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Tiefschürfende Bilanz eines Lebens

Er galt als die lyrische Stimme des palästinensischen Volkes und als Superstar der zeitgenössischen arabischen Literaturszene. Mahmud Darwisch starb im August 2008. Nur wenige Wochen davor veröffentlichte er einen lyrischen Text, der posthum wie ein literarisches Testament wirkt.

Vorgestellt von Martina Sabra |
    Mahmud Darwish kam 1942 in dem kleinen Ort Al-Birwe, unweit der Hafenstadt Akko zur Welt. Seine Kindheit sei sehr idyllisch gewesen, erzählte der Dichter später, aber leider auch sehr kurz. 1948, Darwish war sechs Jahre alt, musste die Familie vor den Angriffen der israelischen Armee in den Libanon fliehen. Zwar kehrten die Darwishs im Gegensatz zu den meisten anderen Palästinensern zurück - heimlich und unter Lebensgefahr, denn die sogenannte "Infiltration" war verboten. Doch das Dorf der Kindheit existierte nicht mehr. Das Trauma der verlorenen Heimat habe ihn entscheidend geprägt, sagte Mahmud Darwish. Denn das Einzige, was blieb, war die Sprache.

    "Persönliche, individuelle Erinnerungen sind essenziell, um Gedichte zu schreiben. Ich musste erleben, wie mir mit einem Schlag meine Kindheit entrissen wurde. Ich sah deutlich den Weg ins Exil. Und ich fand es schwierig, mich an meinen neuen Namen im Libanon zu gewöhnen: Ladji, Flüchtling. Als wir zurückkehrten, waren keine Spuren von meiner früheren Existenz mehr zu sehen - außer in den Trümmern und im Gedächtnis."

    Als 20-Jähriger veröffentlichte Darwish seine ersten Gedichtbände, die ihn in der ganzen arabischen Welt berühmt machten. Er schuf – um eines seiner eigenen Bilder zu benutzen – "ein Land aus Worten", gab den entrechteten, beraubten Palästinensern eine Stimme. Doch Darwish wollte nicht auf eine "Sache" reduziert werden – auch nicht auf die seines eigenen Volkes. Politisch wurde er zunehmend kritischer, seine Gedichte wurden existenzieller, innerlicher. Doch er blieb Palästinenser. Ein Konflikt, der ihn immer begleitete.

    "Es ist nicht leicht, Palästinenser zu sein; aber noch viel schwieriger ist es, als Palästinenser Dichter zu sein. Man wird zerrissen zwischen ästhetischen Anforderungen und einer ganzen Palette von Funktionen, die man gar nicht erfüllen kann: Historiker, Mythenforscher, Politiker und, und, und. Mit meinem kritischen Potenzial soll ich einerseits die Wirklichkeit von Legenden befreien. Gleichzeitig soll ich aber als Dichter die Realität mythisch überhöhen."

    Über fünf Jahrzehnte hat Mahmud Darwish als Dichter alle Höhen und Tiefen der Palästinenser, aber auch seiner eigenen, individuellen Existenz reflektiert. Sein letztes großes Gedicht, "Der Würfelspieler", wirkt wie ein poetisches Vermächtnis an sein Volk: Denkt kritisch, bewahrt Euch Euren Sinn für Ironie und Humor, und lasst nicht zu, dass man Euch mit Sprache verführt - ob die Verführer nun Politiker sind oder Dichter.

    Wer bin ich denn euch zu sagen
    Was ich euch sage?
    Nichts als ein Würfelspieler bin ich
    Zuweilen gewinne zuweilen verliere ich
    Wie Ihr bin ich und vielleicht
    Ein wenig weniger


    "Der Würfelspieler" ist formal eine Qaside, und zwar in ihrer modernen Version, wie sie im 20. Jahrhundert von zahlreichen modernen arabischen Dichtern als sogenannte "freie Poesie" entwickelt wurde. Die Kraft dieser Dichtung beruht auf dem Sprachrhythmus, den Bildern und auf der Präsenz des lyrischen Ichs.
    Darwish gibt sich im "Würfelspieler" als ein skeptischer, vernunftbetonter Intellektueller zu erkennen, der die Hinwendung der palästinensischen Gesellschaft zu religiös-politischen Ideologien mit großer Sorge beobachtet. Der Dichter rechnet weder mit einem göttlichen Plan noch mit dem Jüngsten Tag. Letztlich regiere der Zufall. Dennoch hat das Leben einen Sinn: dank der Poesie.

    Keine Rolle spielte ich in meinem Leben
    Nur als es mich seine Psalmen lehrte sagte ich
    Ich will noch mehr davon
    Und um das Leben zu verändern
    entzündete ich in mir des Lebens Licht


    Mahmud Darwish hat im Lauf seines Lebens die Tragödie des palästinensischen Volkes in all ihren Facetten hautnah miterlebt: Mit sechzehn saß er zum ersten Mal in einem israelischen Gefängnis, weil er gegen die Unterdrückung der israelischen Araber protestiert hatte. Später, im Exil in Beirut, erlebte er die Gewaltexzesse des libanesischen Bürgerkrieges. Nach seinem Umzug nach Ramallah im Westjordanland musste Darwish in den 1990er Jahren mit ansehen, wie die Palästinenser in einen fatalen Bruderkrieg schlitterten und wie sich religiöser Obskurantismus ausbreitete – in einer Gesellschaft, die jahrzehntelang zu den gebildetsten und tolerantesten des Nahen Ostens gezählt hatte. Mahmud Darwish sah sich hier als Dichter und Intellektueller in der Pflicht, die Menschen nicht mit Wortgeklingel zu verführen, sondern sie an das Wesentliche zu erinnern.

    Dass nicht ausufere der Gesang und der Ton
    Nicht versage von Refrain zu Refrain
    Dem doppelzeiligen
    Da der Schluss einzeilig ist: Es lebe das Leben.


    "Der Würfelspieler" ist Mahmud Darwishs letzter großer Wurf, und sicher einer der gelungensten: eine knappe und zugleich tiefschürfende Bilanz seines Lebens, mit der der Dichter sich einmal mehr in den Kanon der Weltliteratur eingeschrieben hat. Dank der Initiative des zweisprachigen deutsch-syrischen Lyrikers und Übersetzers Adel Karasholi, eines langjährigen engen Freundes von Darwish, liegt der Text nun schon wenige Monate nach dem Erscheinen des Originals auch in deutscher Übertragung vor. Adel Karasholi hat neben der Übertragung auch ein schönes, informatives Vorwort geschrieben, das nicht nur den Text einordnet, sondern Neulingen auch Zugänge zum Gesamtwerk von Mahmoud Darwish ermöglicht.