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Tierische Musik

Inmitten der Zivilisation an der Grenze zwischen Florida und Georgia liegt eine unermesslich weitläufige Wasserwelt mit dem Namen Okefenokee Swamp. Dieses Sumpfgebiet formte sich nach den Erkenntnissen der Geologen vor etwa 6500 Jahren und beherbergt heute eine unvergleichliche Flora und Fauna.

Von Rudi Schneider |
    Wir verlassen die übliche Welt mit ihren Straßen, Schienen, Wolkenkratzern und Wohnsiedlungen im ländlichen Folkston, Georgia. Vor uns liegen unglaubliche 1770 Quadratkilometer eines der größten Sumpfgebiete Nordamerikas. Unser Gefährt ist ein einfaches Kanu und unsere Straße ist ein Wasserweg. Alle Zivilisationsgeräusche haben sich verabschiedet, und vor uns breitet sich eine fast unwirkliche Vegetation aus.

    Fast glaubt man, eine sanfte Musik würde in der Luft liegen, aber es ist nicht wirklich so. Das Wasser erscheint dem Auge als nahezu schwarz, aber es ist ebenfalls nicht wirklich so. Die Ablagerungen an den Wurzeln unter Wasser sind so dunkel, dass man glaubt, es wäre schwarz. Spätestens wenn man seine Hand durchs Wasser gleiten lässt, wird offenbar, wie klar es ist.

    Wasserschildkröten sonnen sich auf bemoosten Baumstämmen, handtellergroße Spinnen haben in Bäumen am Ufer quadratmetergroße Netze gesponnen, und Spanisches Moos hängt von den Ästen wie bläulich-grau wehende Schleier im Wind. Unsere Begleiter in die Wildnis dieser Wasserwelt sind der deutschstämmige Parkranger Jim Burkhart und Joy Campbell, bei der man Boote für diese Reise in eine andere Welt mieten kann. Joy erinnert sich noch an das erste Mal, als sie diese Welt entdeckte:

    "Es war ein wunderbarer ruhiger Tag im Oktober, wir paddelten auf einem engen Wasserweg, der sich durch diese traumhafte Wildnis windet. Es war so unbeschreiblich, mir fielen keine Worte ein, die das treffend beschreiben könnten, was ich sah. Es war wie ein Märchen - so magisch. Das hat mich total gefesselt. Man sagt hier, du hast Sumpfwasser im Blut, und wer das einmal hat, den lässt es nicht mehr los. Man kommt hierhin, um Ruhe zu finden, zu sich selbst zu finden, es ist wie ein Ladegerät für die Seele. Man muss einfach hier rauskommen und es selbst erfahren, um es zu verstehen."

    Magisch, so sieht das Bild rund um uns herum tatsächlich aus. Im scheinbar schwarzen Wasser spiegeln sich alle Pflanzen und der blaue Himmel mit seinen weißen Wattebauschwolken so perfekt, dass man genau hinschauen muss, um den Übergang zwischen oben und unten zu erkennen. Fast kann man sich nur an den optischen Bruchlinien der gespiegelten Wassergräser orientieren, die alle an einer bestimmten Stelle quasi einen Knick im Bild zeigen. Da alle diese vermeintlichen Knicke horizontal in einer Linie liegen, sagt unser rationaler Verstand: Das muss die Wasserlinie sein, und weil wir uns ruhig im Wasser vorwärts bewegen, ist auch dieses seltsame dreidimensionale Spiegelbild immer in Bewegung und kreiert ständig neue Formen und Linien.

    Die Geräusche, die an unsere Ohren dringen, unterscheiden sich von dem, was wir sonst gewohnt sind zu hören dadurch, dass wir den... oder das... oder die... Geräuscherzeuger nicht sehen können.

    Je stiller es ist, desto intensiver lauschen wir in diese fremde Geräuschwelt. Aber bevor uns Jim die tausendfachen Stimmen des Sumpflandes verstehen lernt, gibt er uns einen Überblick zur Orientierung.

    "Es ist ein riesiges Sumpfgebiet, das gleichzeitig das Quellwasser für zwei große Flüsse liefert. Der Swanee River, der durch den bekannten Song von Steven Foster berühmt wurde, mündet in den Golf von Mexiko. Und der St. Marys River verlässt das Sumpfgebiet südlich und bildet die Grenze zwischen Georgia und Florida, um dann in den Atlantischen Ozean zu münden."

    Wir gleiten nahezu lautlos auf dem schwarzen Spiegel. Riesige Bäume, deren Wurzeln offenbar schon über der Wasseroberfläche damit beginnen sich nach unten zu verzweigen, wechseln mit fast wiesenähnlichen saftig grünen, offenen Flächen, die suggerieren, man könne das Boot verlassen und auf dieser Wiese umherlaufen. Aber schon der erste Schritt aus dem Boot würde uns im handwarmen Wasser versinken lassen. Es ist schon ein seltsames Gefühl, sich mit einem Boot über eine dicht bewachsene Wiese zu bewegen. 721 unterschiedliche Pflanzen teilen sich diesen Lebensraum. Einige Meter weiter gleiten wir in einen Seerosenteich voller unglaublicher Blüten, die alle ein Poster wert wären. Seerosenteich, nein das Wort trifft es nicht, ist es ein Seerosenwald, oder eine Seerosen-Prärie... so weit das Auge reicht, Millionen von Seerosen murmel ich vor mich hin und schüttle den Kopf, Jim schmunzelt und nimmt den Gedanken auf.

    "Es sind einzigartige Pflanzen und Tiere, die Sie hier sehen können. Das sind unterschiedlichste Wasserpflanzen, die wunderbar blühen und Blätter wie kleine Boote haben. Viele Wandervögel ziehen durch unser Gebiet, zum Beispiel die großen Kanadakraniche. Sie nisten hier und fliegen dann bis in die nördlichsten Gebiete Amerikas und nach Kanada. Dieses Gebiet ist eine Schatztruhe für viele Vögel. Das wohl bekannteste Tier ist der amerikanische Alligator, den man während des ganzen Jahres sehen kann."

    Kaum gesagt, tippt mir Joy auf die Schulter und deutet mit ihrer Hand rechts vor mir auf die Wasseroberfläche. Ich dachte, während Jim erzählte, das sei ein dunkler Baumstamm, kaum fünf Meter von uns entfernt, der zunächst unbeweglich im Wasser lag. Aber jetzt begann sich der vermeintliche, etwa drei Meter lange, Baumstamm zu bewegen, ein Alligator, so nahe. Irgendwie befinden sich meine Gedanken zwischen Schreck und Vertrauen auf meine Begleiter. Der Rücken des Alligators scheint ebenso schwarz wie das Wasser zu sein, und seine typische Panzerhaut schaut gerade mal fünf Zentimeter aus dem Wasser. Von Joy lerne ich, dass fünfzehn- bis zwanzigtausend solcher Alligatoren in diesem Sumpfgebiet leben.

    "Die Luftbläschen, die hier vorne aufsteigen, stammen vom Methangas, das unten an den Wurzeln der Wasserpflanzen haftet. Wenn man das Paddel unten in die Wurzeln drückt, steigen diese Bläschen auf. Wenn man allerdings mit seinem Boot vor sich hin paddelt und weiter vorne steigen plötzlich solche Bläschen auf, dann wird das Wurzelwerk unten auf dem Grund durch irgendetwas gestört. Das könnte eine Wasserschildkröte, aber auch ein Alligator, sein."

    "Alligatoren sind eigentlich nahezu lautlos, wenn sie sich im Wasser bewegen," erzählt Jim, "aber sie können auch ein Geräusch erzeugen, bei dem ihr ganzer Körper bebt und die Resonanz das Wasser über ihnen regelrecht sprudeln lässt".

    Aber nicht nur Alligatoren tummeln sich im Okefenokee Swamp. Auf den trockenen Flächen leben auch Panther und Schwarzbären, die allerdings sehr selten gesehen werden. Das Lebenselixier dieses gigantischen Ökosystems sind Wasser und Feuer. Beides spendet die Natur in ihren natürlichen Abläufen.

    "Feuer ist der natürliche Stabilisator, der gewährleistet, dass das Sumpfgebiet im ökologischen Gleichgewicht bleibt. Feuer stoppt Auswucherungen, bildet neue Seebereiche. Alte Zypressenwälder brennen ab und geben Raum für Jungpflanzen, so wie diese Prärie - Buschpflanzen um uns herum, das ist eine weitere Form des Wandels im Sumpfgelände."

    Campbell: "Viele Leute wissen nicht, was sie erwartet, wenn sie in dieses Sumpfgebiet kommen. Sie sehen Sümpfe in den Filmen und glauben, Sumpfgebiete sind düster, beängstigend, es riecht unangenehm. Das Gegenteil ist der Fall. Die Natur ist wunderbar, das Wasser riecht nicht, es ist klar und frisch. Man hört eine Fülle von Geräuschen und man sieht so viele unterschiedliche Farbtöne. Es ist einfach atemberaubend schön für die Leute, die hier herkommen und das alles sehen."

    Sehen ... wollen wir nun noch etwas mit den Ohren. Ob Grillen, Zikaden, surrende Fliegen jeder Art, auf und im Wasser sind Frösche die lautstärksten Musikanten in dieser Wasserwelt. Kein Wunder, denn dieses Refugium ist für sie der Himmel auf Erden. Jim und Joy erkennen die Arten einfach nur an ihrem Quaken. Dies ist beispielsweise ein brauner handgroßer Gopher-Frosch mit dunklen Punkten.

    Quaken kann man den Ruf des nächsten Frosches nicht unbedingt nennen. Es ist der Schweine-Frosch. Wenn man ihm zuhört, weiß man sofort, was ein einfacher kleiner Frosch mit einem Schwein zu tun hat.

    Jim lädt uns nun ein, einigen Vogelarten zu lauschen, von denen es hier 234 Arten gibt, die entweder dauerhaft oder vorübergehend während ihrer Wanderung in diesem Gebiet verweilen. Beim Lauschen stellen wir im Geräuschbild einen interessanten Unterschied fest. Während das Quaken der Frösche meist punktgenau aus einer Richtung kommt, weil sie einfach auf einem Seerosenblatt sitzen, bewegen sich die Rufe der Vögel irgendwo im Raum über uns.

    "Ein Nachtvogel, den man hier oft hört, ist der Streifenkauz."

    Geräusch Streifenkauz

    "Eine Art ist der Blaureiher. Soweit ich informiert bin, kommt der Blaureiher auch in Europa vor."

    Geräusch Blaureiher

    "Diese Vogelart ist eine in den Südstaaten lebende Carolinanachtschwalbe."

    Geräusch Carolinanachtschwalbe

    "Die nächste Vogelstimme, die Sie hören, stammt von einer sehr gefährdeten Art, die wir ganz besonders schützen. In lebenden Pinien baut er seine Höhlen. Es ist der Rotkopfspecht."

    Die fliegenden Bewohner dieser schier unermesslichen Wasser- und Sumpflandschaft können ihr Reich in alle Himmelsrichtungen ohne jede Begrenzung erschließen. Für alle, die unten unterwegs sind, insbesondere für uns Menschen, gibt es drei Zugänge zum Okefenokee Wildlife Refuge, Waycross im Norden, Folkston im Osten und westlich von Fargo, dem Swanee River folgend.

    "Wir haben 120 Meilen Wasserwege, die man in der Wildnis mit verschiedensten Booten nutzen kann. Einige davon kann man auch über Nacht mit Kanus befahren. Wir haben Campingplattformen errichtet, auf denen man mit Vorreservierungen bis zu 5 Tage im Sumpfgebiet bleiben kann."

    Die Übernachtung auf einer dieser Plattformen wird dann das endgültige Eintauchen in diese andere Welt, denn am späten Abend, wenn unzählige Sterne ungestört vom Streulicht menschlicher Siedlungen wie ein Feuerwerk über dieser Wildnis funkeln, dann beginnt das Nachtkonzert. Es ist das Crescendo aller Wesen, die sich hier, mitten in Georgia, einen noch nahezu unberührten Lebensraum teilen, in dem wir Menschen wirklich nur Besucher sind.