
Das einzige Werk Tizians, das heute noch zur Sammlung des Prager Hradschins gehört, ist "Die Frau vor dem Spiegel", die der Maler in jungen Jahren zwischen 1512 und 15 gemalt hat. Außerdem befindet sich noch eine "Schindung des Marsyas" im ostmährischen Kromeriz – das Gemälde ist allerdings nicht mehr transportfähig und wird deshalb in dieser Ausstellung durch eine verwandte Fassung aus Venedig ersetzt. Um diese beiden Werke entfaltet die große Tizian-Koryphäe Lionello Puppi ziemlich virtuos eine Reihe von Motivketten, die um den Begriff der "Vanitas" kreisen. Zahlreiche Wiederholungen von einzelnen, gut verkäuflichen Motiven in Tizians Werkstatt belegen, dass er selbst ein geschickter Bediener sammlerischer Eitelkeiten seiner Zeit war. Von der "Dame vor dem Spiegel" hängen hier gleich vier verschiedene Versionen nebeneinander, eine spektakuläre Reihe, die zum ersten Mal so zu sehen ist und die Händescheidung innerhalb seiner Werkstatt intim erfahrbar macht.
Farbwolken
Charakteristisch für Arbeiten von der Hand Tizians sind die feinen Farbaufträge mit oft nur einem Pinselstrich, die vor allem im Spätwerk betont aus der malerischen Geste geschaffene Form. Durch sie entsteht die dynamische, überaus leicht wirkende Gesamtkomposition von Figuren und Farben. In den Versionen seiner Werkstatt hingegen findet man häufig fein gezogene, wie gezeichnete Umrisslinien sowie übereinander angelegte und konturierte Farbschichten, um beispielsweise den Glanz eines Stoffes oder von Haaren und Körperpartien zu betonen. Tizians Motive lösen sich oft geradezu in Farbwolken auf, wenn man sich einem Bild nähert. Bei seiner Werkstatt erkennt man die Konturen noch aus großer Nähe. Der Ausdruck der Figuren wirkt dabei statischer und viel weniger lebendig.
Eitelkeit und Prunksucht
Die "Frau vor dem Spiegel" ist schon deshalb ein ungewöhnliches Bild, weil sie bis heute als Vanitas-Motiv gilt, also als symbolische Darstellung menschlicher Eitelkeit und Vergänglichkeit, dabei fehlen ihr dafür eigentlich die typischen Attribute. Lionello Puppi hat eine Darstellung der Magdalena als Büßerin mit Kreuz und Totenschädel von Jacopo Palma dem Älteren hinzugefügt, um zu zeigen, dass Frauenfiguren als Verkörperung von Eitelkeit und Prunksucht in Tizians Zeit nicht ungewöhnlich waren. Aber die "Frau vor dem Spiegel" ist keine eitle Sünderin mehr, und sie ist nicht allein: Ein männlicher Diener steht hinter ihr und assistiert ihr, indem er sie mit zwei Spiegeln umgibt, durch die sie sich von vorn und hinten gleichzeitig betrachten kann. Die Spiegel versinnbildlichen dabei aber zugleich den Blick von außen, also auch den des Betrachters. Ohne diesen fremden Blick ist die selbstbezogene Vanitas bei Tizian nicht denkbar.
Sinnliche Anmut
Der "Frau vor dem Spiegel" gleich gegenüber hängt eine große "Venus im Bade" aus der Werkstatt von Guido Reni, die von ihren vielen Helfern geradezu in die Selbstverzückung getrieben wird. Tizian spielt das Spiel der fremden und eigenen Blicke aber subtiler als Reni und macht den Betrachter selbst zum Helfer, indem dieser sich der Verführung aus Geheimnis und Schönheit gar nicht entziehen können soll. Das gilt natürlich vor allem für ein weiteres Hauptwerk der Ausstellung – die vor sinnlicher Anmut strotzende "Flora" des jungen Tizian aus den Uffizien.
Geisterhafte Ölstudie
Aber welch andere Welt zeigt da scheinbar die brutale "Häutung des Marsyas" – eine unverhüllt drastische Folterszene, in der sich der alte Tizian kurz vor seinem Tod selbst dargestellt haben soll, als alter König Midas, der die Szenerie vom Bildrand her versunken beobachtet. Doch Lionello Puppi ergänzt diese Darstellung mit einer Reihe von Bildnissen Tizians durch sich selbst oder durch Zeitgenossen und lenkt den Blick damit indirekt auch wieder hinüber auf das Motiv des eigenen und fremden Blicks. In ihrer Variation zeigen die Selbstbildnisse ihren Spiegelcharakter für den Künstler, sie spielen ebenso mit der Selbst- und Außenwahrnehmung, wie es schon bei der "Frau vor dem Spiegel" der Fall war. Eine geisterhafte Ölstudie zu Tizians Antlitz in dramatischem Hell-Dunkel-Kontrast sticht hier jedoch alle anderen aus. Sie stammt aus Tizians Werkstatt und war bislang kaum einmal öffentlich zu sehen. Und am Kopfende der Ausstellung prangt dazu das Originaldokument Kaiser Karls V., der Tizian 1533 in den Rang des Hofmalers und Ritters vom Goldenen Sporn erhob. Erstmals überhaupt ausgeliehen vom Stadtarchiv in Tizians Geburtsort Pieve di Cadore, besiegelt es wie ein Schlusstein auch die künstlertypische Vanitas. Denn der von allen vergötterte Tizian produzierte mit seiner Werkstatt in dieser Zeit serienmäßig Fetischobjekte für den Jahrmarkt fürstlicher Eitelkeiten im Habsburgerreich – und der Prager Hof war nur einer von vielen Kunden.