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Tiefgedachtes Denk-Stück

Dea Lohers Stück "Das letzte Feuer" kommt als eine kollektive Erzählung daher, als Rückschau auf erlebtes Leben, in dem die Menschen nach der richtigen Darstellung und wie die Autorin nach der richtigen Sprache suchen. Es geht nicht um Lebensutopien, sondern um den Versuch von Lebenswahrnehmung.

Von Hartmut Krug |
    Sie sind alle durch unterschiedlichste Erfahrungen traumatisiert, die Menschen eines Viertels und eines Hauses, die sich in Dea Lohers Auftragswerk für das Thalia Theater zusammenfinden. Der Tod eines Kindes bei einem Verkehrsunfall macht sie zu einem Chor der fragenden Sinnsucher. Es sind Menschen, die bestimmt sind von der Erfahrung existentieller wie körperlicher Verletzungen, von Schuld, Traumata und Gewalt. Eine Frau hat Alzheimer, eine andere bekam ihre Brüste amputiert. Ein Mann muss mit seinen Erfahrungen als Soldat fertig werden, eine Polizistin kämpft mit ihrer hysterischen Angst vor dem Terror, ein Paar treibt auseinander, andere finden unter inneren und äußeren Schmerzen zueinander.

    Dieser Chor beschädigter Individuen besteht allerdings aus lauter Einzelstimmen, und lange Prosa-Strecken von Erzählern verbinden sich mit Monologen zu einem von der Wut des Beschreibens angetriebenen Sprachstrom. Letztlich sind sie alle Erzähler, sowohl die, die von eigenen Gefühlen und eigenem Leben, wie die, die von fremden Schicksalen sprechen. Das tödliche Ereignis wirkt wie ein Katalysator: Haltungen verändern sich, Schicksale entscheiden sich, Menschen entwickeln sich oder offenbaren Unsicherheiten und Schuldbewusstsein. Jeder drückt für sich seine maßlose Sehnsucht aus, ein anderer sein zu wollen. Und jeder beschreibt seine Einsamkeit, während er beobachtend am Leben der anderen teilnimmt. Dieses allgemeine individuelle Verhalten führt bei vielen zur Abkapselung oder zum Selbstverlust, oder, wie beim Soldaten, der mit dem Kind auf der Straße sprach und sich deshalb eine Schuld an dessen Unfalltod gibt, zur Selbstzerstörung: Er feilt sich mit den Nägeln gleich die Finger bis auf die Knochen ab. Und der bekiffte Mann, der auf der Flucht vor einer ihn fälschlicherweise als Terroristen verfolgenden Polizistin mit einem gestohlenen Auto unterwegs war, kommt aus seinen Schuldzweifeln ebenso wenig heraus wie die Polizistin, die den Jungen bei der Verfolgung überfuhr.

    Dea Lohers Stück kommt als eine kollektive Erzählung daher, als Rückschau auf erlebtes Leben, in dem die Menschen nach der richtigen Darstellung und, wie die Autorin, nach der richtigen Sprache suchen. Es geht nicht um Lebensutopien, sondern um den Versuch von Lebenswahrnehmung.

    Bei der Lektüre wirkt das Stück wie eine überkonstruierte existenzielle Versuchsanordnung, - nicht lebendig empfunden, sondern intellektuell erdacht, wobei viele tiefere Bedeutungen einfach nur behauptet und gesetzt, aber nicht entwickelt oder beschrieben werden. In Dea Lohers neuem Stück verbinden sich ein weihevoller Ton der tieferen Bedeutung (Achtung: existenzielle Sinnsuche!) mit Klischees, wie man sie bei der Erklärung von Gefühltem, Empfundenem und Erschmerztem aus Fernsehsoaps hört.

    Wo ist dies kein großes, aber ein groß- und tiefgedachtes Denk-Stück geworden, das der erprobte Dea-Loher-Uraufführungsregisseur Andreas Kriegenburg am Hamburger Thalia Theater sehr bewusst seiner wenigen Realitätspartikel beraubt hat. Was die Figuren von draußen in die schäbige Einheitswohnung mitbringen, deren Zimmer sich auf der Bühne von Anne Ehrlich während der gesamten eindreiviertelstündigen Aufführung unentwegt langsam vor dem Publikum vorbeidrehen, wird weitgehend ausgespart. Kriegenburg gibt dem Geschehen eine phänomenologische Lebensraumstruktur und macht das bei der Lektüre kaum spielbar erscheinende Stück immerhin sinnlich präsent - mit einem vorzüglichen Ensemble, das Lohers absichtsvolle, den sauren Kitsch streifende Texte in einem gelassenen einheitlichen Erregungston spricht, wobei eine dem Geschehen unterlegte Musik im Verein mit einer Spielweise, die viele Sätze wie weg gesprochen und kaum verständlich klingen lässt, Lohers Stück um manche seiner größten Verblasenheiten erleichtert. Kriegenburgs szenische Lösung überzeugt sowohl als szenische Metapher wie in der Bühnenpraxis. denn die vielen raschen Szenenwechsel des Stückes lassen sich durch ein beständiges Wandern der Figuren durch alle Räume der sich unentwegt drehenden Wohnung bewerkstelligen. Die Wohnung wird von allen bewohnt, auch wenn man sich oft gegenseitig nicht wahrnimmt. Alle stecken in derselben Falle und kommen weder aus der Wohnung noch aus sich selbst heraus.

    Leider wirkt Kriegenburgs Inszenierung recht monoton, wenn sie im immer gleichen Ton und gleichem Rhythmus Lohers Geschichte als modellhafte Studie zeigt, bei der die individuellen Haltungen der Menschen undeutlich bleiben. Von Menschen, die die Liebe suchen und eine Sprache, die mit dem Einzelnen und seinen Erfahrungen zu tun hat. Der Soldat, von Hans Löw zurückhaltend nüchtern gespielt, entzündet schließlich verzweifelt das titelgebende "letzte Feuer" und verbrennt sich. Am Schluss, nachdem viele Menschen sozusagen implodiert sind, treffen sich alle, ob mittlerweile tot, eingesperrt oder umgezogen, und schließen den Erzähl- und Reflexionsbogen, bei dem wir nur gelernt haben, dass es schwer für den Menschen ist, mit seinen Verletzungen zu leben. Leicht gemacht hat uns Dea Loher unseren Weg zu dieser uns durchaus nicht neuen Erkenntnis mit ihrem so absichtsvollen wie zugleich schwachen Stück allerdings nicht.