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Todesurteile gegen Muslimbrüder
"Ägypten steht schlechter da als vor Arabischem Frühling"

Für den Ägypten-Experten Stephan Roll waren die Todesurteile gegen fast 700 Muslimbrüder absehbar und wenig überraschend. Die Menschenrechtslage in Ägypten sei mittlerweile sogar noch schlechter als unter Staatspräsident Husni Mubarak, kritisierte der Orientforscher von der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin im Deutschlandfunk.

Stephan Roll im Gespräch mit Jürgen Liminski | 29.04.2014
    Mario Dobovisek: In Ägypten sind gestern Todesurteile gegen weitere fast 700 Muslimbrüder verhängt worden. Welche politischen und gesellschaftlichen Folgen haben diese Entscheidungen? Darüber sprach mein Kollege Jürgen Liminski am Abend mit Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
    Jürgen Liminski: Herr Roll, hat Sie das Urteil von Minia überrascht?
    Stephan Roll: Nein, es hat nicht überrascht. Es war absehbar, dass auch dieses zweite Massenurteil so ausfallen wird, wie es nun ausgefallen ist, nachdem ja bereits im März über 500 Menschen zu Tode verurteilt wurden wegen der gleichen Sache. So gesehen war das überhaupt nicht überraschend.
    Liminski: Nun werden vermutlich die meisten Urteile in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Nicht wenige werden aber dennoch vollstreckt. Sind Urteil und Vollstreckung als politische Abschreckung zu verstehen?
    Roll: Ich denke absolut, dass das politische Abschreckung ist, die wir hier sehen. Man Muss ja sehen, dass in Ägypten auf der einen Seite die Richterschaft in der Tat eine sehr fragwürdige Rolle spielt. Das kann man auch nicht nur mit, ich sage mal, schlechter Ausbildung entschuldigen, sondern wir sehen sehr häufig, dass hier wirklich willkürlich geurteilt wird. Und auf der anderen Seite – und das erklärt, warum diese Urteile definitiv politisch motiviert sind – spielt natürlich die Staatsanwaltschaft eine sehr, sehr problematische Rolle. Die Staatsanwaltschaft, die dem Justizministerium untersteht, war ja dafür zuständig, diese Gerichtsverfahren überhaupt in Gang zu setzen.
    "Urteile definitiv politisch motiviert"
    Liminski: Fällt Ägypten mit diesen politischen Urteilen in die Zeit Mubaraks zurück? Was bleibt vom Arabischen Frühling?
    Roll: Ich glaube, dass bedauerlicherweise Ägypten mittlerweile sogar noch schlechter dasteht, als das in den letzten Jahren unter Husni Mubarak der Fall war, denn wir haben mittlerweile eine Menschenrechtslage, die wirklich noch hinter das zurückfällt, was wir unter Mubarak gesehen haben. Wir haben wirklich exzessive Polizeigewalt nicht nur bei der Räumung dieser zentralen Plätze in Kairo im vergangenen Jahr, sondern auch in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gesehen, und deswegen muss man sagen, Ägypten steht schlechter da als vor Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings 2011.
    Liminski: Hat sich denn die Gesellschaft Ägyptens in den letzten Jahren überhaupt gewandelt?
    Roll: Es gibt und gab natürlich Dynamiken, die man auch nicht klein reden sollte. Die Menschen sind Anfang 2011 auf die Straße gegangen. Viele Menschen sind auch 2013, Mitte 2013 auf die Straße gegangen, um gegen die Muslimbruderschaft zu demonstrieren, und das ist durchaus neu gewesen in dieser Dimension. Es gab 2011/2012 durchaus auch ein hohes Niveau, würde ich sagen, an politischer Diskussion, an politischem Diskurs. Es gab eine Öffnung der Medien.
    Vieles davon ist aber zurückgenommen und zurückgedreht worden. Gerade in der Medienlandschaft sehen wir in den letzten Monaten, dass es eine mehr oder weniger, ja man muss schon sagen, Gleichschaltung gibt und dass Informationen, die hier verarbeitet werden, die hier fließen, wirklich gesteuert sind und der Errichtung eines neuen autoritären Systems dienen.
    "Medien-Gleichschaltung dient Errichtung von neuem autoritären System"
    Liminski: Sie waren oft in Ägypten, Herr Roll. Wie ist denn die Stimmung in den Eliten, jetzt nicht nur im Militär, sondern auch in den zivilen Eliten?
    Roll: Die Stimmung ist, denke ich, durch die Bank weg schlecht. Selbst die Ägypter, die mit der Muslimbruderschaft große Probleme hatten, sehr auf das Militär gesetzt haben, sind jetzt in den letzten Wochen und Monaten, glaube ich, eher misstrauisch geworden, weil das ganze so eine große Unberechenbarkeit hat. Vieles ist einfach überhaupt nicht voraussehbar, insbesondere wenn wir jetzt auf die Präsidentschaftswahlen sehen.
    Natürlich finden einige Ägypter diese Figur Abdel Fattah al-Sisi, der wahrscheinlich auch Präsident wird, gut und sehnen sich nach dem starken Mann. Aber gerade die, die ein bisschen weiter denken, sagen natürlich, wir wissen eigentlich gar nicht, was der Mann will, für was dieser Mann steht, auch ideologisch, was dieser Mann tatsächlich für Ideen hat, will er Ägypten mehr Richtung einer modernen Marktwirtschaft bringen, will er mehr ein staatszentriertes System. All das sind völlig offene Fragen, unabhängig von der Menschenrechtssituation, die wie gesagt immer schlechter geworden ist.
    Dobovisek: Stephan Roll, der Ägypten-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Fragen stellte mein Kollege Jürgen Liminski.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.