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Tiefer Schock und schleichende Verdrängung - Belgien und die Kindermorde

Manchmal sieht man sie noch. Vor allem in den kleinen Städten der Wallonie im Süden Belgiens hängen hier und da noch die Fotos von zwei kleinen Mädchen an den Fenstern. Die Bilder sind über die Jahre ausgeblichen, aber die Namen haben sich eingegraben ins kollektive Gedächtnis des Landes: Julie und Melissa. Zwei Achtjährige, die 1995 spurlos verschwanden. Aus Verzweiflung über die Untätigkeit von Justiz und Polizei wandten sich die Väter der beiden damals ans Fernsehen:

Von Alois Berger | 27.02.2004
    Wir würden gern wissen, was los ist, ob die Ermittlungen voran gehen. Denn wir wissen überhaupt nichts. Wir müssen informiert werden! Das sind doch unsere Töchter, die gehören nicht dem Staat oder dem Untersuchungsrichter.

    Ein Jahr nach dieser Fernsehsendung wurden die Leichen von Julie und Melissa auf einem Grundstück in Charleroi ausgegraben. Ein Grundstück, das dem damals 39-jährigen Gelegenheitsarbeiter Marc Dutroux gehörte.

    Marc Dutroux: Am kommenden Montag, mehr als siebeneinhalb Jahre später, beginnt im südbelgischen Arlon der Prozess gegen ihn und drei weitere Angeklagte: Vor den Geschworenen müssen sich außer Dutroux auch seine Ex-Ehefrau Michèle Martin verantworten, sein Handlanger Michel Lelièvre und ein Bekannter, der zwielichtige Michel Nihoul.
    Siebeneinhalb Jahre – so lange schon steht der Name Dutroux für eine alptraumhafte Affäre. Selbst das skandalgewohnte Belgien hat lange gebraucht , um sich einigermaßen von diesem Schock zu erholen. Verarbeitet ist die Affäre Dutroux noch lange nicht. Maitre Victor Hissel, der über viele Jahre Anwalt war von mehreren der betroffenen Eltern, drückt es so aus:

    Es gibt zu viele Dinge, die wir nicht wissen - und da geht dann auch gleich die ganze Diskussion wieder los. Liegt es daran, dass man uns Informationen vorenthält oder sie versteckt? Oder weil alles ein Hirngespinst ist und man auch bei gründlichem Suchen nicht alles finden und erklären kann?

    Vieles wird wohl auch nach dem Urteil nicht geklärt sein. Schockierend ist schon das, was man inzwischen so gut wie sicher weiß:

    Ein Mann und seine Kumpane entführen mindestens sechs Mädchen, schließen sie in einem eigens dafür ausgebauten Keller ein, die Mädchen werden missbraucht, zwei werden ermordet, zwei sterben wahrscheinlich an Hunger und Kälte. Die Polizei reagiert viel zu spät auf das Verschwinden, arbeitet in ihren drei unterschiedlichen Dienstzweigen eher gegen- als miteinander. Entscheidenden Hinweisen auf den mehrfach vorbestraften Kinderschänder Dutroux gehen die Ermittler nicht nach. Die zuständigen Untersuchungsrichter zeigen wenig Engagement bei der Suche nach den Mädchen. Justiz und Polizei beschimpfen die Eltern sogar, sie seien lästig, behinderten die Ermittlungen mit ihren dauernden Fragen und sollten endlich einsehen, dass die Kinder nicht zurückkämen.

    Erst als im Sommer 1996 die vierzehnjährige Laetitia Delhez vor dem Schwimmbad im südbelgischen Bertrix verschwindet, wird alles anders. Bertrix liegt im Gerichtsbezirk Neufchateau. Dort arbeiten ein Untersuchungsrichter und ein Staatsanwalt, die das Verschwinden des Mädchens ernst nehmen. Mit allen verfügbaren Mitteln lassen sie nach der Vierzehnjährigen suchen und stoßen innerhalb von drei Tagen auf Marc Dutroux und seine Kumpane. Sie befreien Laetitia und die drei Monate zuvor entführte zwölfjährige Sabine Dardenne:

    Ich darf Ihnen mit großer Freude mitteilen, dass Laetitia und Sabine gesund und in Sicherheit sind. Das war eine Überraschung. Umso größer ist unsere Freude jetzt.

    Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte und Staatsanwalt Pierre Bourlet aus dem Ardennenstädtchen Neufchâteau werden als Helden gefeiert.. Dabei haben sie nur getan, was man von Untersuchungsrichtern und Staatsanwälten eigentlich erwartet: Sie haben energisch ermittelt und sie haben die Eltern ernst genommen. Aber genau das scheint in Belgien nicht mehr üblich gewesen zu sein. Plötzlich erinnerten sich viele an all die Kindergesichter auf den handkopierten Zetteln, die immer wieder an Telefonmasten und Bushäuschen klebten: "Unsere Tochter – vermisst." - In keinem Land Europas verschwanden in den achtziger und neunziger Jahren mehr Kinder als in Belgien.

    Als in den folgenden Tagen hinter den Häusern von Dutroux nacheinander die Leichen von Julie und Melissa, von An und Eefje ausgegraben werden, da kommen auch all die Pannen und Ermittlungsfehler ans Licht, die sich Polizei und Justiz geleistet hatten. In den Polizeiakten finden sich Hinweise darauf, dass Dutroux in seinem Keller Käfige gebaut und im Milieu Geld für die Entführung von kleinen Mädchen geboten hatte. Hinweise, die schon kurz nach der ersten Entführung eingegangen waren.

    Bald glaubt kaum noch jemand in Belgien, dass die Pannen allein mit Schlamperei und Unfähigkeit zu erklären sind. Dutroux hatte offensichtlich beste Kontakte zur Polizei von Charleroi. Stand er vielleicht auch in Verbindung mit einflussreichen, hochgestellten Persönlichkeiten, die ihm verpflichtet waren, oder hat er sie erpresst? Fragen, die sich die Belgier seit über sieben Jahren stellen. Nur die wenigsten glauben an die These vom Einzeltäter Marc Dutroux.

    Auch Paul Marchal, der Vater der ermordeten An, ist nicht überzeugt:

    Dutroux ist offensichtlich an Kindern allen Alters interessiert – oder er hat Kunden, von denen einer Achtjährige will, der andere Siebzehnjährige, der dritte Vierzehnjährige? - Noch eine Frage: Warum musste Dutroux die Kinder immer wieder mit Rohypnol oder Valdol betäuben, damit sie sich nicht mehr erinnern konnten? Er hielt sie doch gefangen und hatte nicht vor, sie jemals wieder frei zu lassen. Er muss sie deshalb betäuben, damit sie nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Also, meine ich, gibt es doch einige Hinweise, dass das Netzwerk größer war als das, was jetzt angeklagt ist.

    Viel Hoffnung verband sich im Spätsommer 1996 mit Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte und Staatsanwalt Pierre Bourlet. Er werde die ganze Affäre aufdecken und auch die Hintermänner von Dutroux zur Rechenschaft ziehen, versprach der Staatsanwalt, und dann sagte er den inzwischen berühmten Satz: "Si on me laisse”, wenn man mich lässt.

    Untersuchungsrichter Connerotte richtete eine Telefonnummer ein, unter der Bürger anonym Hinweise geben konnten, auf Mißbrauch und Gewalt gegen Kinder und auf Leute, die Kinderschänder deckten. Doch als der Untersuchungsrichter bald darauf an einem Spaghetti-Essen mit den überlebenden zwei Mädchen teilnahm, wurde ihm der Fall Dutroux entzogen. Begründung: Richter Connerotte sei nicht mehr unparteiisch...

    Vor dem Justizpalast, wo das Oberste Gericht die Abberufung des Untersuchungsrichters vom Fall Dutroux bestätigt hatte, schrieen sich die Menschen ihre Wut aus dem Leib. Überall im Land streikten Arbeiter. In Lüttich spritzten Feuerwehrmänner das Gerichtsgebäude symbolisch sauber. Am 20. Oktober 1996 erlebte Belgien die größte Demonstration seit Kriegsende: 320.000 Menschen zogen durch Brüssel. Der Weiße Marsch wurde zu einer Demonstration der Wut und der Enttäuschung über Politik, Justiz und Polizei in Belgien.

    Anfangs glaubte die Regierung aus Christdemokraten und Sozialisten, sie könne die Affäre wie üblich aussitzen. Doch die Regierung sah sich bald mit dem Rücken zur Wand, sie versprach Reformen und Aufklärung

    Das halbe Land saß Abend für Abend vor dem Fernseher und verfolgte bis tief in die Nacht die live übertragenen Befragungen der parlamentarischen Dutroux-Untersuchungskommission. Doch was die Fernsehzuschauer erlebten, machte die Wut noch größer: Arroganz und Unfähigkeit vieler Ermittler und ihrer Vorgesetzten, ihre Dreistigkeit, Gefühllosigkeit, Gedächtnisschwäche. Immer wieder Ausreden. Und manchmal auch Lügen. Als eine Untersuchungsrichterin und ein Polizist stur auf ihren sich widersprechenden Aussagen beharrten, blieb dem Ausschussvorsitzenden Marc Verwilghen die Luft weg:

    Ich bin verstört. Einer oder eine von Ihnen beiden sagt nicht die Wahrheit. Sind Sie sich im Klaren darüber, was Sie tun? Sie müssen jetzt nicht antworten, das richtet sich an Ihre Seele. Ich hoffe, wir treffen uns eines Tages wieder und Sie können mir dann in die Augen schauen.

    Wer in dieser Anhörung gelogen hat, ist bis heute nicht geklärt. Es wird auch wahrscheinlich nie mehr geklärt werden. Denn in Neufchateau kümmerte sich nun ein neuer Untersuchungsrichter um die Akte Dutroux. Für Jacques Langlois ist es sein erster großer Fall. Langlois ermittelt ganz anders als sein Vorgänger Connerotte. Der neue Untersuchungsrichter stellte von Beginn an klar, dass Marc Dutroux für ihn ein Einzeltäter ist, der ein paar Handlanger hatte. Langlois stoppt alle Nachforschungen nach möglichen Hintermännern. Alle Zeugenaussagen über Pädophilenringe wandern in den Giftschrank. Die damit befassten Ermittler werden im Frühjahr 1997 kaltgestellt, sie werden versetzt, die Akten 1998 geschlossen; mit allen nachprüfbaren Hinweisen, mit Namen, mit Verdächtigen. - Douglas de Coninck arbeitet als investigativer Journalist für die Zeitung "De Morgen" und hat vieles aufgedeckt in der Dutroux-Affäre:

    Ich habe bald gemerkt, dass die Polizei und Justiz, die damals völlig bloßgestellt waren, von Ende 1996, Anfang 1997 an alle Mittel eingesetzt haben, um ihr Image zu retten. Und das hatte auch Einfluss auf die Untersuchung. Man ist von einem bestimmten Punkt an davon ausgegangen, dass Dutroux ein isolierter Verrückter gewesen sein musste – es hatte so zu sein. So konnte man das als Ausreißer betrachten, nicht als das Symptom eines Problems.

    Kaum ein Jahr war seit der Verhaftung von Dutroux vergangen. Doch anders als zu Beginn der Affäre schrie nun niemand mehr auf. Die Leute hatten sich wieder in ihr Privatleben verkrochen. Auch die Medien interessieren sich kaum noch für die Ermittlungen in der Affäre Dutroux, erinnert sich Douglas de Coninck:

    Die große Mehrheit der belgischen Journalisten meint, dass die Affäre Dutroux 1997 zu Ende war - die Säuberungen in Politik, Justiz und Polizei waren vorbei, jetzt nur noch der Prozess, das regelt sich von selbst. Dabei weiß man bei den meisten Opfern Dutroux´ bis heute nicht, wie sie gestorben sind, wer sie ermordet hat, warum sie überhaupt sterben mussten, was mit ihnen passiert ist - wer Julie und Melissa entführt hat. Ich habe fast das gesamte Gerichts-Dossier hier liegen, zeigen Sie mir, wo die Antworten sind - leider sind sie eben nicht da drin.

    Jetzt endlich, am Montag beginnt der Prozess in Arlon. Und er beginnt unter seltsamen Vorzeichen. Denn Untersuchungsrichter Jacques Langlois will den Einzeltäter Dutroux überführen. Staatsanwalt Michel Bourlet aber hofft noch immer, vor Gericht beweisen zu können, dass Dutroux Auftraggeber hatte, dass er für ein Netzwerk gearbeitet hat, dass Dutroux die Mädchen für einen Pädophilenring entführt hat. Mehr als 600 Zeugen sind geladen, viele davon sind Zeugen, auf die Langlois jahrelang verzichtet hat. Denn nach belgischem Recht ist für die Ermittlungen der Untersuchungsrichter zuständig, der Staatsanwalt kann ihn zu einer anderen Beweisführung drängen, aber nicht zwingen. Erst vor Gericht übernimmt der Staatsanwalt wieder die Hauptverantwortung. Und da will der Kämpfer Bourlet alles nachholen, was der Untersuchungsrichter seiner Meinung nach in über sieben Jahren vernachlässigt hat.

    Die zentrale Figur im Streit zwischen Staatsanwalt und Untersuchungsrichter ist Michel Nihoul. Wenn es ein Netzwerk gab, dann war Nihoul der Verbindungsmann zwischen Dutroux und diesem Pädophilennetzwerk. Als der Untersuchungsrichter die Ermittlungen gegen den zwielichtigen Geschäftsmann einstellen wollte, ging der Staatsanwalt bis vors Revisionsgericht. Er bekam Recht: Michel Nihoul wird mit Dutroux angeklagt.

    Nihoul war früher selbst Anwalt, und nennt sich Geschäftsmann, obwohl ihm ein Gericht bereits vor vielen Jahren wegen unsauberer Parktiken verbot, ein Geschäft zu führen. Etwa ein Dutzend Zeugen haben Michel Nihoul mit Dutroux im August 1996 vor dem Schwimmbad in Bertrix gesehen, kurz bevor Laetitia Delhez dort entführt wurde. Er hat für Dutroux die schweren Betäubungsmitteln besorgt, mit denen dieser die Mädchen in Schach hielt..

    Michel Nihoul ist nicht irgendjemand: In Brüssel war der Mann für seine zwei Sexlokale bekannt, in denen in den achtziger Jahren regelmäßig Parties stattfanden. Damals, als niemand so genau wissen wollte, wie alt die jungen Frauen oder Männer waren, die zum Vergnügen der reichen oder einflussreichen Gäste geladen waren.."

    Von Michel Nihoul stammt der Satz, er habe Arme, so lang, dass er damit überall in Belgien hinkomme. Damit lässt sich vielleicht auch erklären, woher das große Interesse kommt, ihn aus dem Prozess herauszuhalten. Selbst als sich herausstellte, dass Michel Nihoul sein Alibi gefälscht hatte, blieb er auf freiem Fuss.: Ein Mitarbeiter der belgischen Telefongesellschaft war Nihoul noch einen Gefallen schuldig und hat der Polizei eine Telefonliste für Nihouls Anschluss mit falsch datierten Anrufen vorgelegt. Es war Zufall, dass die Ehefrau des Belgacom-Mitarbeiters diese Geschichte weitererzählte.

    Wer aber hat im Fall Dutroux ein Interesse daran, die Ermittlungen zu behindern? Sind tatsächlich hohe Persönlichkeiten des Landes in die Affäre verstrickt? Selbst die Eltern der toten Mädchen glauben nicht an die große Verschwörung.

    Das Problem liegt vermutlich woanders: Dass in laufende Ermittlungsverfahren eingegriffen wird, ist in Belgien nichts Ungewöhnliches. Bis zum Fall Dutroux galt das sogar als Ausweis einer volksnahen Justiz. Politiker warben mehr oder weniger offen damit, dass sie für ihre Wähler auch mal das eine oder andere Verfahren abbiegen könnten.

    Macht hat man, um sie zu missbrauchen...,

    ... sagte der später ermordete Sozialistenchef André Cools einmal und er meinte das gar nicht zynisch.

    Belgier haben ein gespanntes Verhältnis zu ihrem Staat. Das mag damit zu tun haben, dass Belgien über Jahrhunderte von fremden Mächten beherrscht worden ist, kaum eine europäische Armee, die nicht ihre Stiefelabdrücke hinterlassen hätte. Die Gesellschaft hat sich seit dieser Zeit unterhalb der staatlichen Ebene eingerichtet, in katholischen, sozialistischen oder liberalen Zirkeln. Die Politiker, die aus diesen Zirkeln hervorgegangen sind, haben es immer auch als ihre Aufgabe angesehen, den Bürgern den Staat vom Leib zu halten.

    Effizienz war das letzte, was die Menschen in Belgien von ihrem Staat und seinen Institutionen erwarteten. Deshalb hat es sie auch nie gestört, dass das kleine Land immer wieder aufgesplittert wurde, in neun Provinzen, drei Regionen, in drei davon abweichende Sprachgemeinschaften und 27 unabhängige Gerichtsbezirke, in denen drei rivalisierende Polizeidienste meist nicht einmal die Telefonnummern der anderen Kollegen kannten. Je kleiner die Einheit, desto leichter die Einflussnahme. Ein Brief an den Abgeordneten, und das Problem mit dem Schwarzbau, mit der Steuerhinterziehung oder der Fahrerflucht nach dem Verkehrsunfall war vom Tisch. Bis vor kurzem noch konnte man in belgischen Buchläden Musterbriefe für solche Anliegen finden.

    Die Menschen seien gewohnt, meint der Journalist Douglas De Coninck, dass die Dinge wie unter Nachbarn geregelt würden:

    Solange in Belgien versucht wird, so viel wie möglich während eines Kaffees oder beim Essen zu regeln - was ja oft sinnvoll ist - so wenig sinnvoll ist das, wenn es um Verbrechen geht, wenn Menschen durch Verbrechen für ihr Leben gezeichnet oder sogar ermordet werden.

    Drei Jahre nach Bekanntwerden der Affäre Dutroux wählten die Belgier ihre langjährige rot-schwarze Regierung ab. Seither regieren die Liberalen unter Premier Guy Verhofstadt in einer breiten Koalition. Diese Regierung hat gegen viel Widerstand die drei konkurrierenden Polizeidienste zusammengefasst, ein überfälliger Schritt. In der Justiz dagegen hat sich so gut wie nichts verändert: Richter und Staatsanwälte werden nach wie vor nach Parteibuch ernannt. Das zu ändern, scheint den Politikern besonders schwer zu fallen. Denn das würde Einfluss kosten.

    Wenn in laufende Justizverfahren eingegriffen wird, dann wissen die Ermittler in der Regel auch heute nicht, von wem die Initiative dazu ausgegangen ist, wer sich da wo eingemischt hat. Dabei war es gerade diese Form der anonymen Einflussnahme, die Dutroux vermutlich geholfen hat, seine Verbrechen so lange vertuschen zu können. Es reichte, wenn irgendwo in der Hierarchie Beamte saßen, die erpressbar waren. Das musste gar nichts Schlimmes sein. Von Dutroux weiß man, dass er eine Art "kriminellen Gemischtwarenladen" führte, in dem sich auch Polizisten und Justizangestellte bedient haben sollen. Danach war ein Polizist an Autoschiebereien beteiligt, ein anderer an Peepshows, in denen die Kunden zu Erpressungszwecken gefilmt wurden. Der Sohn eines Staatsanwaltes ließ bei Dutroux sogar seinen gestohlen gemeldeten Porsche umlackieren.

    Es gab viele im Umfeld von Dutroux und Nihoul, die Grund zur Angst hatten – und immer noch haben. Der Journalist Douglas de Coninck zählt in seinem jüngsten Buch nicht weniger als 30 Zeugen auf, die in den vergangenen siebeneinhalb Jahren unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen sind:

    Nehmen Sie zum Beispiel diesen Bordellbesitzer aus Charleroi: Der hat die Eltern von Julie und Melissa angerufen, er wollte sie sprechen. Seinen Freunden hat er nur erzählt, dass er Julie und Melissa in einer seiner Bars gesehen hat, das war alles. Bevor dieser Mann die Chance bekam, die Eltern zu treffen, wurde er auf einem Autobahnparkplatz niedergeschossen. Da finde ich, dass die Justiz dazu im Rahmen der Affäre Dutroux ermitteln muss, das ist doch die logische Konsequenz. Wir sprechen hier über einen Mord, der vor sechs Jahren passiert ist, und bis heute wissen wir nicht, wer es war.

    Dieses unglaublich lange Ermittlungsverfahren hat vor allem dazu geführt, dass sich kaum noch jemand an die Hintergründe des Verbrechens erinnert. An all die Verwicklungen, an all die Verbindungen. Sie - die immer noch Unbekannten aus Politik, Justiz und Unterwelt - wollten, dass sich niemand mehr wirklich für diesen Fall interessiert, glaubt Pol Marchal, der Vater der ermordeten An. Das hätten sie nun erreicht...
    Viele Belgier wünschten nur noch, dass die Affäre Dutroux endlich abgeschlossen wird. Die Eltern der toten Melissa werden erst gar nicht nach Arlon fahren. Es hat keinen Sinn, sagt ihr Vater Gino Russo, sie werden Marc Dutroux als Psychopathen verurteilen, aber die Wahrheit nicht einmal suchen.