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Tierversuche
Neuronen in der Petrischale als Ersatz für Laborratten

Medizin. - Drei Millionen Versuchstiere wurden im Jahr 2012 in Deutschland für die Forschung verwendet und damit etwas mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig arbeiten Wissenschaftler aber auch an Ersatzmethoden, damit Tierversuche in Zukunft seltener werden.

Von Magdalena Schmude | 21.03.2014
    "Den Zellen geht es super, sonst würden die nicht so schön aussehen, die sind also nicht mit Giftstoffen behandelt. Wir schauen jetzt mal in den Brutschrank rein…"
    Michael Stern nimmt eine der durchsichtigen Plastikschalen aus dem Wärmeschrank und trägt sie auf die andere Seite des Labors. Dort stellt der große, bärtige Mann die Schale behutsam unter dem Mikroskop ab. Die Zellen darin sind mit einer hellrosa Nährlösung bedeckt.
    "Und jetzt sehen wir hier Gruppen von Nervenzellen die wie so kleine Minigehirnchen zusammenliegen und die Kabel, die man dazwischen sehen kann, das sind also die Nervenleitungsbahnen…"
    Michael Stern und seine Kollegen an der Tiermedizinischen Hochschule in Hannover erforschen die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Dafür lassen sie Krebszellen, die sich noch unbegrenzt teilen können, zu Nervenzellen reifen. Sie geben der rosa Nährlösung einen Signalstoff zu, der in den Zellen das gleiche Entwicklungsprogramm aktiviert, das auch im embryonalen Gehirn abläuft. Die Zellen differenzieren sich zu Nervenzellen und verändern dabei ihren Stoffwechsel und ihre Form. Ein sensibler Prozess.
    "Man weiß, dass bestimmte Stoffe die Gehirnentwicklung stören oder schädigen. Da hat man als Beispiel das Methylquecksilber, das kennt man aus Chemieunfällen in Indien, wo Chemikalienabfälle ins Meer gelangt sind, sich über die Nahrungskette in Fischen angereichert haben, und dann gab es in der lokalen Bevölkerung schwerste Behinderungen bei Kindern."
    Bisher ist erst für wenige Substanzen eindeutig nachgewiesen, dass sie die Gehirnentwicklung stören. Denn das wird an schwangeren Ratten getestet und die Versuche mit lebenden Tieren, sogenannte in-vivo-Tests, sind aufwendig und teuer. Michael Stern und seine Kollegen wollten eine Alternative entwickeln und griffen stattdessen auf die Zellen in ihrem Brutschrank zurück. Ein solcher Ansatz in der Zellkulturschale wird in vitro genannt. Die Forscher behandelten die reifenden Nervenzellen mit verschiedenen Stoffen, darunter auch Natriumvalproat, ein Wirkstoff gegen Epilepsie, dessen schädigende Wirkung auf die Reifung von Nervenzellen bekannt ist. Anschließend kontrollierten sie, wie sich die Zellen entwickelten. Voll ausgereifte Nervenzellen bilden das Strukturprotein ß-Tubulin III, das für die Form der Zellen wichtig ist. Dieses Protein können die Forscher gezielt anfärben. Unter dem Mikroskop leuchten gesunde, ausgereifte Nervenzellen dann rot.
    "Dann kann man sich also ans Mikroskop setzten und die auszählen. Und guckt dann, wie ist das bei Zellen, die unterschiedlich behandelt worden sind, sieht man da unterschiedliche Zahlen von Zellen."
    In den Schalen, die mit dem Epilepsiemedikament behandelt worden waren, fanden die Forscher deutlich weniger rote, also vollständig ausgereifte Nervenzellen als in jenen, die mit ungefährlichen Stoffen wie dem Schmerzmittel Paracetamol behandelt worden waren. Der in-vitro-Test zeigte die schädlichen Substanzen zuverlässig an.
    Außerdem kontrollierten die Forscher einen zweiten Parameter, die Motilität der Zellen, also deren Fähigkeit, sich aktiv fortzubewegen. Im Gehirn werden neue Nervenzellen nur in bestimmten Bereichen im Inneren gebildet.
    Michael Stern: "Das heißt, die müssen bis zu ihrem Zielpunkt im stark gewundenen Cortex hinwandern und diesen Weg richtig finden. Diese Zellmotilität ist absolut notwendig, damit sich ein funktionierendes Gehirn ausbilden kann."
    Auch in der Petrischale wandern die Nervenzellen. Um diese Bewegung zu messen, sorgten die Forscher mit einer Art Gummistöpsel dafür, dass ein bestimmter Bereich der Schale zunächst frei blieb. Dann entfernten sie den Stöpsel und zählten, wie viele der Zellen in den vorher blockierten Bereich hineinwanderten. Diese Zahl nahm ab, wenn die Zellen während der Reifung mit dem schädlichen Natriumvalproat behandelt worden waren. Als nächstes müssen die Forscher zeigen, dass der Test in der Petrischale auch für eine Reihe bisher ungeprüfter Substanzen zuverlässige Ergebnisse liefert. Wenn das funktioniert, kann er als offizielle Ersatzmethode zu Tierversuchen zugelassen werden.
    "Es ist auf jeden Fall ein gutes Modell, um zu erkennen, welche Stoffe potentiell gefährlich sind. Es wird sicherlich bei besonders kritischen Sachen noch mal mit dem Tierversuch nachgetestet werden müssen. Aber dann weiß man schon mal den Konzentrationsbereich und das Zeitfenster, in dem man gucken muss."
    Ein weiterer Vorteil der in-vitro-Methode: Sowohl die rote Farbe der Zellen als auch ihre Beweglichkeit können die Forscher mit Kamera und Computer automatisch messen. Das spart Zeit und Arbeit und ist wichtig, weil ein Test auf Entwicklungsneurotoxizität in Zukunft zur Pflicht werden könnte. Dann müssten sowohl neu zugelassenen Chemikalien und medizinische Wirkstoffe als auch bis zu 30.000 Stoffe, die bereits auf dem Markt sind, neu geprüft werden.