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Tiefensee hofft auf Grundsatzentscheidung zur Bahnprivatisierung im Oktober

Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) hat Vorwürfe zurückgewiesen, die Bundesregierung verschleppe den Börsengang der Bahn. Er hoffe, dass noch in diesem Monat eine Grundsatzentscheidung fallen werde, sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Er verwies erneut darauf, dass es keine strikte Trennung geben werde zwischen dem Schienennetz der Bahn und dem Transport.

Moderation: Gerhard Irmler | 01.10.2006
    Irmler: Herr Tiefensee, bei der Bahn wird gestreikt. Die Mitarbeiter wollen eine Arbeitsplatzgarantie, unabhängig von der Privatisierungsform, dem künftigen Modell, nachdem die Bahn privatisiert werden soll. Streiken die Bahnmitarbeiter Ihrer Meinung nach zu Recht oder zu Unrecht?

    Tiefensee: Ich habe großes Verständnis für die Beschäftigten der Deutschen Bahn AG. Das sind 220.000 Menschen, die in den letzten Monaten und Jahren dazu beigetragen haben, dass die Deutsche Bahn in der Qualität, aber auch in den wirtschaftlichen Daten extrem gut zugelegt hat. Ich verstehe die Sorgen und Ängste um Arbeitsplätze, weil die Diskussion über die Strukturentscheidung der Zukunft noch nicht gefallen ist und die Beschäftigten eine Arbeitsplatzsicherheit, ein Weiterlaufen ihres Beschäftigungs-Sicherheitsvertrages bis 2010 anmahnen.

    Irmler: Sie sprachen von Arbeitsplatzsicherheit, nicht von Arbeitsplatzgarantie. Das ist ein Unterschied.

    Tiefensee: Nein, es geht den Beschäftigten vorwiegend darum, dass der Konzern nicht in Einzelteile zerlegt wird, zum Zweiten, dass ein konzerninterner Arbeitsmarkt weiter stattfindet und dass der bereits angesprochene Beschäftigungs-Sicherungsvertrag weiter läuft bis ins Jahr 2010. Das Interessante ist, dass wir mittlerweile in der Diskussion mit den Fraktionen so weit gekommen sind, dass die strikte Trennung von Netz auf der einen Seite und Betrieb des Netzes und Transport vom Tisch ist.
    Irmler: Auf das Modell sollten wir gleich nochmal zurückkommen. Warum hat es eigentlich so lange gedauert und warum dauert es so lange, bis sich die Politik für ein Privatisierungsmodell entscheidet? Liegt es daran, dass die Materie so komplex ist, oder liegt es daran, dass in Deutschland neuerdings immer alles etwas länger dauert ?

    Tiefensee: Es dauert nicht lange. Wenn Sie bedenken, dass wir Mitte der 90er Jahre mit der Bahnreform begonnen haben, dass wir als einziges europäisches Land in der Form einen offenen Markt haben - das ist in Deutschland sehr zügig umgesetzt worden. Jetzt haben wir die zweite Phase. Wir haben im Januar ein Gutachten vorgelegt, und ich weiß nicht, ob Januar bis Juni eine lange oder kurze Distanz ist. Ich finde es schon erstaunlich, dass die Koalitionsfraktionen sich darauf verständigt haben: Es wird keine strikte Trennung geben zwischen Netz und Transport, und jetzt sind wiederum nur drei, vier Monate vergangen, bis wir uns weiter verständigt haben. Ich hoffe, dass wir noch im Oktober eine Grundsatzentscheidung fällen. Das ist eine kurze Frist.
    Irmler: Ja, aber die Bahn sollte doch schon mal 2004 privatisiert werden. Dann war von 2008 die Rede. Dieser Termin ist nun auch wieder in Frage gestellt. Das ist ja doch ein längerer Zeitraum.

    Tiefensee: Zunächst, um der Klarstellung willen: Es geht um die Teilprivatisierung. Wir reden immer nur davon, dass man einen geringeren Anteil, also nicht die Mehrheitsaktien weitergibt. Doch auch das ist ein, wie Sie schon angesprochen haben, ein sehr komplexes Vorhaben. Da ist viel zu bedenken, dies ist schon eine schwierige Materie. Es lässt sich aber doch ziemlich schnell auf einen Punkt bringen: Wer stellt die Weichen, wer erstellt die Fahrpläne, wer organisiert den Ausbau der Schienen und den Transport auf der Schiene, also das Fahren der Züge, des rollenden Materials. Und jetzt entzündet sich die Debatte an einem schlichten Tatbestand: Wer ist juristischer Eigentümer des Netzes? Ich denke, das lässt sich klären.
    Irmler: Aber es gibt auch Widerstand dagegen, zum Beispiel aus den Reihen der Liberalen und auch aus den Reihen der Grünen. In der Opposition gibt es Widerstand gegen genau dieses Modell, so wie Sie es beschrieben haben. Das Argument ist, es kann ja wohl nicht angehen, dass die Bahn das Schienennetz betreibt, wirtschaftlich nutzt und ausbeutet und auf der anderen Seite damit mögliche Konkurrenten behindert.

    Tiefensee: In Deutschland ist der Markt liberalisiert, Sie finden eine Reihe von Unternehmen, 300 an der Zahl, die Verkehrsleistungen erbringen. Das heißt, der Wettbewerb funktioniert. Frage: Ist er optimal aufgestellt? Dies ist keine Angelegenheit der DB AG. Die Frage ist: Gibt es eine Instanz, die darüber wacht, dass diskriminierungsfrei ohne Benachteiligung Wettbewerber gleichermaßen wie die DB AG Zugriff auf das Netz haben - zu der Zeit, die man wünscht, zu Entgelten, die ordentlich sind, und vor allen Dingen auf einer Schiene, die qualitativ in Ordnung ist. Die Bundesnetzagentur hat ihre Arbeit am 1.1.2006, also vor wenigen Monaten aufgenommen. Sie hat diese Aufgabe vom Eisenbahnbundesamt übernommen. Und wir verzeichnen einen signifikanten Rückgang an Beschwerden von Wettbewerbern. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass der Wettbewerb funktioniert. Die Bundesnetzagentur wird also in die Lage versetzt, einen diskriminierungsfreien Zugang zu ermöglichen. Damit sind die Argumente der Opposition absolet.
    Irmler: Was spricht denn Ihrer Meinung nach gegen eine Trennung?

    Tiefensee: Gegen die Trennung spricht, dass wir es mit einem komplexen Gebilde beim Schienenverkehr zu tun haben. Es ist eben nicht so, dass Strom durch eine Leitung geführt wird oder dass ein Flugzeug auf einer Betonplatte von drei Kilometern Länge landet. Das lässt sich relativ leicht von anderen Betreibern organisieren. Lassen Sie mich ein Beispiel herausgreifen: Einen Fahrplan zu erstellen, auch den für die Wettbewerber, also die Slots zu verteilen, ist ein hoch komplexes Werk. Da muss man ein Netz mit Tausenden von Kilometern und Knoten und Bahnhöfen im Blick haben. Was ist, wenn eineinhalb Wochen vorher eine Störung eintritt, wenn vier oder fünf Stunden vorher eine Störung zu bearbeiten ist - oder gar, wenn es durch einen Personenunfall oder wie auch immer eine sofortige Reaktion geben muss? Alle Erfahrungen sagen uns, dass der Betrieb des Netzes und der Transport in einer Hand sein sollten.
    Irmler: Wie hat man sich denn, Herr Tiefensee, Ihre schöne neue Welt des Bahnwettbewerbs aus Kundensicht vorzustellen? Fahren da von den von der Bahn wirtschaftlich betriebenen Bahnhöfen verschiedene private Betreiber ab, die sich mit hübschen Hostessen und Dumpingpreisen gegenseitig Konkurrenz machen?

    Tiefensee: Wettbewerb findet zur Zeit schon statt, auch mit bunten Zügen, auch mit bunten Flyern, vielleicht auch mit bunt gekleideten Damen - das weiß ich nicht. In der Zukunft besteht folgende Aufgabe: Ab 1. Januar nächsten Jahres wird der internationale Güterverkehr liberalisiert. Jeder kann Güterzüge auf das Schienennetz des jeweiligen anderen europäischen Landes schicken. Ab 1. Januar 2010 gilt das Gleiche für den internationalen Personenverkehr. Uns geht es, mir als Verkehrsminister dieses Landes geht es darum, dass die Deutsche Bahn AG in diesem harten Wettbewerb eine gewichtige Stimme erhält, also konkurrenzfähig ist. Ich wünsche mir, dass die DB AG in anderen europäischen Ländern Marktanteile gewinnt, und nicht nur auf der Schiene, sondern in der - wie wir sagen - Transportkette, von Haus zu Haus, von Produzent zu Produzent ...
    Irmler: Dies gilt auch umgekehrt, die Franzosen zum Beispiel - die SNCF - können dann in Deutschland ...

    Tiefensee: ... so ist es. Deshalb kommt es darauf an, die Qualität der DB AG so zu gestalten, sie so stark zu machen, dass sie diesen Wettbewerb auch in Deutschland verkraftet. Völlig richtig, es ist keine Einbahnstraße. Die Beschäftigten der DB AG, die 220.000 - ich sagte es bereits -, haben dazu beigetragen, dass die Leistung so gut ist. Und dies sollte auch weiterhin so bleiben . Einen zweiten Grund haben Sie indirekt angesprochen. Wir müssen darauf achten, dass wir keine Wettbewerber auf die Schiene bekommen, die ihre Angestellten deutlich schlechter bezahlen, mit deutlich schlechteren sozialen Sicherheiten ausstatten. Das sollte in unserem Lande nicht passieren, das spricht mich auch als Sozialdemokraten an. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass Beschäftigungssicherheit besteht und vor allen Dingen, dass die Arbeitskräfte solide und ordentlich bezahlt werden. Jetzt geht es darum, auf zwei parallelen Pfaden die Voraussetzungen dafür zu schaffen: Ein Privatisierungsgesetz zu verabschieden, möglichst zeitnah und das Unternehmen kapitalmarktfähig zu machen. Die Investoren schauen nach bestimmten betriebswirtschaftlichen Daten, nach Mittelfristplanungen und nach der Solidität, oder wie man im Bankerdeutsch sagt, nach der Story des Unternehmens. Und die muss gut sein ...
    Irmler: ... auch nach der Zahl der Beschäftigten.

    Tiefensee: Die Zahl der Beschäftigten spielt eine Rolle. Da muss man sagen, dass die Beschäftigten schon wesentliche Einbußen in den letzten Jahren hinnehmen mussten. Es gab zum Teil Arbeitsplatzabbau, aber auch Lohneinschränkungen und zwar in der Form, dass man länger arbeitet, ohne die Arbeit ausgeglichen zu bekommen.
    Irmler: Herr Tiefensee, um das Thema Bahnprivatisierung - Teilprivatisierung - abzuschließen, möchte ich Ihnen noch eine Pressemitteilung der Monopolkommission vorlesen, vom 28. September, sie ist also ganz frisch.
    "Die Monopolkommission hat heute ein Sondergutachten zur geplanten Privatisierung der Deutschen Bahn veröffentlicht", steht da. "Danach wäre die Privatisierung der Deutschen Bahn AG mit Schienennetz als vertikal integriertes Unternehmen aus wettbewerbspolitischer Sicht ein schwer zu korrigierender Fehler. Dem Gutachten des unabhängigen Expertengremiums zufolge wird der Wettbewerb im Bahnsektor nachteilig beeinflusst, wenn die Deutsche Bahn AG weiterhin - als Eigentümer oder als Verwalter - über die Infrastruktur verfügen kann. Der Grund liegt in den zahlreichen Diskriminierungsmöglichkeiten." Das widerspricht diametral dem, was Sie wollen.

    Tiefensee: Es gibt drei Möglichkeiten, zu diskriminieren. Die erste ist, ich vergebe Slots, die unattraktiv sind. Vergleichbar im Rundfunk mit der Verlegung von Sendezeit zwischen zwei und drei Uhr morgens, wo nicht allzu viele zuhören. Zweitens: Das Entgelt, das ich als Nutzer der Schiene zu zahlen habe, stimmt nicht oder es wird nicht dafür verwendet, dass die Schienen in Ordnung sind. Drittens: Was nützt es mir, dass ich den Werksverkehr zur ordentlichen Zeiten organisieren kann, die Schiene oder die Weiche in mein Werk aber nicht in Ordnung ist. Darüber wacht die Bundesnetzagentur. Diese verfügt über einen Beirat, dem unterschiedliche Verkehrsminister der Länder, auch Bundestagsabgeordnete, angehören. Sie hat sich ein Instrumentarium geschaffen, sie hat ein Regelwerk, wie sie mit den Anträgen von Wettbewerbern umgeht. Und schließlich wacht die Europäische Kommission, die Wettbewerbskommission darüber. Sie muss sowohl das Verfahren genehmigen als auch die einzelnen Entscheidungen, wenn sie streitig gestellt werden, überprüfen. Es gibt also Mechanismen noch und noch. Was in der Pressemitteilung steht, geht von einem ausschließlich ordnungspolitischen Gedanken aus, der reinen Lehre, widerspricht aber der Praxis.

    Irmler: Dies bringt mich dann aber doch noch zu einer allerletzten Frage in diesem Zusammenhang. Reine Lehre war das Stichwort. Über wie viele Privatfirmen verfügt die Bahn eigentlich? Kann es angehen, dass die Bahn mit ihren ganzen Firmen teilprivatisiert wird? Muss sich das Unternehmen Deutsche Bahn eine Firma wie Schencker leisten, wenn es privatisiert wird?

    Tiefensee: Dies ist ein anderer Punkt und folgt einer anderen Philosophie. Mobilität und Logistik, diese beiden Stichworte sind ganz oben auf der Agenda, wenn es um Wirtschaftswachstum, um Wirtschaftskraft geht. Wir Verkehrsexperten nennen dies Transportketten. Früher war das so: Das Fuhrunternehmen Blaumann wartet auf dem Hof, bis ein Paket von A nach B zu befördern ist. Heute geht es darum, dass man vom Produzenten zum Teilproduzenten oder zum Kunden in der gesamten Strecke denkt. Aus diesem Grund kauft die Bahn Unternehmen dazu, die nicht unbedingt schienengebundenen Verkehr abwickeln.

    Irmler: Sie denken betriebswirtschaftlich-technokratisch. Ich argumentiere ordnungspolitisch.

    Tiefensee: Ich denke sowohl als auch, sowohl ordnungspolitisch als auch betriebs- oder volkswirtschaftlich. Wir haben es mit einem Unternehmen in privater Rechtsform zu tun und wenngleich der Aktionär heute zu 100 Prozent der Bund ist, wird sich das im Laufe der nächsten Jahre durch die Teilprivatisierung ändern. Dann bewegt sich -ordnungspolitisch gesehen - ein teilprivatisiertes, also ein in Public Private Partnership organisiertes Unternehmen, ein öffentlich-rechtliches und ein privat getragenes Unternehmen, im Wettbewerb. Das ist legitim.

    Irmler: Herr Tiefensee, wenn Sie über den Logistikkonzern Bahn sprechen, dann spürt man ihre Begeisterung, von der Sie beseelt sind. Warum gelingt es nicht, dass dieser Logistikkonzern Bahn, den es ja jetzt schon gibt, mehr Güter auf die Schiene bringt?

    Tiefensee: Zwölf Prozent des Güterverkehrs werden auf der Binnenwasserstraße abgewickelt, 16 bis 17 Prozent auf der Schiene, der Rest auf der Straße. Die Schiene ist hochkomplex, wie wir schon besprochen haben. Auf ihr sind Regionalverkehr, sind Personenfernverkehr, aber auch der Güterfernverkehr zu organisieren, in Deutschland und in der europäischen Vernetzung. Wir tun eine Menge als Bund dafür, indem wir viel Geld in den Erhalt und den Ausbau der Strecken tun, dass noch mehr Slots zur Verfügung stehen. Wir tun etwas für die so genannten Güterverkehrszentren, die die Verbindung von Schiene, Straße und Binnenwasserstraße ermöglichen sollen, damit Umstiege möglich sind. Der LKW bringt die Ware aus der Stadt zum Güterverkehrszentrum. Dort wird sie umgeladen, die weitere Strecke auf der Schiene, dann geht sie auf die Binnenwasserstraße, um im Hafen anzukommen oder bleibt auf der Schiene und dergleichen mehr. Da sind wir erheblich vorangekommen.

    Allein durch die Einführung der LKW-Maut oberhalb von 12 Tonnen ist es uns gelungen, bei den LKWs die Leerfahrten zu minimieren und die Zahl der Container auf der Schiene um nahezu zehn Prozent ansteigen zu lassen. Ein Trend spricht jedoch dagegen, dass sich dieser Modell-Split nachhaltig verändert: Die zu transportierenden Gütermengen wachsen schnell, um nicht zu sagen dramatisch, an. Das heißt, die Schiene muss Schritt halten, dass sie allein die Quote hält. Unser ehrgeiziges Ziel ist es, die Quote zu verbessern. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir einen starken Konzern, der gut organisiert ist. Und da hilft es wenig, wenn man Transport und Betrieb der Schiene auseinander reißen würde.

    Irmler: Herrn Mehdorn wird's freuen. Was machen Sie eigentlich mit dem vielen Geld, das Sie aus der LKW-Maut bekommen?

    Tiefensee: Wir bekommen im Jahr etwa drei Milliarden Euro. Davon ist der Anteil abzuziehen, den man zum Betrieb der Maut-Stellen, der onboard-units, dem Einsammeln des Geldes braucht, die so genannten Verwaltungskosten. Der verbleibende Betrag, weit oberhalb von zwei Milliarden, geht ungeschmälert in die Investition der Verkehrsträger Straße, Schiene und Binnenwasserstraße.

    Irmler: Braucht man wirklich den Transrapid, Herr Tiefensee? Sicherlich ist es technologisch das beste und schnellste Mittel, um sich am Boden von A nach B zu bewegen, aber betriebswirtschaftlich und verkehrspolitisch kann man doch erhebliche Zweifel haben.

    Tiefensee: Sie legen den Finger in die Wunde. Jede neue Technologie braucht zum Anschub eine finanzielle Unterstützung für den Durchbruch, zumal, wenn es sich um eine so komplexe Technologie handelt. Wir werden im Blick auf Lathen, auf dieses schreckliche Unglück im Emsland, die Ergebnisse auswerten, inwieweit haben sie Einfluss auf eine Kostenberechnung, auf das Projekt in München, oder gar Auswirkungen auf die Technologie insgesamt. Aber unter dem Strich kann man heute schon sagen, es wird ganz wesentlich darauf ankommen, ob man seitens der öffentlichen Hand bereit ist, die notwendigen Beträge auf den Tisch zu legen. Es handelt sich mindestens 1,85 Milliarden Euro. Und dann geht es darum, welche öffentliche Hand, Land oder Bund, zahlt wieviel dafür.

    Irmler: Nennen Sie doch mal eine Zahl, was den Bund angeht, nicht nur die Zahl, die im Haushalt steht, eine Zahl, die Sie möglicherweise bereit sind, noch auszugeben. Die Bayern wollen schließlich mehr.

    Tiefensee: Sie sind gut informiert. Zunächst haben wir eine Zahl im Haushalt, und die ist schon erheblich. 550 Millionen hat der Deutsche Bundestag bereits in der letzten Legislaturperiode zur Verfügung gestellt, also parteiübergreifend, wenn man die Initialzündung aus der CDU-FDP-Zeit nimmt. Wir haben zum zweiten eine Festlegung, dass der Bund maximal die Hälfte eines solchen Projektes bezahlen kann. Dies ist die aktuelle Beschlusslage des Bundestages. Dazwischen liegt zugegebenermaßen eine große Differenz. Das ist die Verhandlungsmasse, und wir werden uns bemühen, möglichst zügig zu einem Ergebnis zu kommen.

    Irmler: Herr Tiefensee, Sie stammen aus Gera und sind auch für den Aufbau Ost zuständig. Gehört, Ihrer Meinung nach, das Versprechen von Helmut Kohl von den blühenden Landschaften in den Bereich der politischen Lüge, über die in letzter Zeit ja so viel diskutiert wird, am Beispiel des ungarischen Ministerpräsidenten? Oder war Helmut Kohl vielleicht nur zu optimistisch? Bei der Vorstellung Ihres Berichtes zur Deutschen Einheit sprachen Sie davon, dass von jetzt ab gesehen Ostdeutschland in 15 bis 20 Jahren mit dem Westen gleichziehen kann, sofern das jetzige Wachstum anhält oder sich verstetigt. Wir sprechen insgesamt also von einem Zeitraum von 30 bis 35 Jahren.

    Tiefensee: Es ist das fahrlässige Wecken von Erwartungen gewesen, das sich an den Begriff blühende Landschaften bindet. Falsche geweckte Erwartungen, zu hoch gesteckte, nicht einhaltbare Ziele produzieren bei den Menschen, die sie hören und sie mit der Realität vergleichen, Unmut und Zorn, Verbitterung und Abwendung. Die blühenden Landschaften sind in Gänze nicht in den Jahren '92, '95 und '98 gekommen. Das kann jeder sehen in den neuen Bundesländern. Aber es gibt viel Blühendes, viel Gelungenes in den letzten 15 Jahren. Aber: die Arbeitslosigkeit ist zu hoch, die Sozialtransfers sind notwendig und demotivieren die Menschen, die das Geld lieber mit ihren Händen und mit ihrem Kopf erarbeiten wollen. Wir haben eine desolate Finanzsituation. Diese wird schwieriger durch das Abschmelzen der Gelder. Es fehlt uns in weiten Teilen eine Forschungs- und Entwicklungsstruktur in den mittelständischen Unternehmen, die tragfähig ist.

    Also summa summarum: Die Wirtschaft trägt sich nicht selbst. Sie ist nach wie vor auf Alimente angewiesen. Der Solidarpakt II bildet eine verlässliche Grundlage mit seinen 156 Milliarden, aber wir brauchen ein Wirtschaftswachstum in Deutschland insgesamt. An dem wird auch Ostdeutschland partizipieren. Umgekehrt: Wenn wir es nicht zu einer gesamtdeutschen Aufgabe machen - Nord, Ost, Süd und West -, die neuen Bundesländer heranzuführen, dann wird man auf Dauer auf die Sozialtransfers nicht verzichten können. Das wird das Wirtschaftswachstum Deutschlands und damit die Lebensqualität der Menschen in allen Himmelsrichtungen nachhaltig negativ beeinflussen.

    Ich will es positiv wenden: Wir brauchen eine große Solidarität nach wie vor, um die Folgen des Zweiten Weltkrieges und der darauf folgenden Zeit bis 1989 zu kompensieren. Dafür gibt es auf der anderen Seite der Waagschale wunderbare Menschen, die hinzugekommen sind, wunderbare Landschaften, es gibt ein know-how, eine Qualifikation, eine Motivation, die wir einbringen. Und das sollte es möglich machen, dass dieses Land die notwendige Anstrengung insgesamt bewältigt. Und dann könnte es in 15, 20 Jahren - so weit würde ich den Zeitraum schon stecken - möglich sein, dass wir mindestens in weiten Teilen der Neuen Bundesländer eine selbsttragende Wirtschaft haben.

    Irmler: Das war jetzt das Wort zum 3. Oktober. Als eine Ihrer Lieblingsideen im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost gilt die Förderung von so genannten Wirtschaftskernen. Das klingt wie Eckpunkte, finden Sie nicht? Also, Wachstumskerne sind, wie man das Neudeutsch auch noch formulieren könnte, so genannte Boomzentren. Was passiert mit dem flachen Land, mit dem großen Rest? Macht da der Letzte irgendwann mal das Licht aus?

    Tiefensee: Nein, eindeutig nein. Es geht um eine optimale Balance. Wenn wir das Geld optimal einsetzen wollen, aus jedem Euro, der von Europa kommt, aus dem Länderfinanzausgleich oder dem Solidarpakt, wenn wir da das Optimale herausholen wollen, dann müssen wir uns konzentrieren. Konzentrieren heißt nicht entweder oder, sondern heißt, eine kluge Balance halten. Was ist ein Wachstumskern? Ein Wachstumskern kann durchaus lokal, aber auch regional sein. Firmen sorgen in einer Kleinstadt dafür, dass in einem Zirkelschlag von 30, 40, 50 Kilometern der ländliche Raum Arbeitsplätze findet. Die nächste Stufe sind die Mittelzentren, die Städte mit 100.000, 200.000 Einwohnern. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Metropolregionen, Großstädte, die sogar europäisch wahrgenommen werden - Berlin Brandenburg oder die sächsischen, thüringischen Städte, die sich in einer Metropolregion zusammengeschlossen haben.

    Die Grundphilosophie ist folgende: Wir müssen die Lokomotiven, die sich jetzt schon abzeichnen, unter Dampf halten, damit sie die Waggons ziehen, die noch nicht ganz so kräftig sind. Es hat wenig Sinn, in der Uckermark das Ruhrgebiet aufbauen zu wollen. Das ginge, man bräuchte nur unendlich viel Geld, und das haben wir nicht. Also noch einmal: Es geht um eine Verantwortungsgemeinschaft, auf der einen Seite die Lokomotive, die Wachstumskerne in den Kleinstädten, in Mittel- und Großstädten. Die stellen die Arbeitsplätze zur Verfügung, die Berufsschulen, die Hochschulen, die Forschungseinrichtungen oder Kultureinrichtungen.

    Daneben haben wir den ländlichen Raum, der seine Lebensqualität braucht, indem es dort den Arzt gibt vor Ort, eine Grundschule, die auch noch funktionieren muss, wenn weniger Kinder da sind, das rollende Rathaus, die Bibliothek, die vorbeikommt. So wird es sein müssen, wollen wir das Geld nicht an alle gleichmäßig verteilen, um dann nach 15 Jahren festzustellen, die Starken sind zu Schwachen geworden. Das kann nicht der Weg sein.

    Irmler: Die Gießkanne lassen Sie jetzt also auf dem Balkon?

    Tiefensee: Die Gießkanne gehört in den Schuppen. Wir haben Anfang der 90er Jahre breiter gefördert. Das machte Sinn, zunächst einmal die Lebensqualität für die Menschen insgesamt in den neuen Bundesländern anzuheben. Wer die Bilder von 1990 noch vor Augen hat, der weiß, wovon ich spreche. Damals hatten wir Wohnungsnot. Man musste umfangreiche Formulare ausfüllen, um einen Wohnraum zweckentfremdet für ein Wirtschaftsunternehmen zu gebrauchen. Erinnern sich die Menschen noch daran? Mit Blick auf die Gebäude, auf die Fassaden, auf die Flüsse, auf die Luft hatten wir katastrophale Verhältnisse. Dies galt es in einer Gemeinschaftsanstrengung oder einer solidarischen Anstrengung in der großen Fläche zunächst einmal zu beheben. Jetzt, nach 15 Jahren, können wir anhand bestimmter Parameter ablesen, wo sich Wachstumskerne herausgebildet haben, Bruttoinlandsprodukt, Kaufkraft oder die Pendlerbewegungen. Wir wissen, wo die Menschen Arbeit suchen - das gilt es jetzt mit den Ländern gemeinsam, nicht vom grünen Tisch aus, zu verstärken. Wir wollen das, was gewachsen ist, verstärken und nicht das Gras aus dem Boden ziehen.
    Die Verhandlungen über die Beschäftigungssicherung bei der Bahn sind gescheitert.
    Netz und Transport sollen bei der Bahn getrennt werden, sagen Kritiker. (AP)
    Die Magnetschwebebahn Transrapid auf der Versuchsstrecke in Lathen.
    Die Magnetschwebebahn Transrapid auf der Versuchsstrecke in Lathen. (AP)