" Wir alle, die wir unter seiner Führung gegen dieses Militär, gegen diese Richter, gegen diese Reaktion gekämpft haben, kennen seinen tiefsten Herzenswunsch: die Wahrheit zu sagen. "
Und am Ende seines Nachrufes auf den Freund schrieb Tucholsky ganz unpathetisch: "Gib deine Waffen weiter, SJ." Dass diese geistigen Waffen nun neu besichtigt werden können, verdanken wir fünf Bänden Gesammelte Schriften, die der Wallstein Verlag in Göttingen herausgebracht hat. Jochen Stöckmann über diese editorische Referenz an einen der bedeutendsten deutschen Publizisten:
Dass Arnold Zweig in der tiefsten Provinz aufwuchs, tat dem geistigen Fortkommen des künftigen Schriftstellers keinen Abbruch. Denn das intellektuelle Klima im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wurde von Zeitschriften geprägt – und die waren dank guter Bahnverbindungen auch in Glogau, Schneidemühl oder Kattowitz zu haben:
"Die Wiener und Berliner Zeitungen und Zeitschriften kamen ziemlich gleichzeitig an, und der Einfluss von Karl Kraus kreuzte sich mit dem Maximilian Hardens und Siegfried Jacobsohns in unseren Gehirnen. "
Wer mitreden wollte, las die "Fackel" von Kraus, Hardens "Zukunft" und natürlich die 1905 gegründete "Schaubühne" von Siegfried Jacobsohn. Aus diesem Berliner Zentralorgan deutschsprachiger Theaterkritik entwickelte sich in der Weimarer Republik ein radikaldemokratisches Vorzeigeblatt, nunmehr unter dem Titel "Weltbühne". Nach Jacobsohns frühem Tod im Jahre 1926 wurde die Zeitschrift von seinem engen Mitarbeiter Carl von Ossietzky geleitet, einer ihrer bekanntesten Autoren war Kurt Tucholsky. Der Schritt von der theaterkritischen "Schau"- zur politischen "Welt"-Bühne war für Jacobsohn nicht allzu groß. Schließlich waren im Kaiserreich, unter wilhelminischer Zensur, einige politisch bedeutsame Publizisten im Feuilleton herangewachsen: Dessen feine Spitzen, gekonnt zwischen den Zeilen verborgen, entgingen den Paragraphenreitern der Zensurbehörde. Jacobsohn allerdings war in erster Linie geprägt von seiner Leidenschaft für das Theater, wie sich sein erster Chef und Förderer Hellmuth von Gerlach, um 1900 Chefredakteur der Berliner Wochenzeitung "Die Welt am Montag", erinnerte:
"Dieser Jüngling hatte buchstäblich jeden Abend seines Schülerdaseins im Theater verbracht. Er kannte jeden Schauspieler in jeder Rolle, und er kannte die gesamte Bühnenliteratur. Dabei besaß er eine Treffsicherheit des Urteils, die bei solcher Jugend kaum vorstellbar schien. Es war ein Phänomen. "
Siegfried Jacobsohn ging mit der Gründung seiner eigenen Zeitschrift 1905 ein finanzielles Risiko ein, aber das war ihm die Sache wert, wie er in einer ersten Rückschau 1913 feststellte:
"Ich glaube, dass es ein Segen wäre, wenn alle Kritiker des Theaters so unaufhörlich Forderungen stellten, wenn alle das Theater so wichtig nähmen wie ich. Denn ich nehme es ja nicht als Selbstzweck wichtig, sondern als Mittel zum Zweck. Ich weiß, dass es das Leben spiegelt, aber ich weiß auch, dass es ins Leben zurückwirkt. Es ist meine Überzeugung, dass es mit unsrer Politik, dem öffentlichen Leben, dem Verkehr der Menschen und jedem Zweig der Kunst in dem Maße besser werden wird, wie das Theater, das ich meine, an Boden gewinnt. "
Recht schnell hatte sich Jacobsohns Blick geweitet, ging über den Tellerrand des Theaters hinaus – ohne das analytisch feine Gespür für die Facetten der Inszenierung, sprechende Gesten der Schauspieler und charakteristische Reaktionen des Publikums zu verlieren. Das belegen jetzt Jacobsohns Gesammelte Schriften in fünf stattlichen Bänden, umsichtig ausgewählt und kenntnisreich kommentiert von Gunther Nickel und Alexander Weigel. Auf die Artikel aus den Jahren 1900 bis 1915 unter den markanten Titeln "Theater der Reichshauptstadt" und "Schrei nach dem Zensor" folgt der dritte Band mit der fragenden Überschrift "Theater – und Revolution?" Diese enge, durchaus nicht blindlings monokausale Verknüpfung von Bühne und politischem Weltgeschehen war für Jacobssohn keine Frage: Unter "Antworten", einer unter seinem berühmt gewordenen Initial "SJ" verfassten ständigen Schlussrubrik der "Weltbühne", ist da im Januar 1919 zu lesen:
"Man hat es, weiß Gott, nicht leicht mit euch. Wenn ich, anno dazumal, auf der "Schaubühne" das Theater betrachtete, so rieft Ihr: Snob! Ästhet! Kunstjüngeling! Politik muss man machen! Und wenn ich jetzt die Ereignisse auf der Weltbühne für nicht ganz nebensächlich erachte, so kommandiert Ihr mich auf den alten Parkettplatz zurück. Da gibt es Leute, die mir lange Briefe zu schreiben Zeit und Bedürfnis haben, voll von Vorwürfen, dass ich mir meiner »Lebensaufgabe nicht mehr bewusst zu sein scheine«, als welche darin bestehe, Theaterkritiken zu verfassen und um diese nichts als Theaterartikel zu gruppieren. "
Aber auch in seinen Bühnenkritiken mochte Jacobsohn nicht absehen vom politischen Geschehen draußen vor der Tür. Und diesen Anspruch äußerte er auch, selbst unter den rigiden Verhältnissen der Militärzensur im Kriegsjahr 1917:
"Intellektuelle Reinlichkeit zwingt den Chronisten zu der Erklärung, dass er in Tagen, wo Entschlüsse von weltgeschichtlicher Bedeutung gefasst werden müssen, nicht ruhig darüber befinden kann, ob ein Schauspiel künstlerisch ein bisschen besser oder schlechter geraten ist. Das eine Ohr, das auf die Bühne gerichtet ist, hört Stimmen, deren Klang und Sinn nur dann nicht getrübt würde, wenn das andere, an die Front, zum Reichstag und übers Meer gerichtete Ohr gänzlich taub wäre. "
Jacobsohns politisch überaus regsamer Kollege Kurt Hiller – der über den Ersten Weltkrieg vom expressionistischen Schriftsteller zum radikalen Pazifisten geworden war – konzedierte dem Theaterkritiker größten Einfluss, gerade weil er selbst im Herausgeber der "Weltbühne" keinen Politiker sehen mochte: Stattdessen, so Hiller, habe Jacobsohn über jede tagespolitische Kurzsichtigkeit hinaus eine "Witterung" für das, worauf es publizistisch und "gleichsam geiststrategisch" jeweils ankomme. Vor diesem Hintergrund liest man nun ganz anders, im vollen politischen Kontext des Umbruchjahres 1918, was Siegfried Jacobsohn damals über das Bühnengeschehen schrieb:
"Ein Theater kann nicht eine neue Epoche der Dramatik heraufführen wollen und die Werke dieser Epoche nach den Regeln der alten herunterspielen. "
Dass Jacobsohn mit solchen Theaterkritiken als Stratege im politischen Meinungskampf wirkte, belegt allein schon der aus heutiger Sicht entlegene Erscheinungsort dieser Kritik in der "Weser-Zeitung". Es ist kein geringes Verdienst dieser umfangreichen Edition, dass sie mit dem Abdruck von Artikeln aus so genannten Provinzblättern die Vielfältigkeit der damaligen Zeitungslandschaft ins Gedächtnis ruft. Denn während die Geschichte der Zeitschrift "Weltbühne" fast bis in den letzten Redaktionswinkel erforscht ist, wird erst jetzt im Zusammenhang mit Jacobsohns sonstigen Schriften – vor allem den oft kaum mehr beachteten Beiträgen in Tageszeitungen – die alles durchdringende politische Dimension einer grundsoliden, ebenso akribisch recherchierten wie meinungsfreudigen "Kulturkritik" deutlich.
Jochen Stöckmann war das über die Gesammelten Schriften von Siegfried Jacobsohn, erschienen in fünf Bänden im Wallstein Verlag, fast 2.700 Seiten für
149 Euro. Und falls Sie noch jemand Sympathisches zu beschenken haben: Diese Ausgabe ist zum Beispiel eine empfehlenswerte Alternative zu den zahllosen überflüssigen, sinnlosen und überteuerten Weihnachtsgeschenken, die in diesen Wochen wieder die Besitzer wechseln werden.
Und am Ende seines Nachrufes auf den Freund schrieb Tucholsky ganz unpathetisch: "Gib deine Waffen weiter, SJ." Dass diese geistigen Waffen nun neu besichtigt werden können, verdanken wir fünf Bänden Gesammelte Schriften, die der Wallstein Verlag in Göttingen herausgebracht hat. Jochen Stöckmann über diese editorische Referenz an einen der bedeutendsten deutschen Publizisten:
Dass Arnold Zweig in der tiefsten Provinz aufwuchs, tat dem geistigen Fortkommen des künftigen Schriftstellers keinen Abbruch. Denn das intellektuelle Klima im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wurde von Zeitschriften geprägt – und die waren dank guter Bahnverbindungen auch in Glogau, Schneidemühl oder Kattowitz zu haben:
"Die Wiener und Berliner Zeitungen und Zeitschriften kamen ziemlich gleichzeitig an, und der Einfluss von Karl Kraus kreuzte sich mit dem Maximilian Hardens und Siegfried Jacobsohns in unseren Gehirnen. "
Wer mitreden wollte, las die "Fackel" von Kraus, Hardens "Zukunft" und natürlich die 1905 gegründete "Schaubühne" von Siegfried Jacobsohn. Aus diesem Berliner Zentralorgan deutschsprachiger Theaterkritik entwickelte sich in der Weimarer Republik ein radikaldemokratisches Vorzeigeblatt, nunmehr unter dem Titel "Weltbühne". Nach Jacobsohns frühem Tod im Jahre 1926 wurde die Zeitschrift von seinem engen Mitarbeiter Carl von Ossietzky geleitet, einer ihrer bekanntesten Autoren war Kurt Tucholsky. Der Schritt von der theaterkritischen "Schau"- zur politischen "Welt"-Bühne war für Jacobsohn nicht allzu groß. Schließlich waren im Kaiserreich, unter wilhelminischer Zensur, einige politisch bedeutsame Publizisten im Feuilleton herangewachsen: Dessen feine Spitzen, gekonnt zwischen den Zeilen verborgen, entgingen den Paragraphenreitern der Zensurbehörde. Jacobsohn allerdings war in erster Linie geprägt von seiner Leidenschaft für das Theater, wie sich sein erster Chef und Förderer Hellmuth von Gerlach, um 1900 Chefredakteur der Berliner Wochenzeitung "Die Welt am Montag", erinnerte:
"Dieser Jüngling hatte buchstäblich jeden Abend seines Schülerdaseins im Theater verbracht. Er kannte jeden Schauspieler in jeder Rolle, und er kannte die gesamte Bühnenliteratur. Dabei besaß er eine Treffsicherheit des Urteils, die bei solcher Jugend kaum vorstellbar schien. Es war ein Phänomen. "
Siegfried Jacobsohn ging mit der Gründung seiner eigenen Zeitschrift 1905 ein finanzielles Risiko ein, aber das war ihm die Sache wert, wie er in einer ersten Rückschau 1913 feststellte:
"Ich glaube, dass es ein Segen wäre, wenn alle Kritiker des Theaters so unaufhörlich Forderungen stellten, wenn alle das Theater so wichtig nähmen wie ich. Denn ich nehme es ja nicht als Selbstzweck wichtig, sondern als Mittel zum Zweck. Ich weiß, dass es das Leben spiegelt, aber ich weiß auch, dass es ins Leben zurückwirkt. Es ist meine Überzeugung, dass es mit unsrer Politik, dem öffentlichen Leben, dem Verkehr der Menschen und jedem Zweig der Kunst in dem Maße besser werden wird, wie das Theater, das ich meine, an Boden gewinnt. "
Recht schnell hatte sich Jacobsohns Blick geweitet, ging über den Tellerrand des Theaters hinaus – ohne das analytisch feine Gespür für die Facetten der Inszenierung, sprechende Gesten der Schauspieler und charakteristische Reaktionen des Publikums zu verlieren. Das belegen jetzt Jacobsohns Gesammelte Schriften in fünf stattlichen Bänden, umsichtig ausgewählt und kenntnisreich kommentiert von Gunther Nickel und Alexander Weigel. Auf die Artikel aus den Jahren 1900 bis 1915 unter den markanten Titeln "Theater der Reichshauptstadt" und "Schrei nach dem Zensor" folgt der dritte Band mit der fragenden Überschrift "Theater – und Revolution?" Diese enge, durchaus nicht blindlings monokausale Verknüpfung von Bühne und politischem Weltgeschehen war für Jacobssohn keine Frage: Unter "Antworten", einer unter seinem berühmt gewordenen Initial "SJ" verfassten ständigen Schlussrubrik der "Weltbühne", ist da im Januar 1919 zu lesen:
"Man hat es, weiß Gott, nicht leicht mit euch. Wenn ich, anno dazumal, auf der "Schaubühne" das Theater betrachtete, so rieft Ihr: Snob! Ästhet! Kunstjüngeling! Politik muss man machen! Und wenn ich jetzt die Ereignisse auf der Weltbühne für nicht ganz nebensächlich erachte, so kommandiert Ihr mich auf den alten Parkettplatz zurück. Da gibt es Leute, die mir lange Briefe zu schreiben Zeit und Bedürfnis haben, voll von Vorwürfen, dass ich mir meiner »Lebensaufgabe nicht mehr bewusst zu sein scheine«, als welche darin bestehe, Theaterkritiken zu verfassen und um diese nichts als Theaterartikel zu gruppieren. "
Aber auch in seinen Bühnenkritiken mochte Jacobsohn nicht absehen vom politischen Geschehen draußen vor der Tür. Und diesen Anspruch äußerte er auch, selbst unter den rigiden Verhältnissen der Militärzensur im Kriegsjahr 1917:
"Intellektuelle Reinlichkeit zwingt den Chronisten zu der Erklärung, dass er in Tagen, wo Entschlüsse von weltgeschichtlicher Bedeutung gefasst werden müssen, nicht ruhig darüber befinden kann, ob ein Schauspiel künstlerisch ein bisschen besser oder schlechter geraten ist. Das eine Ohr, das auf die Bühne gerichtet ist, hört Stimmen, deren Klang und Sinn nur dann nicht getrübt würde, wenn das andere, an die Front, zum Reichstag und übers Meer gerichtete Ohr gänzlich taub wäre. "
Jacobsohns politisch überaus regsamer Kollege Kurt Hiller – der über den Ersten Weltkrieg vom expressionistischen Schriftsteller zum radikalen Pazifisten geworden war – konzedierte dem Theaterkritiker größten Einfluss, gerade weil er selbst im Herausgeber der "Weltbühne" keinen Politiker sehen mochte: Stattdessen, so Hiller, habe Jacobsohn über jede tagespolitische Kurzsichtigkeit hinaus eine "Witterung" für das, worauf es publizistisch und "gleichsam geiststrategisch" jeweils ankomme. Vor diesem Hintergrund liest man nun ganz anders, im vollen politischen Kontext des Umbruchjahres 1918, was Siegfried Jacobsohn damals über das Bühnengeschehen schrieb:
"Ein Theater kann nicht eine neue Epoche der Dramatik heraufführen wollen und die Werke dieser Epoche nach den Regeln der alten herunterspielen. "
Dass Jacobsohn mit solchen Theaterkritiken als Stratege im politischen Meinungskampf wirkte, belegt allein schon der aus heutiger Sicht entlegene Erscheinungsort dieser Kritik in der "Weser-Zeitung". Es ist kein geringes Verdienst dieser umfangreichen Edition, dass sie mit dem Abdruck von Artikeln aus so genannten Provinzblättern die Vielfältigkeit der damaligen Zeitungslandschaft ins Gedächtnis ruft. Denn während die Geschichte der Zeitschrift "Weltbühne" fast bis in den letzten Redaktionswinkel erforscht ist, wird erst jetzt im Zusammenhang mit Jacobsohns sonstigen Schriften – vor allem den oft kaum mehr beachteten Beiträgen in Tageszeitungen – die alles durchdringende politische Dimension einer grundsoliden, ebenso akribisch recherchierten wie meinungsfreudigen "Kulturkritik" deutlich.
Jochen Stöckmann war das über die Gesammelten Schriften von Siegfried Jacobsohn, erschienen in fünf Bänden im Wallstein Verlag, fast 2.700 Seiten für
149 Euro. Und falls Sie noch jemand Sympathisches zu beschenken haben: Diese Ausgabe ist zum Beispiel eine empfehlenswerte Alternative zu den zahllosen überflüssigen, sinnlosen und überteuerten Weihnachtsgeschenken, die in diesen Wochen wieder die Besitzer wechseln werden.