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Tolle Idee! – Was wurde daraus?

Technik. - Als die DDR zusammenbrach, beeilten sich ihre Geheimdienste, sich zunächst selbst in Sicherheit zu bringen - indem sie viele ihrer Überwachungsakten einfach schredderten. Um die Verbrechen der Staatssicherheit aufzuklären, entwickelten Forscher Methoden, mit denen das Puzzle automatisch restauriert werden soll.

Von Ralf Krauter | 13.06.2006
    Bei der Birthler-Behörde wird immer noch von Hand gepuzzelt. Und das kann dauern. Seit 1995 haben die Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatsicherheit den Inhalt von gut 300 der insgesamt 16.000 Säcke mit zerrissenen Akten wieder lesbar gemacht. Bei diesem Tempo dauert es noch 500 Jahre, bis alle Fakten auf dem Tisch liegen. Dass es auch schneller ginge, ist seit Juni 2003 bekannt. Da kamen Forscher in einer Konzeptstudie zu dem Schluss: Mit Hightech wäre man binnen fünf Jahren fertig. Elektronische Scanner sollten die 600 Millionen Schnipsel in computerlesbare Bilddateien umwandeln und eine spezielle Software die digitalen Bildschnipsel dann automatisch wieder zu ganzen Seiten zusammen fügen. Und zwar in zwei Stufen: Papierfarbe und Schriftart erlauben die grobe Vorsortierung. Zueinander passende Stücke verraten sich dann durch ihre Form und Risskante. Entwickelt wurde das Computerprogramm am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin. Projektleiter Dr. Bertram Nickolay:

    "Diese Entwicklung haben wir ja den unterschiedlichsten Kreisen dann vorgeführt. Wir hatten hier also wirklich so viele Politiker zu Besuch, wie hier unser berühmtes Zentrum für Maschinenbau in zwei Jahrzehnten nicht gehabt hat: Minister, Staatssekretäre, Behördenchefs, dann Leute aus den verschiedenen Ausschüssen. Man war in der Regel sehr angetan von unserer Leistungsfähigkeit."

    Bei einem Testlauf fügte der Prototyp zwölf von zwölf zerrissenen Stasi-Seiten fehlerfrei zusammen. Doch erfolgreiche Demonstration hin, riesige Medienresonanz her: Grünes Licht, dass Projekt in die Praxis umzusetzen, blieb aus.

    "Politiker haben sich auch unterschiedlich blockiert. Man hat hier auch nicht so gemeinsam an einem Strang gezogen, wie das für ein Land mit innovativen Sachen möglich wäre. Es wurde vieles auch zerredet."

    Die elektronische Aufarbeitung des Stasi-Nachlasses wurde zum politischen Zankapfel. Eigentlich waren alle dafür. Aber wenn es darum ging, die nötigen Gelder in den Bundeshaushalt einzustellen, dann eben doch nicht mehr. 60 Millionen Euro, hieß es damals in den Medien, würde das Projekt insgesamt kosten. Wie diese Summe in die Welt kam, ist undurchsichtig. Bertram Nickolay und Co hatten ursprünglich nur 36 Millionen veranschlagt und in einer aktualisierten Entscheidungsvorlage aus dem Jahr 2005 bloß noch 28 Millionen Euro. Keine astronomische Summe, fand man im zuständigen Bundesinnenministerium. Die Auftragsvergabe lag erneut in der Luft. Doch dann wurde die Birthler-Behörde in die Obhut des Kulturstaatssekretärs übergeben.

    "Und somit waren die Leute, die uns gerade noch gesagt hatten, jetzt machen wir das Projekt, auf einmal nicht mehr dafür verantwortlich. Und dann hatten wir hier permanent Besuch von den Verantwortlichen aus dem Bereich Kultur. Und bevor die wirklich klar handeln konnten war ja die Thematik mit der Neuwahl."

    Politisches Hickhack und wechselnde Zuständigkeiten verschleppten ein Projekt, das im In- und Ausland auf enormes Interesse stößt.

    "Wir werden gerade auch aus den Fachkreisen gelobt. Und wenn ihnen berühmte Professoren von Harvard und MIT bescheinigen, was wir hier gemacht haben, ist etwas, was sich wirklich sehen lassen kann, dann legt man das gar nicht so einfach ad acta. Und deshalb haben wir weiter gemacht – zumal wir bereits profitieren von gewissen Nachfragen, die wir im Zusammenhang mit dieser Sache bekommen haben."

    So puzzeln die Fachleute aus Berlin heute zum Beispiel im Auftrag von Bundeskriminalamt und Steuerfahndern geschredderte Dokumente zusammen, um Beweise für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität zu sichern. Ob das mit den Stasi-Akten auch noch irgendwann klappt? Ende Mai zeigte sich Bertram Nickolay optimistisch, dass die dreijährige Hängeparty bald ein Ende haben könnte – inoffizielle Signale gebe es bereits. Kurz darauf wurden sie offiziell bestätigt: Für eine zweijährige Pilotphase der elektronischen Schnipseljagd hat der Haushaltsausschuss des Bundestages jetzt insgesamt sechs Millionen Euro bewilligt. Das wird zwar nicht reichen, ist aber mehr als ein Anfang. In einer Pressemitteilung vom 1. Juni 2006 verleiht Marianne Birthler ihrer Freude mit den Worten Ausdruck, das sei ein gutes Signal für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.