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Tödliches Grippevirus aus der Versenkung geholt

Genetik. – In den Hochsicherheitslabors der US-Gesundheitsbehörde in Atlanta hat man das Grippevirus rekonstruiert, das 1918 zwischen 20 bis 50 Millionen Menschen getötet hat. Es ist offenbar ein Vogelgrippevirus, dem es durch viele Mutationen gelang, auf den Menschen überzuspringen. In den aktuellen Ausgaben der Wissenschaftsmagazine und "Science" berichten die Forscher über ihre Erkenntnisse und Beweggründe.

Von Grit Kienzlen | 06.10.2005
    Als die Spanische Grippe 1918 über den Erdball fegte und zwischen 20 und 50 Millionen Menschen dahin raffte, da wusste man noch nicht einmal, dass es so etwas wie Viren gibt. Folglich konnten die Mediziner auch keine Virusproben aus den Lungen der Toten sammeln oder kultivieren. Alle Informationen über das Grippevirus schienen verloren, bis sich Jeffery Taubenberger am Pathologischen Institut der US-Armee in Maryland vor neun Jahren in Formalin konserviertes Lungengewebe aus der Sammlung des Institutes vornahm - Lungengewebe von 1918. Ein Kollege von ihm suchte etwa zeitgleich im Permafrostboden von Alaska nach Leichen aus dem letzten Winter des Ersten Weltkriegs. Mit Hilfe von Registern, die Missionare in den Inuitdörfer geführt hatten, fand er schließlich ein noch tief gefrorenes Grippeopfer - eine Frau samt der Überbleibsel der Viren, die sie getötet hatten. Taubenberger:

    "Aus diesem Material, dem Formalin-fixierten Lungengewebe und dem gefrorenen Gewebe konnten wir in den vergangenen neun Jahren das gesamte Erbgut des Virus zusammensetzen. Dazu nutzten wir die winzigen Erbgutfragmente, die wir aus den 87 Jahre alten Gewebeproben noch herausfischen konnten."

    Aus acht Genen besteht ein Grippevirus insgesamt. Fünf hatte Jeffery Taubenberger bislang schon zusammensetzen und ihre Buchstabenabfolge veröffentlichen können. Die drei größten Gene, die mehr als die Hälfte der Erbgutdaten ausmachen, fehlten jedoch bis jetzt. Diese so genannten Polymerase-Gene sorgen dafür, dass das Erbgut des Virus in der Zelle, die es befallen hat, vervielfacht wird. Auch die anderen Bausteine des Virus muss die - nun fremd gesteuerte - Wirtszelle herstellen bis sich die neuen Viruspartikel darin komplett zusammensetzen können. Diesen natürlichen Mechanismus der Viren, nutzte Terrence Tumpey von den Centers of Disease Control in Atlanta nun auch, um das Virus von 1918 aus Erbgutdaten zu rekonstruieren. Weil das Virus nach erhöhten Sicherheitsstandards behandelt wird, hält er sich über die hergestellten Virusmengen bedeckt:

    "”Normalerweise enthüllen wir in solchen Fällen nicht, wieviel wir davon haben. Wir sind sehr vorsichtig mit Mengenangaben über die Zahl der Portionen oder der hergestellten Volumen. Gewonnen haben wir das Virus Mitte August dieses Jahres.""

    Mit dem so wiederbelebten Virus stellte Terrence Tumpey Experimente an. Um zu erfahren, welche Bausteine des Virus es so überaus gefährlich gemacht hatten, tauschte er sie aus und infizierte Mäuse jeweils mit dem Original-Virus von 1918 oder seinen Abwandlungen:

    "”Wir haben mehrere Virusproteine identifiziert, die für die Entstehung von schweren Lungenerkrankungen essentiell waren. Da wäre insbesondere das Hämagglutinin des 1918-Virus. Wenn wir dieses Oberflächenmolekül ersetzen durch gewöhnliches Hämagglutinin eines zeitgenössischen Stammes, dann ist das Virus nicht mehr virulent in unseren Versuchstieren.""

    Auch die Polymerase-Gene des 1918er Virus scheinen besonders gut gearbeitet zu haben und ermöglichten dem Virus so maximale Vermehrung in den Lungenzellen ihrer Wirte. Soweit die Forschung mit dem wieder belebten Virus. Jeffery Taubenberger verglich dessen nun komplettes Erbgut mit dem von heutigen Vogelgrippeviren und Menschengrippeviren. Ergebnis: Das Epidemievirus von 1918 entstand seinerzeit aus einem Vogelgrippevirus und zwar offenbar ohne dass es sich mit einem menschlichen Virus kombiniert hätte; davon war man aber lange ausgegangen. Für die H5N1 Vogelgrippe in Asien bedeutet das , dass sie auf zwei Wegen zu einer Grippeepidemie für den Menschen werden könnte. Taubenberger:

    "”Das Risiko besteht weiterhin, dass H5N1 zu einer Epidemie wird, indem sich das Vogel-Virus mit einem derzeit bei Menschen kursierenden Grippestamm mischt. Aber es ist ebenso möglich, dass sich das H5N1-Virus mit der Zeit einfach besser an den Menschen anpasst, so wie es 1918 passiert ist, einfach indem es Mutationen in all seinen Genen ansammelt, die besser zum menschlichen Organismus passen.""

    Jeffery Taubenberger zufolge brauchte das Virus von 1918 mehrere Mutationen in jedem Gen, um fitt für die Attacke auf den Menschen zu werden. Diese Mutationen muss es sich nach und nach erworben haben, indem es viele Menschen, zunächst noch relativ erfolglos befiel. Die Evolution ließ aber diejenigen überleben, die am besten an den Menschen angepasst waren. In den Vogelgrippe-Viren aus Asien findet Taubenberger nun schon die gleichen Mutationen:

    "So verhält es sich auch bei den Polymerase-Genen. Im Virus von 1918 und in den H5N1-Viren aus Asien finden wir dieselben Veränderungen. Aber in dem Virus von 1918 sind es bis zu sechs Mutationen in jedem Gen, während wir in den asiatischen Vogelgrippeviren nur höchstens eine Mutation pro Gen sehen. Das heißt: Das Virus ist dem gleichen Selektionsdruck ausgesetzt wie damals, aber es befindet sich noch früh im Evolutionsprozess."

    Einstweilen müssen sich die Centers of Disease Control gegen den Vorwurf verteidigen, nur für die Forschung ein gefährliches Virus in die Welt gesetzt zu haben. Der Vorwurf ist nicht unbedingt berechtigt. Nach 1918 ist das Virus nämlich nicht aus der Welt verschwunden, sondern es hat sich über die Jahre immer stärker verwandelt. Im vergangenen Jahr kursierte es als Stamm New Caledonia. Der saisonale Grippeimpfstoff schützt dagegen. Wer einmal mit der New Caledonia-Grippe infiziert war, genießt ebenfalls Immunschutz. Daraus folgert die Direktorin der CDC, Julie Gerberding:

    "” Da die Bevölkerung diesen zeitgenössischen Viren ausgesetzt ist und daher eine gewisse Immunität besitzt, ist es aus wissenschaftlicher Sicht sehr unwahrscheinlich dass das 1918er Virus derzeit eine weltweite Epidemie auslösen könnte.""