister nicht einen Blick für die neuen Bundesländer hat, wenn eine Ministerin, die die Forschung und die Bildung und die Hochschulen unter ihren Fittichen hat, nicht in dieser Weise mitdenkt, wenn ein Arbeitsminister sich den Problemen der verschärften Langzeitarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern nicht zuwenden würde, dann könnten wir gleich einpacken. Ich erlebe eine Solidarität am Kabinettstisch quer über die Ressorts. Ich wünschte, dass diese Solidarität nicht nachlässt in der allgemeinpolitischen Diskussion. Wir erleben einen wirtschaftlichen Aufschwung, und das sollte eigentlich eine gute Plattform sein, auch neu darüber nachzudenken, wie wir die Disparitäten ausgleichen zwischen Ost und West und sollte nicht dazu führen, dass wir die Solidarität infrage stellen, nicht dazu führen, dass wir ständig über das Fass ohne Boden reden. Mit dem Kabinett mache ich mir weniger Sorgen als mit der allgemeinen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. Ich wünschte, wir erleben eine neue Solidarität.

    Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Tiefensee.