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Tocotronic
"Im Pop hat Authentizität nichts zu suchen"

Das neue, elfte Album von Tocotronic trägt keinen Namen, aber es hat eine Farbe: rot - wie die Liebe. In 13 Songs singt Dirk von Lowtzow über Herzensangelegenheiten. Im DLF-Interview erklärt er den Unterschied zwischen Kitsch und Camp dabei.

Dirk von Lowtzow im Gespräch mit Christoph Reimann | 25.04.2015
    Der Bassist Jan Müller (l-r), Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail, Schlagzeuger Arne Zank und Sänger Dirk von Lowtzow der Band Tocotronic am 16.03.2015 in Berlin
    Der Bassist Jan Müller (l-r), Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail, Schlagzeuger Arne Zank und Sänger Dirk von Lowtzow der Band Tocotronic am 16.03.2015 in Berlin (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
    Christoph Reimann: Herr von Lowtzow, mit dem "roten Album" haben Sie und Ihre Bandkollegen ein Konzeptalbum über die Liebe gemacht - und zwar mit Mitte 40. Brauchte es denn erst so viel Lebenserfahrung oder Liebeserfahrung, um diese Platte zu machen?
    Dirk von Lowtzow: Da stellen Sie eine sehr gute Frage. Das weiß ich nicht. Es erschien uns zumindest zum jetzigen Zeitpunkt das richtige Thema für uns. Vielleicht hätte man es auch schon vor zehn Jahren oder 15 Jahren machen können. Aber ich hatte das Gefühl, dass das Thema gerade in der Luft liegt. Beispielsweise bei anderen Künstlerinnen und Künstlern, mit denen man in Kontakt steht, oder in theoretischen Texten. Man kennt es ja manchmal, es gibt so Dinge, die sind manchmal around, und das findet man interessant, und so wird man natürlich auch interessiert.
    Reimann: Was für theoretische Texte waren denn zum Beispiel Grundlage?
    Von Lowtzow: Ach, allerhand. Ich vergesse das dann immer wieder. Aber es gab vor nicht allzu langer Zeit einen Interview-Band von einem französischen Schriftsteller, Philosophen, Alain Badious, der heißt "Lob der Liebe". Es gab, glaube ich, auch einen Film von Jean-Luc Godard, der genauso hieß, "Éloge de l'amour". Ja, so gab es ein paar solcher Sachen, wo man das Gefühl hat: Vielleicht ist Liebe etwas, das man gerade jetzt so in den Blickwinkel rücken könnte.
    Reimann: Weniger aktuell und was mir dann eingefallen ist, weil Ihre Songs ja auch so etwas sind wie ein ABC der Liebe, waren Roland Barthes "Fragmente einer Sprache der Liebe" oder, musikalisch gedacht, kennt man vielleicht so ein Album wie die "69 Love Songs" von den Magnetic Fields.
    Von Lowtzow: Ja, das stimmt. Das ist witzig: "69 Love Songs" von den Magnetic Fields sind eines meiner absoluten Lieblingsalben. Komischerweise, es ist wirklich witzig, ist mir das erst vor ein paar Tagen, als mir die Frage gestellt wurde, gibt es Alben, die das Thema Liebe behandeln, die Vorbildfunktion hatten, ist mir das eingefallen. Beim Schreiben des Albums habe ich überhaupt nicht daran gedacht. Aber es ist wirklich eins der besten Popwerke aller Zeiten, finde ich. Ich bin ein großer Verehrer von Stephin Merritt und seiner Kunst. Nur komischerweise beim Schreiben des Albums habe ich gar nicht daran gedacht.
    Reimann: Auf den 69 Liedern, die da vorkommen auf der "69 Love Songs"-Platte, geht es auch viel um Liebeskummer. Das habe ich auf Ihrer Platte gar nicht so deutlich rausgehört. War das eine bewusste Entscheidung?
    Von Lowtzow: Ja, da geht es ja um alle Facetten der Liebe bei den "69 Love Songs", und es sind ja auch ein paar mehr.
    Reimann: Eben. Sie haben ja nur 13 Songs auf der Platte.
    "Wir arbeiten da relativ assoziativ"
    Von Lowtzow: Ja, Liebeskummer ... war vielleicht tatsächlich für uns nicht so ein Thema. Vielleicht, weil das ein sehr schwieriges Feld ist. Es gibt doch sehr viele Songs, die über Liebeskummer, natürlich. in der Popgeschichte. Es ist ein Feld, was auch - wenn ich da richtig liege - im Schlager oft behandelt wird, wogegen ich gar nichts habe, aber das war ... Vielleicht bot sich das für uns gar nicht so an.
    Reimann: Sie haben es ja gerade gesagt: Es gibt wahnsinnig viele Lieder über Liebeskummer. Es gibt überhaupt wahnsinnig viele Lieder über die Liebe. Sie mit Tocotronic haben das in den letzten 20 Jahren Ihrer Karriere eher seltener gemacht, über die Liebe singen. Aber was können Sie denn noch hinzufügen, was nicht schon gesagt wurde?
    Von Lowtzow: Also, ich finde, man kann ja auch Dinge aufgreifen, die schon mal woanders vielleicht gesagt worden sind. Oder man kann sich auch dadurch inspirieren lassen. Nicht zuletzt ist es ja so, wenn man auf Deutsch textet, glaube ich, hat man auch immer ein gewisses Maß an Übersetzung. Es ist auch immer ein bisschen eine Übersetzungstätigkeit, die einen dann vielleicht auf eine andere Fährte führt als das Original. Ich erinnere mich zum Beispiel: Wir haben das Stück "Haft". Die erste Zeile des Stückes heißt "Ich hafte an Dir". Und das ist natürlich original "I'm stickig with you" von Velvet Underground, das wunderbare Duett von Lou Reed und Moe Tucker. Aber das deutsche Wort Haft hat noch eine Nebenbedeutung anders als das Wort sticking im Englischen. Man denkt auch an Haft im Sinne von Gefängnis. Oft sind es solche Sachen: Man wird von etwas inspiriert von etwas, das es schon gibt und denkt: Wie wäre das, wenn man das eins zu eins übersetzt, merkt dann, das hat aber eine ganz andere Bedeutung oder hat noch eine zusätzliche Bedeutung. Und so schaut man mal, wo der Ball so hinrollt. Wir arbeiten da relativ assoziativ. Insofern hat sich das Problem, das zu diesem Thema schon alles gesagt wurde, hat sich für uns gar nicht gestellt. Bei dem Album schien es uns doch die richtige Herangehensweise, immer weiter zu vereinfachen, zu subtrahieren, um zum Kern der Sache vorzudringen. Insofern ist es eigentlich, weil Sie vorher erwähnten, Roland Barthes und die "Fragmente einer Sprache der Liebe" - natürlich ein fantastisches Buch - es ist aber eigentlich fast das Gegenmodell dazu. Denn da wird ja die Liebe aus Tausenden verschiedenen literarischen Zitaten von Goethe bis Proust sprachlich analysiert. Bei uns war es eigentlich so, dass wir gesagt haben: Wir würden es gerne vermeiden, so offensichtlich zitathaft zu arbeiten.
    Reimann: Wenn wir jetzt gerade bei Sachen sind, die man vermeidet ... Liebeslieder sind oft kitschig. War das etwas, was Sie vermeiden wollten? Sie haben ja eine gewisse Vorliebe für Camp und Kitsch.
    Von Lowtzow: Ja, absolut. Das ist ... Es ist gar nicht so leicht darüber zu reden, weil es im Deutschen die Unterscheidung zwischen Kitsch und Camp nicht gibt. Nicht so viele Leute wissen, was Camp bedeutet, sozusagen die positive Auslegung von Kitsch, oder das Annehmen von Kitsch als etwas Positives und auch das Umdeuten dessen. Das ist etwas, was mir extrem wichtig ist und was ich sehr, sehr mag. Insofern finde ich: Es gibt einen Kitsch, der einem gefällt als Songwriter oder als Band, grundsätzlich, wir mögen das, und das sollte man dann auch umarmen, und das sollte man dann auch ganz offen ausstellen. Es gibt ein Lied auf dem Album, das heißt „Zucker“. Das ist eigentlich eine Aneinanderreihung all dessen, was wir als campy empfinden und insofern auch einen Absage an ein normiertes Männerbild. Wohingegen Kitsch ja dann oft schlecht wird, wenn es sentimental ist, wenn es zu emotional wird. Es gibt ja eine Art Kitsch, die gerade dadurch entsteht, dass Menschen Kitsch vermeiden wollen.
    "Man wird nicht mit seiner persönlichen Geschichte belästigt"
    Reimann: Können Sie sagen, woher das kommt? Diese Vorliebe für Kitsch, für Camp bei Ihnen? Haben Sie eine Ahnung?
    Von Lowtzow: Ich stehe halt nicht so auf die authentische Äußerung als solche. Ich finde, das ist total überbewertet. Meiner Meinung nach hat Authentizität in Popmusik nicht so viel zu suchen. Im Bereich Popmusik. Das ist ein künstlerisches Genre, das ist ein gebautes Ding, das sind Konstruktionen, Popsongs, und zwar in einem relativ kurzen Zeitbereich, also drei bis fünf Minuten. Das ist ein hochkünstliches Genre, und ich finde, da hat Authentizität nicht so viel zu suchen. Und dann wird es eben meines Erachtens meistens kitschig. Und deshalb mag ich eher ... ja, ich mag diese Künstlichkeit und dieses Campy-Gefühl.
    Reimann: Auch dieser Sound ist ein bisschen künstlicher als auf der Platte zuvor. Man denkt an die vielen Synthesizer, die man auf der Platte hören kann. Und gleich im ersten Song, im "Prolog“, da hört man ja einen Autotune-Effekt, diesen berühmten Cher-Effekt. Wie sind Sie denn dazu gekommen?
    Von Lowtzow: Fanden wir halt geil. Und da haben wir gedacht: Das klingt super. Ich persönlich mag das sehr gern. Ich finde das ein gutes Beispiel. Das ist künstlich, irgendwie befremdlich. Ich meine, ich würde das jetzt nicht auf jedes Stück draufpacken, aber in dem Fall vom "Prolog" fanden wir alle, hat das musikalisch sehr, sehr schön funktioniert.
    Reimann: Sind Sie denn ein Hörer von Liebesliedern? Haben Sie ein Lieblingsliebeslied?
    Von Lowtzow: Ich meine, ich bin ein Hörer von Popmusik, schon immer, seit ich Teenager bin. Ich bin Fan von Pop- und Rockmusik. Deshalb bin ich ja glücklicherweise auch Popmusiker. Da ja nun doch ein sehr hoher Anteil der Lieder im Kanon der Popmusik Liebeslieder sind, sind da auch ganz viele Liebeslieder darunter. Wunderbares Liebeslied zum Beispiel "I keep a close watch at this heart of mine" von Jon Cale. Rührt mich zu Tränen. Oder von seinem ehemaligen Velvet-Underground-Kollegen "Satellite of Love" von Lou Reed, finde ich fantastisch gebaut und toll komponiertes Liebeslied.
    Reimann: Wir können ja bei einem Beispiel bleiben, bei "Satellite of Love". Was ist das Faszinierende für Sie daran?
    Von Lowtzow: Na ja, ich finde, man merkt bei einem Künstler wie Lou Reed, ganz banal gesagt, man merkt: Der beherrscht sein Handwerk. Und dass er … Und, das ist eben das, was ich mit dieser Unterscheidung zwischen Kitsch und Camp meinte: Lou Reed ist ein Künstler, der speziell mit "Transformer" eine Bibel des Camp vorgelegt hat, und "Satellite of Love" ist ja ein Stück, das durchaus auch kitschig ist. Es ist ein kitschiges Bild, es gibt einen Satelliten der Liebe und der steigt in den Sternenhimmel auf und so weiter. Es berührt einen. Es ist romantisch. Aber er schafft es, bei diesem Lied nicht von sich selber auszugehen, sondern es ist immer Songschreiber-Handwerk. Und das finde ich, das merkt man den Sachen an. Man wird nicht mit seiner persönlichen Geschichte belästigt, sondern er schafft es, dass man selber beim Hören des Stückes berührt ist und sich von dem Lied in eine eigene Geschichte hineinträumen kann. Und das ist, glaube ich, die Quintessenz dessen, was mich persönlich an Popmusik und Songwritertum interessiert.