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Tolle Idee! Was wurde daraus?
Retina-Implantate haben Erwartungen enttäuscht

Einmal kurz die Augen reiben - und man sieht Sterne. Nervenzellen der Netzhaut reagieren, indem sie dem Gehirn vermeintliche Lichtblitze melden. Vor gut 15 Jahren wollten Forscher diesen Effekt nutzen, um Blinden ihr Augenlicht zurückzugeben. Doch die Hoffnungen der Patienten wurden nicht erfüllt.

Von Anneke Meyer | 31.03.2020
Eine Person hält am Dienstag in der Universitätsklinik Tübingen einen Chip vor das Auge des blinden Hartwig Lahann, der Ende 2006 für fünf Wochen einen baugleichen Chip in sein Auge implantieren ließ.
2006 wurde einem blinden Patienten an der Universitätsklinik Tübingen ein Kamerachip in die Netzhaut implantiert. (picture-alliance/ dpa / Marijan Murat)
Blinde wieder sehen lassen, und zwar mit Hilfe von Retina-Implantaten, das war 2003 die Vision der Gründer der Retina Implant AG in Reutlingen. Was klingt wie Science Fiction scheint damals eine realistische Möglichkeit. Aber im März 2019 gibt das Unternehmen seine Auflösung bekannt. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen, erinnert sich der ehemalige Technologie-Chef Dr. Alfred Stett.
"Seit vielen, vielen Jahren weiß man, dass Elektrostimulation im Auge dazu führt, dass man so genannte Phosphene wahrnimmt. Das sind so Phänomene, wenn man sich mit dem Finger ins Auge langt, dann sieht man so Blitze. Und das kann man auch durch Elektrostimulation auslösen. Und dann war die Idee, wenn man das so gezielt macht, mit so ganz definierten Reizmustern, dann müsste es doch eigentlich möglich sein, blinden Menschen Sehvermögen zurückzugeben."
Kamerachips sollten Blinden das Augenlicht zurückgeben
Untersuchungen an Tiermodellen zeigen: Das Prinzip funktioniert. Zumindest wenn die Ursache der Erblindung das Absterben der lichtempfindlichen Photorezeptor-Zellen in der Netzhaut ist - so wie bei der Krankheit Retinitis pigmentosa. Gleich mehrere Forschergruppen beginnen daraufhin winzige Kamerachips zu entwickeln, die Licht in elektrische Signale übersetzen: Netzhaut- Implantate. Unter den Pionieren des Feldes, ist eine Gruppe von Forschern der Uni-Klinik Tübingen, zu der auch Alfred Stett gehört: "Das war der Anfang der Firma Retina Implant. Die wurde dann 2003 gegründet, als die ersten Experimente gemacht wurden und man dann in die klinische Prüfung ging mit den Pilotexperimenten an Menschen."
Manche Patienten profitierten - aber längst nicht alle
Alle zehn Retinitis-pigmentosa-Patienten, die an der Pilotstudie teilnehmen, sehen mit dem Netzhaut-Chip wieder ein bisschen etwas. Keine Farben oder Details, aber Lichtquellen, grobe Linien, Ecken und Kanten. Im Prinzip genug, um nicht gegen eine Tür zu laufen. Die Medien sind begeistert, die Entwickler bekommen einen Innovationspreis, und selbst die Entscheidungsträger des Gesundheitssystems sind überzeugt: Der Netzhaut-Chip wird Kassenleistung. In den folgenden Jahren werden 60 weiteren Patienten Chips implantiert.
Dass die Firma trotz dieser scheinbaren Erfolge im März 2019 ihre Auflösung bekannt gibt, ist bedauerlich, aber letztlich die richtige Entscheidung, sagt Alfred Stett. Die Implantate können die Erwartungen der Patienten letztlich nicht erfüllen: "Es gab Reihe von Patienten, die hatten einfach keinen Nutzen im Alltag."
Wie gut die Patienten mit dem Retina-Implantat sehen können, variiert stark. Im besten Fall können sie Buchstaben erkennen - sehr große Buchstaben. Und auch das nur unter idealen Bedingungen im Labor.
Jedes Smartphone leistet ähnliches - ohne operativen Eingriff
Als Alltagshelfer sei das Retina-Implantat von einer ganz anderen Technologie abgehängt worden, betont Alfred Stett - vom Smartphone: "Man muss sagen, dass die Möglichkeiten, die Smartphones heute bieten, in bestimmten Anwendungsfeldern besser sind, als mit Implantaten überhaupt erreicht werden könnte. Sie haben heute auf ihrem Handy technische Lösungen, die Blinde auch nutzen, um Texterkennung zu machen. Es ist völlig illusorisch, heute anzunehmen, dass man mit einem Netzhautimplantat Zeitung lesen kann. Das wird aus physikalisch-technischen Gründen einfach nicht möglich sein."
Um ein paar Linien in Falschfarben zu sehen, will sich niemand mehr unters Messer legen. Patientenverbände reagierten deshalb kaum auf die Auflösung des Reutlinger Herstellers von Netzhaut-Chips. Spurlos verschwunden ist die Retina Implant AG nach ihrer Löschung aus dem Handelsregister trotzdem nicht. Das Spin-Off-Unternehmen Okuvision hat einen Teil der Technologie weiterentwickelt und vermarktet inzwischen ein Gerät, mit dem sich das Fortschreiten von Retinitis Pigmentosa verlangsamen lässt.
Elektrische Stimulation der Hornhaut verzögert die Erblindung
Außerlich ähnelt das Okustim-Gerät einer Brille. Statt Gläsern werden in die Brille jedoch Bogenelektroden eingesetzt. Zwischen den Enden des halbrunden Metall-Rahmens spannt sich ein hauchdünner Silberfaden.
"Dieser Faden wird auf das Augenlied unten aufgelegt und kontaktiert dann die Kornea, die Hornhaut. Dann ist über ein Kabel und die Brille, dieser Faden mit dem Stimulationsgerät verbunden. Und wenn man das startet, werden über diesen Faden Strompulse auf das Auge abgegeben. Wenn man die Stimulationstärke langsam erhöht, dann nimmt der Anwender diese elektrisch ausgelösten Phosphene wahr."
Anders als das Retina-Implantat stellt die elektrische Stimulation des Auges keine verloren gegangene Sehleistung wieder her. Sie sorgt dafür, dass das Sehvermögen nicht schlechter wird, erklärt Alfred Stett: "Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Netzhaut-Implantates war die Frage: Wie stark kann man die Netzhaut stimulieren, ohne Schaden anzurichten? Und meine Aufgabe war damals, diese Schädigungsschwelle herauszufinden. Wir haben dann ein Gewebe-Modell gehabt, wo wir Netzhäute im Inkubator hatten und haben natürlich die Reizschwelle gefunden, wo die Netzhaut dann Schaden nimmt. Aber bei sehr geringen Reizstärken haben wir auch gefunden, dass man eigentlich Vorgänge in der Netzhaut verlangsamen kann, die zum Zelltod führen."
Retinitis pigmentosa heilen kann das Okustim-Gerät nicht. Aber es kann das Vorschreiten der Erblindung verzögern. Ganz ohne Nebenwirkungen. Um den Stimulator als Medizinprodukt auf den Markt zu bringen, gründete die Retina Implant AG bereits 2007 die Tochtergesellschaft Okuvision.
Patienten protestierten gegen die drohende Abwicklung der Firma Okuvision
Mit der Auflösung des Mutterkonzerns 2019 musste eigentlich auch die Tochtergesellschaft abgewickelt werden. Doch dazu kam es zum Glück nicht, sagt Alfred Stett: "Da haben dann die Patientenverbände tatsächlich rebelliert. Da gab es ein sehr starkes Feedback, im Gegensatz zu dem Feedback bei den Implantaten."
Schließlich findet sich ein Investor, der Okuvision kauft. Alfred Stett ist dort heute Geschäftsführer. Wahrscheinlich ab Mitte des Jahres, sagt er, wird der Netzhaut-Stimulator wieder als anerkanntes Medizinprodukt auf dem Markt sein - als derzeit einzige Therapieoption für Patienten mit Retinitis pigmentosa.
Was die tolle Idee eines Netzhautimplantats angeht, heißt es dagegen für die Wissenschaftler nicht "aufgeben" sondern "anfangen", und zwar noch einmal ganz neu denkt Alfred Stett:
"Uns wurde auch klar, dass wir eigentlich noch mal zurück müssen ins Labor, um tatsächlich mehr Grundlagenarbeit auch zu machen."