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Tiere als Therapeuten

Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme bei Kindern nehmen stark zu. Tiere können als Eisbrecher fungieren, Vertrauen schaffen und sie für neue Erfahrungen öffnen. Aktuelle Studien belegen die Wirksamkeit tiergestützter Therapien.

Von Barbara Leitner | 01.09.2011
    Luka ist 9 Jahre alt und spielt mit ihren Meerschweinen:

    "Wenn ich traurig bin, erzähle ich denen manchmal, was so ist. Manchmal mach ich das auch, wenn ich froh bin, und erzähle ihnen meine Gedanken und so. Ich finde, wenn die mir Köperzeichen geben, zum Beispiel wenn die mir an den Händen lecken, dass die mich mögen. Irgendwie verstehe ich manchmal die Sprache von ihnen und weiß, was sie meinen, und denn ich kenne ich die schon so lange, dass ich mit denen so wie reden kann."
    "Wir denken, wenn die Kinder viel Möglichkeit zum Körperkontakt mit dem Meerschwein haben, sie müssen sie halten, streicheln, aber auch mal beobachten, wie die untereinander interagieren, dass da wieder eine körperliche, physiologische Bereitschaft entsteht, sich eher wieder auf andere einzulassen von der hormonellen Ausgangslage, aber auch besser lernen zu können, was ist eigentlich Empathie, wie erkenne ich Emotionen, wie geht es jetzt meinem Meerschwein, ja",

    so die Psychologin Andrea Beetz von der Forschungsgruppe "Tiergestützte Interventionen für verhaltensgestörte Kinder". Sie gehört zum Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation der Universität Rostock und arbeitet vor allem mit einer Klientel: mit Kindern, die unsicher oder desorganisiert an ihre Familie gebunden sind. Viele dieser Mädchen und Jungen wurden vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht. In ihrer frühen Kindheit lernten sie auf diese Weise, dass man Erwachsenen nicht trauen darf. Henri Julius, Professor für Sonderpädagogik:

    "Was wir sehen bei diesen Kindern, dass sie versuchen, andere zu kontrollieren, meist aggressiv zu kontrollieren, weil sie Angst haben, wenn sie das nicht tun, dass die ihnen etwas antun, und da kann man sich natürlich an drei Fingern abzählen, wie schnell diese Kinder in Beziehung zu Erwachsenen, seien es nun Lehrer oder Therapeuten, sofort wieder in einen Kampf kommen und diese alten Muster wieder re-etablieren."

    Normalerweise ist es für sicher gebunden Kinder im europäischen Kulturkreis üblich, Beruhigung und Ausgleich bei ihrer wichtigsten Bezugsperson, oft der Mutter oder dem Vater, zu finden. Bei Stress gehen sie zu ihnen und gewinnen durch den Kontakt ihre Offenheit zurück.

    Bei Kindern allerdings, die kein zuverlässiges Gegenüber hatten, ist das Vertrauen in andere Menschen erschüttert. In ihrem Konzept von Beziehung kommen Erwachsene nur als unsichere oder gar als bedrohliche und gefährliche Personen vor, vor denen sie Angst haben. Entsprechend misstrauisch gestalten sie Begegnungen mit neuen Bezugspersonen, Lehrern oder Therapeuten beispielsweise, auch wenn diese sich offen und einfühlsam verhalten. Das berichteten Lehrerinnen Henri Julius im Interview.

    "Die Lehrerinnen sagen, dieses arme, arme Kind. Es tut mir so unendlich leid. Es kann keine Beziehung eingehen. Und ich glaub, ich möchte dem Kind etwas Gutes tun. Und dann gehen sie offenen Herzens ganz empathisch auf das Kind zu. Das ist aber dem Kind viel zu viel. Das kennt das Kind nicht. Es zieht sich noch zurück. Die Lehrerin fühlt sich zurückgewiesen und macht das drei-, vier-, fünfmal und dann hört sie auf und es hat sich das alte Muster zwischen Lehrerin und Kind re-etabliert, was es zu Hause zu den primären Bindungspersonen gab."

    Genau dieser Teufelskreis wird in dem Rostocker Forschungsprojekt in neun von zehn Fällen durch den Kontakt zu einem Hund durchbrochen. Die Kinder nehmen das Tier als Beziehungspartner an – gerade weil er kein Mensch ist!
    Seit den 1960er-Jahren beschreiben Psychologen die unterstützende Wirkung von Tieren bei Therapien. Zum einen ist beispielsweise davon die Rede, dass Kinder, die mit einem Haustier aufwachsen, bei ihren Mitschülern beliebter als andere sind – offensichtlich, weil sie ihr Gegenüber genauer wahrnehmen und beachten. Zum anderen berichten die Experten aber auch davon, wie Tiere gegenüber verschlossenen, in sich gekehrten oder aggressiven, oppositionellen Kindern quasi als Eisbrecher fungieren und sie für neue Erfahrungen öffnen. Nun zeigen immer mehr Studien, worin die Wirksamkeit solcher tiergestützten Therapien besteht und auf welchen Grundlagen sie beruht. Zu diesem Wissensgewinn trägt auch das Team von Professor Julius bei.

    "Was wir gesehen haben, was sehr faszinierend ist, dass Kinder, die eine sogenannte desorganisierte Bindung haben, es nicht übertragen auf Tiere. Das heißt, sie sehen in der Regel Tiere als vertrauensvolle, zuverlässige Interaktionspartner. Das heißt ihr Muster von Misshandlung übertragen sie nicht auf die Tiere."

    In einer Laborsituation forderten die Wissenschaftler zum Beispiel 20 Jungen mit schwierigen Beziehungserfahrungen auf, einen Vortrag vor der Klasse zu halten – für sie eine Situation, die ihnen Herzklopfen bereitete. Eine Gruppe dieser Acht- bis Zwölfjährigen bekam deshalb als Beistand den ihn vertrauten Schulhund an die Seite, eine andere einen Stoffhund. Bei der dritten Gruppe bot eine freundliche Studentin Rückendeckung. Bei allen drei Gruppen nahmen Andrea Beetz anschließend Speichelproben, um nach dem Stresshormon Kortisol zu schauen.

    "Dann haben wir geschaut, vor oder nach dem Stressor über den Verlauf, welche der Gruppen sich von denen am besten macht, und da war es wirklich die Gruppe, die den Hund dabei hatte, den echten Hund, und da kam es auch noch mal darauf an, wie viel die Kinder diesen Hund gestreichelt habe. Es war ein ganz, ganz enger Zusammenhang, zwischen: Ich streichle meinen Hund, desto niedriger ist mein Stress während dieser Aufgabe."

    Studien berichten, dass eine halbe Stunde das geliebte Haustier zu streicheln mehr entspannt, als ein Buch zu lesen. Für diese Reaktion finden die Wissenschaftler neurobiologische und hormonelle Begründungen. Forschungen von Endokrinologen zeigen: Beim Berühren und Streicheln eines Hundes wird das Bindungshormon Oxytozin ausgeschüttet, ganz wie es auch in einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung geschieht. Gleichzeitig reduziert sich der Stress, weil das autonome Nervensystem im Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus auf Entspannung schaltet. Dadurch sind die verstörten Kinder überhaupt erst wieder in der Lage, Signale anderer zu lesen. Die erwachsene Bezugsperson erhält ein gewisses Zeitfenster für ein neues Beziehungsangebot.

    "Was ganz wichtig ist, wie ersetzen nicht misslungene Mensch-Mensch-Beziehungen durch eine Mensch-Tier-Beziehung, sondern wir nutzen die Mensch-Tier-Beziehung, um das Kind zu öffnen, neue adaptive Mensch-Mensch-Beziehungen zu etablieren. Es ist eine Möglichkeit, unter das Radar der Verteidigung des Kindes hindurchzuschlüpfen und in die Beziehung hinein, und das ist sehr faszinierend. Wir arbeiten ja mit den Kindern auch ohne Hunde, und die ersten Daten zeigen, wenn wir mit Hund arbeiten, dann brauchen wir etwa ein Drittel der Zeit, um zu dem Kind eine gute, tragfähige, sichere Therapeuten- oder Lehrer-Beziehung herzustellen."

    Diese Befunde bringen Henri Julius und sein Team in das Europäische Forschungsinstitut für Mensch-Tier-Beziehungen ein, das in der nächsten Woche in Wedemark bei Hannover gegründet werden wird.

    Wissenschaftler aus Deutschland, Schweden, der Schweiz und Österreich werden zusammenwirken, um das Wissen über die positiven Effekte der tiergestützten Arbeit für Prävention und Therapie zu erweitern. Sie wollen erforschen, mit welchen Tierarten und welchen Rassen besondere Wirkungen erzielt werden können und wissen bereits, Hunde und Pferde sind gut geeignet, Meerschweine weniger. In ihrer Forschung haben sie dabei die Beziehungsprobleme der modernen Gesellschaft im Blick.

    Bereits seit einiger Zeit schlagen Kinderärzte und -therapeuten Alarm, weil Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme bei Kindern zunehmen. Bindungsforscher berichten vom hohen Anteil unsicher-vermeidend gebundener Mädchen und Jungen in Deutschland.

    Umso wichtiger ist es, nicht erst zu helfen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Mütter und Väter müssen frühzeitig unterstützt werden, tatsächlich die Bedürfnisse und Signale ihres Kleinkindes wahrzunehmen und darauf zu antworten. Wie dies auch mit Tieren geschehen kann, erforscht Andrea Beetz in einem weiteren Projekt. In Augsburg unterbreitet die Psychologin Müttern mit Kindern im Alter zwischen zwölf und 20 Monaten einmal ein spieltherapeutisches Angebot. Die andere Gruppe erhielt die Gelegenheit, mit ihrem Kleinkind auf einem Pferd zu reiten.

    "Das waren alles Mütter mit Kindern, wo es irgendeine Problematik gab. Entweder haben die Kinder schlecht geschlafen, waren schlecht reguliert oder es gab in der Familie Problematiken, psychische Probleme der Mutter, andere Elternteile. Viele waren auch schon in Betreuung. Und das Reiten ist da sehr besonders, weil die Mutter sich sehr auf das Kind beziehen muss und mit aufpassen und wir haben den Eindruck, nachdem die sich an das Reiten gewöhnt hatten, sind sie offener."

    Noch ist die Wissenschaftlerin dabei, die Daten auszuwerten. Doch beim Zuschauen war bereits zu erkennen: Die Mütter korrigiert vermittelt durch das Pferd früheres unbeherrschtes, unachtsames Verhalten, wurden präsenter, aufmerksamer, zugewandter.

    "Ich habe Menschen gesehen, die nur noch mit dem Blick nach unten sich bewegen und nach längerem Üben mit einem Pferd aufrecht sitzen und ein Strahlen im Gesicht haben und hier in eine neue Haltung im wahrsten Sinne des Wortes gelangen – über das Tier."

    Rainer Hagencord ist katholischer Theologe und Verhaltensbiologe. Interessiert verfolgt er neuere verhaltensbiologische Erkenntnisse über Tiere: Studien, die darüber berichten, wie Tiere durch ihre unmittelbare emotionale Reaktion Menschen stabilisieren und die wieder Vertrauen in die eigene Wahrnehmung gewinnen. Selbst bei dementen Menschen ruft der Kontakt zum Tiere tiefe Erinnerungsbilder auf, die ihre Lebendigkeit zurückkehren lässt.

    "Tiere vermitteln etwas anderes, als wir Menschen schaffen, denn Tiere sind unvoreingenommen. Tiere begegnen ohne Berechnung. Tiere sind im Augenblick, schauen den Menschen so an, wie er jetzt so ist und Tiere, wie soll ich das sagen... Wenn ich einen Menschen sehe, der ungepflegt ist, den der Speichel aus dem Mund läuft, da gibt es bei mir sicher immer noch unterbewusste Reaktionen des Abstandes, das kennen Tiere gar nicht. Sie gehen unbekümmert auf solch einen Menschen zu."

    Tiere sind deshalb für Rainer Hagencord nicht einfach Reiz-Reaktions-Automaten, die der Mensch nach seinem Gutdünken nutzen kann – so wie es in der europäischen Denkgeschichte in der Tradition des Philosophen René Descartes üblich wurde. Vielmehr ist der katholische Priester überzeugt: Auch Tiere haben eine Seele, und der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Er ist in einem evolutionären Prozess aus dem Tierreich hervorgegangen und bleibt dem Tier verwandt. Um diese Beziehung zu erforschen und das Tier auch theologisch zu würdigen, gründete Rainer Hagencord vor zwei Jahren in Münster das "Institut für Theologische Zoologie". Dabei geht es darum, den Menschen ganzheitlicher wahrzunehmen.

    "Wir sollten, glaub ich, deutlich sehen, dass wir nicht nur die sind, die denken, in Anspielung an das Dogma der Neuzeit Decartes' 'Ich denke, also bin ich'. Wir sind noch viel mehr, was wir nicht denken, was nicht einmal in die Sphären des Bewusstseins dringt, sondern unbewusst und unterbewusst in uns arbeitet. Und dann bin ich genau in dem Feld, das ich das Animalische nenne, was uns eben nicht von der Rationalität zugänglich ist, was uns auch ausmacht, neben dem vernünftigen Denken."

    Zum Animalischen, Triebhaften des Menschen gehören für den Theologen Hagencord beispielsweise Erotik und Sexualität – Bedürfnisse, die in seiner Kirche noch immer geleugnet und weggesperrt werden wie wilde Tiere. Das Animalische des Menschen zeigt sich auch in seiner Zerstörungswut und Aggressivität. Menschen können sich verhalten wie "rasende Tiere", und oftmals ist es der Kontakt zum Tier, der den Menschen wieder Mensch werden lässt.

    Gerade dieser Zusammenhang macht es auch notwendig, dass der Mensch sein Verhältnis zum Tier neu definiert. 80 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als tierlieb. Gleichzeitig erlauben sie, dass jährlich 56 Millionen Schweine und fast vier Millionen Rinder gerade mal ein halbes oder ein viertel Jahr meist in Massentierhaltung und einzig zu einem Zweck leben: um im Kochtopf oder der Pfanne des Menschen zu landen. Das ist eine fatale Verdrängung, meint auch Henri Julius.

    "Irgendjemand hat gesagt, wir essen und wir lieben sie. Wir scheinen das kognitiv zu trennen. Die Verhaltensbiologie der letzten Jahrzehnte zeigt, dass Mensch und Tier nach gleichen Mechanismen funktionieren. Das anerkennen wir aber nicht. Sobald man das anerkennen würde und nicht nur dem Hund zusprechen würde oder dem geliebten Pferd, sondern auch dem Schwein, dann wäre diese Trennung nicht mehr möglich, die natürlich tief verwurzelt ist, kulturell, auch religiös, und dass man sich die Erde untertan macht, dass man das Tier ausnutzen oder benutzen darf oder wie auch immer. Sobald man erkennen würde, dass Tiere evolutiv ähnliche neurobiologische Systeme haben wie wir, und das macht biologisch sehr viel Sinn, und der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwindet, muss auch der Umgang letzten Endes mit der tierischen Umwelt auch neu definiert werden."