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Tokajer

Anderswo wäre es für die Winzer eine Katastrophe, im Tokajer Weingebiet in Ostungarn sind die verschimmelten Trauben aber genau das, was gebraucht wird, um einen Wein zu keltern, der einst zu den begehrtesten der Welt zählte und um den Fürsten, Könige und Zaren sogar Kriege führten. Diese Zeiten sind lange vorbei. Unter der Ägide des staatlichen sozialistischen Weinkombinates Tokaj ist aus dem Spitzengetränk ein mittelmäßiger Einheitswein geworden.

Von Keno Verseck |
    Der ungarische Winzer des Jahres, János Árvay, arbeitet seit Jahren daran, daß aus dem Fließbandgetränk wieder ein edler Tropfen wird.

    Ein Hügel in Tokaj-Hegyalja, der berühmten ungarischen Weinregion. Der Winzer János Árvay schaut sich seine Rebstöcke an. Er zerdrückt einige Trauben zwischen seinen Fingern, dann kostet er sie. "Sie sind klebrig", stellt er fest, "und das ist sehr gut". Viele Trauben sehen schon fast aus wie Rosinen. Aber nicht nur das. Sie sind auch stark angeschimmelt. Genau darüber freut Árvay sich. Jetzt kann die Ernte beginnen.

    Aus den verschimmelten Trauben wird der legendäre Tokajer Aszú-Wein gekeltert. Im Spätherbst befällt der Edelschimmelpilz Botrytis die Trauben, entzieht ihnen Wasser und erhöht so ihren Gehalt an Zucker, Säuren und Aromen. Die Ernte beginnt meist im November und dauert oft bis in den Dezember. Die befallenen Beeren werden per Hand ausgelesen, in gegärtem Most oder Neuwein aus nicht befallenen Trauben eingeweicht und danach gepresst. In Eichenfässer gefüllt, reift dieser Rebensaft mindestens drei Jahre in Felsenkellern. Dabei entsteht nicht einfach nur irgendein Süßwein. Der bernsteinfarbene Tokajer Aszú kann trotz seines hohen Zuckergehaltes und seiner leicht öligen Konsistenz sehr frisch und fruchtig sein und hat oft Aromen exotischer Gewürze wie Vanille, Zimt oder Nelken. "Ein Wunder der Natur", nannte Goethe den Tokajer im "Faust".

    Tokaj ist ein beschauliches Städtchen mit 6.000 Einwohnern. Den Glanz früherer Jahrhunderte haben der Ort und sein Weinbaugebiet in der kommunistischen Zeit verloren. Vierzig Jahre lang produzierte das staatlichen Weinkombinat mit Industriemethoden mittelmäßigen Einheitstokajer. Inzwischen aber kommen immer mehr Touristen in die Stadt - ungarische wie ausländische - und lassen sich mit Pferdewagen zu Weinkellern und Weingütern kutschieren. Denn - in Tokaj gibt es wieder viele private Winzer, die Traditionen und Vielfalt neu entdecken.

    János Árvay hat seine Kellerei mitten in der Tokajer Altstadt, in einem aufwendig renovierten uralten Bürgerhaus. Der 48jährige Árvay ist nicht irgendein Tokajer Winzer, sondern einer der besten. 1975 fing er im staatlichen Weinkombinat an und durchlief zwei Jahrzehnte lang alle Stationen der Weinherstellung. Seit 1998 hat er eine eigene Kellerei mit 30 Angestellten und konnte seitdem bei internationalen Wettbewerben zahlreiche Goldmedaillen für seine Weine gewinnen. Im Frühjahr wurde er bereits zum zweiten Mal mit dem Titel "Winzer des Jahres" in Ungarn ausgezeichnet.

    Bis 1989, 1990 glaubten wir, wir machen hier den besten Wein der Welt. Wir waren furchtbar stolz auf uns. Als dann ausländische Großhändler und Firmen herkamen, war das eine sehr gute Erfahrung. Die neuen Firmen produzierten Wein mit einer völlig anderen Einstellung als wir. Sie brachten kleinere Tanks, kleinere Pressen, sie achteten besser auf die Trauben, sie wollten besseren Wein herstellen. Es gab einen riesigen Qualitätssprung.

    Die anspruchsvollen unter den Tokajer Winzern haben durch die Öffnung des Ostblocks nicht nur allgemein ihren Horizont erweitert - auch die EU-Integration Ungarns kommt ihnen ganz konkret zugute. Die Kellerei Árvay etwa hat mit EU-Fördergeldern neueste Technologie kaufen können, beispielsweise eine hochmoderne Abfüll- und Ettikettieranlage.

    Gábor Szentléleky ist in der Kellerei Árvay für die Rebenpflege und die Maschinen zuständig und er rechnet es der EU hoch an, dass sie Investitionen in Technologie mit 40 bis 60 Prozent der Kaufsumme bezuschusst. Überhaupt sieht er den EU-Beitritt Ungarns im Mai dieses Jahres überaus positiv.

    Die strengen Handelsbeschränkungen, unter denen wir Wein in EU-Länder liefern konnten, sind weggefallen. Wenn ein Händler Wein bei uns bestellt, dann dauert es nicht mehr zwei, drei Monate, bis der Papierkram erledigt ist. Wir erhalten eine Bestellung, der Wagen kommt, wird vollgepackt und fährt los.

    Inzwischen beliefert die Kellerei Árvay nicht mehr nur ungarische Händler und Spitzenrestaurants, sie exportiert Wein auch nach Italien, Frankreich, in die USA und sogar nach Japan. Es ist kein leichtes Geschäft. Eine Flasche Tokajer Aszú kostet bei Árvay mindestens 40 Euro. Dennoch werde die Firma wohl erst in zwanzig Jahren Gewinn bringen, sagt Árvay. Aber er klagt nicht - schließlich, so erzählen seine Mitarbeiter, sei der Wein sein Leben. Wohl deshalb steht er am liebsten auf einem Hügel bei seinen Trauben und sieht zu, wie sie langsam reifen und sich der Schimmel auf ihnen bildet.

    Alle denken zuerst: Huuh! Aus diesem ekligen Zeug soll etwas Gutes werden?! Es hört sich vielleicht komisch an, aber für mich ist das etwas sehr Schönes. Wenn ich diese runzeligen, angeschimmelten Trauben koste, dann spüre ich, was aus ihnen wird, dann weiß ich, was fünf oder zehn Jahre später im Glas sein wird.