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Till Schelz-Brandenburg/Susanne Thurn (Hrsg.), Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1895-1905)

Bei Sozialdemokratens streitet man sich heutzutage vorzugsweise auf dem Weg über so ein geistreiches Organ wie 'Bild’ oder man räsoniert in sogenannten Talkshows, für die es in der deutschen Sprache keinen angemessenen Begriff zu geben scheint. Man wird es jedenfalls in 100 Jahren schwer haben anhand eines Briefwechsels nachzuvollziehen, wie etwa eine ideologische Kehrtwende von Lafontaine zu Schröder zustande gekommen ist. Vor hundert Jahren haben sich Sozialdemokraten immerhin noch lange Briefe geschrieben, in denen sie intelligente Argumente für oder wider die Revolution ausgetauscht haben. Damals gab es in dieser Partei auch noch Intellektuelle, die - vielleicht in Ermangelung eines Fernsehers - sich noch mit gesellschaftstheoretisch bedeutenden Zukunftsfragen auseinandergesetzt haben. Man las noch Marx und machte sich Gedanken über so kniffelige Probleme wie die Identität von Mehrwertproduzent und dessen Einsicht in die Mehrwertproduktion, eine den Apologeten der Agenda 2010 vermutlich eher unbekannte Angelegenheit. Umso lehrreicher ist es heute, den Briefwechsel Eduard Bernsteins und Karl Kautskys aus den Jahren 1895 bis 1905 nachzulesen. Er ist unlängst im Campus Verlag erschienen, herausgegeben von Till Schelz-Brandenburg und gibt interessante Einblicke in das Denken von zwei der bedeutendsten Köpfe der Frühgeschichte der deutschen Sozialdemokratie.

Hans-Martin Lohmann |
    Eduard Bernstein und Karl Kautsky galten vor hundert Jahren als die theoretischen Köpfe und intellektuellen Wortführer der deutschen Sozialdemokratie, die sich damals zur ersten politischen Massenorganisation im Kaiserreich entwickelte. Als legitime Erben von Marx und Engels, mit denen sie noch persönlich bekannt gewesen waren und deren nachgelassene Schriften sie herausgaben, avancierten beide in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einflussreichen Instanzen, was die marxistische Tradition der Sozialdemokratie und deren Umgang damit betraf. Kautsky, Redakteur der Neuen Zeit und Verfasser vor allem von Schriften über die Geschichte der sozialistischen Bewegung, rückte um die Jahrhundertwende mehr und mehr zum marxistischen "Kirchenvater" auf, dessen Name zum Synonym für die "reine Lehre" des marxistischen Zentrums wurde. Bernstein hingegen, geistig beweglicher und anpassungsfähiger als der vier Jahre jüngere Kautsky, trat Ende der neunziger Jahre mit politischen Thesen hervor, die das revolutionäre Selbstverständnis der SPD radikal infrage stellten und diese, wenn auch gegen mannigfache Widerstände, schließlich auf einen Weg brachten, den sie seither nicht verlassen hat – auf den Weg einer sozialen Reformpolitik, die mit der Vorstellung von einem gewaltsamen revolutionären Bruch und einem sozialistischen "Endziel" der Geschichte, nämlich der klassenlosen Gesellschaft, bricht. Bernsteins berühmt gewordener Satz lautet:

    Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.

    In den Gestalten Kautskys und Bernsteins personifizierte sich um die Jahrhundertwende ein virulenter Konflikt, der nicht ohne Erbitterung ausgetragen wurde und in der Folge das gesamte "kurze" 20. Jahrhundert auf Seiten der europäischen Linken prägen sollte: der Gegensatz von Reform und Revolution, von Sozialdemokratie und Bolschewismus bzw. Kommunismus. Es entspricht daher nur der historischen Bedeutung Bernsteins und Kautskys (der freilich à la longue Bernstein in der Sache näher stand, als es die aktuelle Konfliktlage zunächst vermuten ließ), dass nunmehr ein wesentlicher Teil ihres umfangreichen Briefwechsels publiziert vorliegt, der aufschlussreiche Einblicke sowohl in das persönliche und politische Verhältnis der beiden Männer zueinander als auch in ihr Verhältnis zur deutschen Sozialdemokratie und zur europäischen Arbeiterbewegung gewährt. Von den insgesamt knapp 1000 Briefen, die für den Zeitraum zwischen 1879 und 1933 erhalten sind, hat der Herausgeber jenen Teil der Korrespondenz, 307 Stücke, veröffentlicht, der die Vorgeschichte und schließlich den Konflikt selber dokumentiert. Seine größte Dichte entfaltet der Briefwechsel in den Jahren 1895-1899, danach wird der Austausch zwischen Bernstein und Kautsky immer spärlicher und versandet nach 1905 für Jahre gänzlich. War Bernstein für Kautsky lange Zeit "My dear old boy" bzw. "Mein lieber Ede" und dieser für ihn "Mein lieber Baron", gar "Geliebter Ketzer, Katzenanbeter und Katzenküsser", so erkaltet der Ton später zum geschäftsmäßig-distanzierten "Lieber Ede" und "Lieber Kautsky".

    Seine Substanz zieht der Briefwechsel nicht zuletzt aus dem von beiden Korrespondenten immer wieder thematisierten Spannungsverhältnis zwischen der Partei und ihren organisationspolitischen Erfordernissen einerseits und jener bürgerlichen Privatheit andererseits, in welcher Bernstein und Kautsky ihre Theorieproduktion betrieben. Obwohl anerkannte und offizielle Exegeten des Partei-Marxismus und kraft ihrer Stellung als Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften im Besitz eines theoretischen Deutungsmonopols, hatten Bernstein und Kautsky immer wieder größte Schwierigkeiten, die Notwendigkeit und Unabhängigkeit intellektueller Arbeit gegenüber den maßgeblichen Parteikreisen plausibel zu machen, aus denen ihnen nicht selten Ignoranz oder Misstrauen entgegenschlug. In seiner Einleitung notiert der Herausgeber :

    Mit der Entwicklung der sozialdemokratischen Partei zur Massenpartei [...] verschwindet jene Identität von Mehrwertproduzent und Einsicht in die Mehrwertproduktion, wie sie Marx vorschwebte. Erhalt und Ausbau der Partei und nicht die theoretische Durchdringung der Gesellschaft werden jetzt, lange vor dem leninistischen Hybrid-Typ, zur dominanten Aufgabe der Parteimitglieder.

    Und so häufen sich bei den Korrespondenten die Klagen über das Desinteresse der "Politiker", z.B. August Bebels, Ignaz Auers und Paul Singers, an der Arbeit der "Theoretiker" – ein Desinteresse, das sich nicht zuletzt auch daran ablesen lässt, dass die Führung der SPD sich beharrlich weigerte, die von Kautsky redigierte Neue Zeit, immerhin das zentrale Theorieorgan der Partei, aus eigenen Mitteln zu finanzieren, dies vielmehr dem Stuttgarter Verleger Dietz überließ, der wiederum als guter Kapitalist alles daransetzte, die Kosten des Blattes nach Kräften zu drücken und damit dessen Qualität zu gefährden. So stößt Kautsky anlässlich eines parteiinternen Streits über die Haltung zu einer Wahlrechtsänderung in Sachsen den resignierten Seufzer aus:

    Wozu noch versuchen, in die deutschen Parteiverhältnisse aktiv einzugreifen? Werden wir akademisch.

    Auch Bernstein möchte zuweilen nur noch "akademisch" sein, d.h. Theorie um der Theorie willen und ohne Rücksicht auf parteipolitische Zwänge treiben:

    Ich sehne mich nach einer Existenz, wo ich der Partei ganz unbefangen gegenüberstehe, durch nichts gebunden oder getrieben als meine Überzeugung. Das würde mir eine innere Ruhe zurückgeben, die ich heute entbehre. Heute leide ich unter dem Gefühl einer doppelten Verantwortung: der des Theoretikers und der des Agitators, und das sind [...] zweierlei Dinge.

    Damit spricht Bernstein ebenjenes Dilemma an, in das beide zunehmend gerieten. Vermochte Marx dreißig Jahre früher noch rücksichtslos den Primat der Theorie durchzusetzen und die Organisation zum Teufel zu wünschen, so ist Bernstein und Kautsky dieser Weg nun versperrt. Die pure Existenz einer sozialdemokratischen Massenorganisation und einer nach Millionen zählenden Wählerschaft, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt, zwingt die Theoretiker zu Opportunitätserwägungen und taktischen Finessen, welche die Theorie und die Bedingungen ihrer Produktion selber berühren: Beide verlieren sozusagen ihre Unschuld, indem sie sich dem organisationspolitischen Druck fügen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Bernstein über die künftige prinzipielle Orientierung der SPD – Reform oder Revolution – mahnt Kautsky seinen Freund:

    Wir sind nun einmal keine Eingänger [...], die keine Rücksichten zu nehmen brauchen, die ihre Kritik dort ansetzen, wo es ihnen beliebt, wir sind Parteimänner und müssen, wenn auch nicht unsere Überzeugungen, so doch unser Vorgehen den Bedürfnissen der Partei anpassen. Für diese Beschränkung werden wir reichlich entschädigt dadurch, dass hinter uns die ganze Kraft der Partei steht, die jedem unserer Worte eine ganz andere Bedeutung verleiht, als es das des begabtesten Eingängers hat.

    Zwei Jahre früher hatte Kautsky allerdings noch Vorbehalte angemeldet, wenn es um sein Verhältnis zur Partei bzw. zur Parteiführung ging:

    Ich glaube, dem Parteivorstand und unsern Verlegern geht es wie den Theater-Direktoren, sie halten das Publikum für dümmer als es ist. Nur der Schund zieht, nur nichts bringen, wobei das Publikum nachdenken muss.

    Irgendwie kommt einem das auch heute bekannt vor, egal, ob es um die SPD oder um die Darbietungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geht: Sie halten das Publikum für dümmer als es ist.

    Bernsteins Widersacher im sogenannten Revisionismusstreit haben ihm immer wieder vorgeworfen, seine Abwendung vom "reinen" Marxismus habe mit seiner Beeinflussung durch die gemäßigte britische Arbeiterbewegung – Tradeunionismus und Fabianismus – zu tun, der er während seiner langen Exiljahre in London ausgesetzt gewesen sei. Tatsächlich zeigt seine Korrespondenz mit Kautsky, der zwischenzeitlich seinerseits erwog, von Stuttgart nach London zu wechseln, ein vielfältiges und enges Beziehungsgeflecht zum "englischen Milieu". Es entbehrt allerdings nicht der Ironie, dass Bernstein mit Recht darauf pochen konnte, dass es ja gerade die britischen Verhältnisse waren, an denen Marx seine Kritik der politischen Ökonomie entwickelte und damit das theoretische Fundament sozialdemokratischer Politik legte.

    Insgesamt bildet der dichte Briefwechsel zwischen zwei der bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Sozialdemokratie ein unerschöpfliches Reservoir für das Verständnis der europäischen Arbeiterbewegung in der Phase ihres scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs vor dem durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten großen Schisma in konkurrierende und sich bekämpfende Fraktionen und Parteien. Ebenso dokumentiert er die prekäre und zweideutige Rolle, welche marxistische Intellektuelle, hin- und hergerissen zwischen Parteidisziplin und Denkfreiheit, zu spielen genötigt waren. Schließlich belegt er auch – und das ist nicht das Schlechteste, was man über die damalige SPD sagen kann –, dass es möglich war, politische Kontroversen offen auszutragen, ohne dass einer der Betroffenen, in diesem Falle Bernstein, mit Sanktionen zu rechnen hatte. Zum wertvollsten Erbe der Sozialdemokratie – und das unterscheidet sie bis heute von allen Varianten des Kommunismus, aber auch von vielen bürgerlich-konservativen Parteien – gehören ohne Zweifel ihre Liberalität und das immer wieder durchgefochtene Prinzip innerparteilicher Demokratie. Insofern besitzt die historisch folgenreiche Auseinandersetzung zwischen Bernstein und Kautsky um die "richtige Linie" auch heute noch paradigmatischen Charakter.

    Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1895 - 1905). Eingeleitet und herausgegeben von Till Schelz-Brandenburg unter Mitarbeit von Susanne Thurn. Das 1160 Seiten starke Buch ist im Campus Verlag erschienen und kostet 129.90 Euro.