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Tollkühne Dreiergeschichte

Seine Figuren sind über 30 und unterdrücken drängende Fragen: Hat man sich für das bürgerliche Leben, das man führt, auch tatsächlich entschieden? Zu Studentenzeiten führten Konrad, Felix und Katharina eine chaotische Dreierbeziehung. Dann verloren sich aus den Augen. Die Einladung zu Katharinas Hochzeit lässt die Erinnerung an aufregende Zeiten wieder aufleben.

Von Olaf Karnik | 02.12.2005
    "Konrad wird ansetzen, etwas zu erwidern, vielleicht beginnt er sogar einen Satz mit "Aber" oder "Glaubst du wirklich, dass", aber dann wird er verstummen, weil es schließlich nichts zu erwidern gibt, und dann wird er lächeln und Katharina auch, und sie wird "So machen wir es" sagen, und dann machen wir es so, und zwar sofort und ganz und gar unprovisorisch. Wir könnten Warenhausketten erpressen. Wir könnten Vermögen umverteilen. Und das ist nun in Wahrheit das Komplizierteste, weil es so wenig gibt, das nicht provisorisch ist oder zumindest provisorisch sein könnte, weil das Provisorische ja nicht in der Antwort liegt, sondern im Aufnehmen der Antwort, und so wird jede Entscheidung ein Verschieben der Entscheidung und jeder Zustand zum Abschnitt, und selbst wenn man vorschlagen würde, alles stehen und liegen zu lassen, abzuhauen, auszuwandern, nur leichtes Gepäck, ein zweites Paar Wäsche und vielleicht ein Taschenmesser, dann glaubt man selbst am wenigsten, dass es für immer sein soll, weil für immer nur stets bis auf weiteres ist, die überschaubaren Rationen bis nächstes Jahr, bis zum Winter, zum Nachmittag, denn wer weiß, was in dieser Zeit alles geschieht, man ist ja angeblich sehr schnell ein anderer Mensch."

    Tilman Rammstedts Figuren sind über 30, leben in Abfindungen und unterdrücken drängende Fragen: Hat man sich für das bürgerliche Leben, das man führt, auch tatsächlich entschieden? Und wenn nicht, wie kann man daraus ausbrechen? Zu Studentenzeiten führten Konrad, Felix und Katharina mal eine glückliche Freundschaft, später auch eine chaotische Dreierbeziehung. Doch irgendwann verlor man sich aus den Augen, wurde erwachsen und ging seines Weges. Erst die Einladung zu Katharinas Hochzeit lässt die Erinnerung an aufregende Zeiten wieder aufleben. Spontan machen sich Felix und Konrad auf nach Hamburg, um Katharina - und sich selbst - vor einem Leben zu retten, das womöglich nicht ihr eigenes ist. In einer dramatischen Aktion entführen sie Katharina in ein Haus am Meer in Frankreich. Hier, zwischen Spaziergängen im Dauerregen und Spiel den Hut, soll endlich ein gemeinsames Ziel gefunden werden, das einen Neuanfang lohnt. Rammstedts Geschichte mag ziemlich ausgedacht wirken, jenseits des Menage à-Trois-Romantizismus behandelt sie aber auf tragisch-komische Weise eine generationsübergreifende Lebenserfahrung. Tilmann Rammstedt:

    "Diese Art von Abfinden, diese unbeabsichtigte Halbherzigkeit, dieser leichte Fatalismus gerade, das ist dann aber eher vielleicht ein Altersproblem als ein Generationsproblem, der halt mit diesen Mitte Dreißiger-Romanen, das fängt vielleicht ein bisschen früh an, geht vielleicht ein bisschen weiter, dass man einfach sagt, okay, jetzt ändern sich ja auch Leben, das ist ja ganz normal und dagegen eigentlich auch nichts tut, das sehe ich natürlich schon, und das natürlich jetzt nicht nur im emotionalen Bereich, sondern auch im beruflichen Bereich, dass man sich dann plötzlich fragt, will ich das denn eigentlich alles, was ich jetzt gerade mache, wo ich so ein bisschen reingestolpert bin. Das beobachte ich natürlich viel, und das sollte schon ein bisschen Thema sein. Natürlich geht es jetzt nicht nur um diese Figuren, sondern die sollen natürlich stellvertretend stehen für ganze Gruppen, sonst wäre es ja auch gar nicht von Interesse."

    Rammstedts Roman "Wir bleiben in der Nähe" lässt sich ebenso als Allegorie auf den gesamtgesellschaftlichen Stillstand lesen, der von Kontingenz-Erfahrung, Zweifel und Furcht vor Veränderung geprägt ist. So gibt der Autor seine Figuren in dieser tollkühnen Dreiergeschichte oft genug der Lächerlichkeit preis oder versetzt sie in Szenarien voll lähmender Ereignislosigkeit - als wären dies Prüfungen, die insbesondere der Ich-Erzähler Felix in seinem Drang nach Veränderung bestehen muss. Trotz scharfsinniger Beobachtung und messerscharfer Präzision bei der Beschreitung kleinster Details erhebt sich Rammstedt nie über seine Figuren, er lässt sie lebens-philosophische Erkenntnisse anhäufen, die sie schließlich in ihrem Tatendrang bestätigen.

    "Konrad wusste die Antwort tatsächlich, nämlich, dass es gar keine Antwort gab, jedenfalls keine, die zu der Frage passte, weil es sich Fragen meistens leicht machen, weil sie sich vor einen hinstellen und die Arme verschränken und in Ruhe, vielleicht sogar mit spöttischem Lächeln, zuschauen dürfen, wie man stammelnd um eine Antwort ringt, und wenn man dann irgendwann keine Lust zum Stammeln mehr hat, dann stemmt man die Arme in die Hüfte und legt den Kopf schief und sagt, dass die Frage das eigentliche Problem sei, falsch gestellt oder irreführend oder schlichtweg unmöglich zu beantworten, und das gilt dann, wenn man es entschieden genug vorbringt, als befriedigende Antwort. Aber bei manchen Fragen gilt das nicht. Manche Fragen sind nicht dadurch aus dem Weg zu räumen, dass man sie selbst in Frage stellt. Manche Fragen, und leider auch die nach dem, was wir eigentlich wollen, sind zu Recht sehr stur und bleiben."

    Was Rammstedts Protagonisten wollen, ist kein endloses Nachdenken über Möglichkeiten, sondern die wahrhaftige Eingebung einer zwingenden Notwendigkeit. Doch bis kurz vor Schluss stellt sich da nichts ein - erst ein absurder Sprung ins eiskalte Meer, bei dem alle beinahe erfrieren, erzeugt wieder Nähe und Verbindlichkeit. Am Ende ist der Funken auch auf die entführte Katharina übergesprungen - nun betäubt sie Konrad, um den Ausnahmezustand des Entführungs-Abenteuers gemeinsam mit Felix fortzusetzen. Wo sich noch kein Ziel und keine Aufgabe finden lässt, geht es erstmal um das belebende Gefühl der Tat selbst - so scheint das Fazit von Rammstedts Roman zu lauten. Dazu der Autor:

    "In gewisser Hinsicht ist es natürlich ein geschummeltes Ende, weil es jetzt wirklich, die Lösung, die die ganze Zeit inhaltlich gesucht wird am Ende eigentlich erstmal formal ist. Aber es ging ja erstmal darum, es werden die Bedingungen der Möglichkeit geschaffen, erst jetzt scheint es möglich zu sein, über den Inhalt nachzudenken, nachdem diese Tat vollbracht ist, nachdem eine Bereitschaft gezeigt wird. Und dadurch scheint es natürlich so, als ob das Inhaltliche erstmal sekundär wäre oder dass es darum gar nicht so sehr gehen würde. Das wird auch im Buch manchmal verhandelt, da überlegen die Figuren auch: denken wir eigentlich in die richtige Richtung, wenn wir denken, was genau wollen wir eigentlich mit unserem Leben machen? Obwohl es doch eigentlich viel mehr um das Wie geht. Aber ich glaube, dass es den Figuren auf jeden Fall nicht egal ist, was sie tun. Im Buch ist jetzt erstmal die Lösung, dass es etwas mit einer Wahl zu tun hat, mit einer Entscheidung, und dass es auch mit einer großen Geste geschieht und nicht wieder mit einem kleinen Ausprobieren."

    Tilmann Rammstedt: "Wir bleiben in der Nähe"
    DuMont Verlag