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Tödliche Ruhe

Menschen mit Mundschutz – diese Bilder vom Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko gingen Ende April um die ganze Welt. Schulen blieben geschlossen und alle öffentlichen Veranstaltungen mussten wochenlang ausfallen, darunter auch viele Kulturveranstaltungen. Die Touristen mieden das Land. In Mexiko beginnt sich das Leben inzwischen wieder langsam zu normalisieren. Doch die finanziellen Ausfälle haben die Kulturszene schwer getroffen.

Von Peter B. Schumann |
    Tanzunterricht im Walzerschritt auf der Reforma, dem endlosen Prachtboulevard von Mexiko-Stadt. Junge Leute versuchen sich an den ungewohnten Rhythmen in einem weißen Zelt mit der Aufschrift Argentinien. Es gehört zur "Messe befreundeter Kulturen", die sich im Fußgängerbereich der Reforma rechts und links des fließenden Verkehrs 200 Meter lang hinzieht.

    55 Länder aller Kontinente zeigen den erstaunten Mexikanern ihre nationalen Besonderheiten, von der Esskultur bis zur Musikkultur. Deutschland grüßt außerdem mit Volkswagen, Bitterschokolade und Diätnahrung - eine Art Alternativprogramm. Die folkloristische Demonstration im Herzen der Hauptstadt ist ein kurzfristig von der Stadtverwaltung organisierter Akt internationaler Solidarität. Er steht unter dem Motto: Mexiko lebt! Es hat den Grippevirus überstanden, aber seine Folgen werden noch lange zu spüren sein.

    "Alle klagen über wirtschaftliche Verluste, aber am meisten traf es den Tourismus" - so Boris Schoemann, Regisseur und Theaterleiter. "Das war kein Wunder, denn alle Welt sah nur noch Leute mit Mundschutz, ein in Schrecken erstarrtes Land, wir selbst trauten uns 10 Tage kaum auf die Straße ... Ich musste mein Theater drei Wochen schließen. Das war verheerend, denn wir leben hauptsächlich von den Einnahmen, wie alle unabhängigen Ensembles. Sämtliche Gastspiele an anderen Bühnen wurden abgesagt."

    Die unabhängigen Gruppen, die wichtigste und finanziell schwächste Säule des mexikanischen Theaters, zahlen zwar keine Steuern, erhalten aber auch keinerlei Ausgleich für die oft Existenz bedrohenden Ausfälle. Den Kommerztheatern hat der Fiskus immerhin die Abgaben erlassen. Inzwischen hat sich die Situation entspannt, und das Publikum strömt - wie nach einer Zeit der Abstinenz - in die Vorstellungen. Doch die Schulden bleiben. Die Museen dagegen haben noch längst nicht alle Besucher wieder zurück gewonnen, noch nicht einmal das berühmte "Blaue Haus" von Frida Kahlo.

    "Das Museum gehört zu den wenigen in der Welt, die von ihren Einnahmen und von Spenden leben können" - so seine Direktorin Hilda Trujillo. "Auch wir hatten 10 Tage geschlossen, aber danach kamen kaum Leute, vor allem viel weniger Touristen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte wussten wir nicht, wovon wir den laufenden Unterhalt bezahlen sollten. Wir haben uns deshalb an die Medien gewandt. Jetzt schicken uns wenigstens die Lehrer ihre Schüler wieder her und unterstützen so das Museum."

    Das Erziehungsministerium hat das Verbot für offizielle Museumsbesuche durch Schulklassen noch immer nicht zurückgenommen. Und gerade sie bilden für viele kleinere Museen die wichtigste Einnahmequelle. Im offiziellen Bereich sieht es nicht viel besser aus. Das Nationale Institut der Schönen Künste schätzt, dass etwa 600 musikalische, theatrale und literarische Vorstellungen an den wichtigsten staatlichen Kultureinrichtungen ausgefallen sind. Die Schließungen summieren sich zu einem Verlust von mehr als drei Millionen Peso in einem von Kürzungen bedrohten Kulturetat.

    Noch immer werden einem ein paar Tropfen Desinfizierungsgel als hygienische Sofortmaßnahme am Eingang mancher nationaler Bildungsstätten wie dem Anthropologischen Museum in die Hand geträufelt. Aber in den Kinos werden keine Plätze mehr um jeden Zuschauer freigelassen, und auch in den Restaurants wird niemand mehr von einem Kellner mit Mundschutz und Gummihandschuhen bedient - wie ganz am Anfang der Panik, als halb Mexiko-Stadt lahmgelegt war.

    "Das Ganze war sowieso eher eine Medien-Pest" - glaubt der Schriftsteller Guillermo Fadanelli. "Natürlich auf einer sehr konkreten Grundlage, die ich überhaupt nicht verniedlichen möchte. Aber das alles wird sehr bald vergessen sein und weder unsere Gewohnheiten noch die Imaginationskraft unserer Kultur beeinträchtigen."