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Tod an einem Frühlingstag

"Mein Leben war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben werden musste." Der gegen Ende seines Lebens so sprach, war kein Existentialist des 20. Jahrhunderts, sondern Johann Wolfgang von Goethe.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 22.03.2007
    "Mehr Licht!" Ob dies wirklich die letzten Worte des Dichterfürsten waren, darüber haben Gelehrte gestritten. Reizvoll auch die Idee einer modernen Satire, er habe eingedenk der Mühsal des Alters und der beginnenden Vergöttlichung seiner Person gesagt: "Mehr nicht!" Wahr ist jedenfalls, dass der Schwerkranke am Morgen des 22. März 1832 ein letztes Mal den Frühling prickeln fühlte und seine Schwiegertochter Ottilie bat: "Komm mein Töchterchen, und gib mir ein Pfötchen!" Goethe sah den Tod nicht als Feind, sondern als Diener der Schöpfung, als "Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben" und Verliebtheit beschrieb er als "das angenehme Gefühl, als wenn man bei Sonnenaufgang stürbe."

    In seiner letzten Stunde dann saß der Geheime Rat und Staatsminister bei verdunkeltem Fenster im Lehnstuhl, trank ein Glas Wein, schrieb mit dem Zeigefinger der rechten Hand etwas in die Luft und kurz vor Mittag entschlief er, allen Meerrettich-Kompressen und Spanisch-Fliegen-Pflastern des Hofmediziners zum Trotz. Das geschah nicht unerwartet, sondern, wie es in der Todesanzeige heißt

    "nach kurzem Krankseyn, am Stickfluss infolge eines nervös gewordenen Katarrhalfiebers. Geisteskräftig und liebevoll bis zum letzten Hauche [...] im drei und achtzigsten Lebensjahre."

    Viel Widersprüchliches war in Goethes Leben und Werk. Selige Sehnsucht zog ihn nach Westen und Süden. Aber als er sich entscheiden musste, ging er von Frankfurt am Main in den Osten, nach Thüringen. Er war ein Feind der Französischen Revolution und zugleich Bewunderer Napoleons, er nannte sich einen Nichtchristen und lobte die christliche Lehre, weil sie der "Erquickung des sittlichen Menschenbedürfnisses" diene, er achtete auf Manieren und nannte doch einen Kritiker "Arschgesicht", er war ein konservativer Regierungsbeamter, lebte aber zum Spott der Weimarer Bürger eineinhalb Jahrzehnte in wilder Ehe. Seinen letzten Heiratsantrag machte der 74-jährige Witwer einer 17-jährigen Ulrike, die ihn abwies und damit in den schrecklichsten Liebeskummer stieß. Sein friedvollstes Naturgedicht kritzelte er als Graffito an die Wand einer Berghütte:

    "Über allen Gipfeln ist Ruh
    In allen Wipfeln spürest Du
    kaum einen Hauch.
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur balde
    ruhest Du auch."

    Und er schrieb auch diese Zeilen, mit einem ganz bösen Blick auf die Natur:

    "Tote Sümpfe,
    Dampfende Oktobernebel
    Verweben ihre Ausflüsse
    Hier unzertrennlich.

    Gebärort
    Schädlicher Insekten,
    Mörderhülle
    Ihrer Bosheit.

    Am schilfigten Ufer
    Liegt die wollüstige,
    Flammengezüngte Schlange,
    Gestreichelt vom Sonnenstrahl."

    Alles, was war, war in Goethe, und das jeweilige Gegenteil auch. Die daraus erwachsenden inneren Spannungen, unter denen er zeitlebens litt und wohl auch die Menschen in seiner Nähe leiden ließ, nutzte er als Künstler zu immer neuen Steigerungen von Ausdruck und Einsicht. Eines der schönsten Beispiele dafür ist "Der West-Östliche-Diwan", ein Gedichtbuch von unendlicher Formenvielfalt, mit dem der fast 70-jährige Goethe zur Überraschung seiner Zeitgenossen versuchte, mehr Licht in das Verhältnis zwischen Christentum und Islam zu bringen. Und was ist ein Diwan, wenn es kein Sofa ist? Gisela Kraft, Dichterin und Islamwissenschaftlerin in Weimar:

    "Ein Diwan in der Poesie ist ein Sammelband aller Gedichte, die ein Dichter oder eine Dichterin geschrieben hat. Das fasst die Lyrik eines Dichters zusammen."

    Goethe, der in den Künsten lange Jahre neben Griechen und Römern nichts gelten lassen wollte, las im Alter den Koran, versuchte die muslimische Welt zu verstehen und studierte persische und arabische Dichter. Und heute? Kann man für unsere gegenwärtigen Konflikte etwas aus dem West-Östlichen Diwan lernen? Lohnt die Lektüre?

    "Ja bitte, es ist ja nicht mal sehr schwer zu lesen. Es macht einfach Spaß, und es sind ganz viele Liebesgedichte da drin. Ich muss gestehen, ich hab es, glaube ich, noch nicht von vorne bis hinten gelesen. Aber ich habe mindestens hundert Mal darin gelesen. Und für mich ist es ein ganz modernes Buch. Zwar sind die Verse im alten Stil und auch nachgeahmt der orientalischen Lyrik im alten Stil, aber die Gesinnung die da drin steckt, die Toleranz, die Offenheit und die Nähe der Religionen untereinander, das ist für mich das Moderne, der Dialog Ost-West, der längst zu unserm modernen Leben gehört."

    "Der West-Östliche-Diwan", in weltanschaulich erhitzter Zeit eine gute Empfehlung. Und wenn es nur um dieser kleinen Einsicht willen wäre, dass mit Widersprüchen zu leben ist, dass es ohne Osten keinen Westen gibt und ohne Tod kein Leben:

    "Aber wenn Du das nicht hast,
    Dieses Stirb und Werde,
    Bist Du nur ein trüber Gast
    Auf der dunklen Erde."