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Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels.

Wann immer Israel um sein Selbstverständnis ringt, ist meist auch Tom Segev zur Stelle. Der Sohn deutscher Juden, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Palästina auswanderten, gehört zu den herausragenden Journalisten seines Landes. Und wie andere Publizisten und Historiker legt er seit Jahren die Axt an das Geschichtsbild der israelischen Gesellschaft, bestrebt, das historische Bewusstsein von zionistischen Legenden und Mythen zu befreien, die über Jahrzehnte den Blick vor allem auf die Gründungsphase Israels verstellt haben.

Von Jasper Barenberg | 02.05.2005
    Red. am Microfon: Christina Janssen

    Hierzulande bekannt geworden ist Segev vor allem mit seinem Buch "Die siebte Million" über die Wirkungsgeschichte des Holocaust im israelischen Bewusstsein. Der Holocaust spielt auch in seinem neuen Buch eine Rolle, wenn auch nur am Rande. Im Mittelpunkt steht die britische Mandatsherrschaft in Palästina zwischen 1917 und 1948, dem Gründungsjahr Israels.

    Am 2. November 1917 versichert der britische Außenminister Lord Balfour einem der führenden Repräsentanten der zionistischen Bewegung die Sympathie der britischen Regierung für deren Anliegen.

    " Verehrter Lord Rothschild, "

    schreibt Arthur Balfour,

    " die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern (...)."

    Die Erklärung bringt der von Theodor Herzl zwei Jahrzehnte zuvor gegründeten zionistischen Bewegung den Durchbruch auf dem diplomatischen Parkett. Sie markiert zugleich den Beginn der britischen Herrschaft über das vom Völkerbund bestimmte Mandatsgebiet. Soldaten ihrer Majestät haben es gerade der Kontrolle des türkischen Sultans entrissen. Als sie 1948 wieder abziehen, tobt zwischen Juden und Arabern ein Krieg um Palästina - die gewaltsamen Geburtswehen des Staates Israel.

    Dreißig Jahre liegen zwischen beiden Ereignissen. Tom Segev schildert sie als Drama, als eine Ära, die zunächst große Hoffnungen weckt, bevor sie im Strudel des Terrors versinkt und am Ende fast zwangsläufig in den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern mündet. Und wieder rüttelt der gelernte Historiker und Journalist an einer Grundfeste des historischen Bewusstseins Israels - dieses Mal mit Blick auf die Rolle der Briten während der Mandatszeit.

    " Ich gehöre einer Generation an, die aufgewachsen ist mit dem Glauben, dass Israel aus einem heroischen Kampf gegen die Engländer geboren ist. Was ich gelernt habe, als ich dieses Buch recherchiert habe, ist genau das Gegenteil: Israel schuldet seine Existenz den Engländern."

    Segev zufolge hat nicht der Kampf der verschiedenen jüdischen Untergrundgruppen die Briten 1948 zum Abzug gezwungen, sondern die arabische Politik des Boykotts und der Gewalt am Ende der britischen Mandatsmacht. Zu diesem Zeitpunkt aber waren die Grundlagen für einen jüdischen Staat längst unumkehrbar gelegt.

    " Es war in englischer Zeit, dass die zionistische Bewegung die Möglichkeit bekam, Hunderte von Tausenden von Juden nach Palästina zu bringen, viele Dutzende von Siedlungen aufzubauen, darunter einige Städte, und die ganze Infrastruktur - die politische, die wirtschaftliche, die militärische, die kulturelle zu entwickeln, die dreißig Jahre später zu dem unabhängigen Israel geführt hat. Das ist alles ohne die Hilfe der Engländer gar nicht möglich gewesen."

    Überraschend und provokant ist diese Neubewertung vor allem dort, wo Segev den Motiven und der inneren Einstellung der Verantwortlichen auf britischer Seite nachgeht. Sie sieht der Autor keineswegs, wie bisher vielfach angenommen, von einer Sympathie für die arabische Seite angetrieben. Ganz im Gegenteil:

    " Durch die Parteinahme für die zionistische Bewegung glaubten die Briten, die Unterstützung eines starken und einflussreichen Verbündeten zu gewinnen. Dahinter steckte die Vorstellung, dass die Juden den Lauf der Geschichte lenkten - eine Vorstellung, in der sich auf einzigartige Weise klassische antisemitische Vorurteile mit romantischer Verehrung des Heiligen Landes und seines Volkes vermischten."

    Die Wirklichkeit aber, so Segev, sah anders aus. Gerade mit Blick auf eine der Schlüsselfiguren auf jüdischer Seite: Chaim Weizmann, einem in Russland geboren Chemiker. Er versteht es, sich bei der britischen Regierung Gehör zu verschaffen und pendelt unermüdlich zwischen London und Palästina. Ein offizielles Amt oder eine herausgehobene Funktion innerhalb der zionistischen Bewegung aber bekleidet er nicht.

    " Die zionistische Bewegung damals vertrat nicht das jüdische Volk, Weizmann vertrat nicht die zionistische Bewegung. Und das ganze Archiv der Bewegung war in einer Schuhschachtel unter dem Bett im Hotel vom Weizmann. Aber die Engländer haben immer gemeint, das ist der König der Juden, und haben ihn so behandelt und so betrachtet. Dass heißt, was wir eigentlich daraus lernen ist, wie stark das unrationelle Element in der Geschichte ist. Das ist ein Mythos natürlich. Und hier sehen Sie einen Fall in der Geschichte, in der ein Mythos eine so wichtige Rolle spielt."

    Wo es um die Antriebskräfte der britischen Palästinapolitik geht, erschließt Segev ohne Zweifel neue Aspekte - und das mit überzeugenden Belegen. Der eigentliche Reiz der Studie aber liegt auf einem anderen Gebiet: Mit so viel Detailreichtum ist das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Juden, Arabern und Briten in der Zeit vor der Gründung Israels wohl nie zuvor präsentiert worden. Dabei schöpft Segev aus einem reichen, in Teilen bisher nicht erschlossenen Fundus an Quellen und Materialien. Offizielle Dokumente sind darunter, aber auch Erinnerungen, private Tagebücher und Briefe. In ihnen spiegeln und verschränken sich - auch das eine Besonderheit - der Blickwinkel von Staatsmännern und Diplomaten mit der Wahrnehmung weniger prominenter Figuren und Einblicken in das Alltagsleben zu einer faszinierenden Lektüre.

    " Für mich sind auch private Briefe oder Tagebücher Teil der Geschichte. Ich finde das alltägliche Leben sehr wichtig. Zumal wir ja einen Konflikt vor uns haben, der zwischen zwei Völkern ist. Das ist kein Konflikt, der zwischen zwei Regierungen geht. Das ist ein Konflikt, der zwischen Menschen ist, die in einem gemeinsamen Land leben. Und deshalb ist es ungeheuer wichtig zu sehen, wie leben diese Menschen, wie denken diese Menschen, wie sind sie beeinflusst durch den Konflikt."

    Mit den Augen des ersten britischen Hochkommissars Sir Herbert Samuel, des spanischen Konsuls Antonio de Ballobar und des Zionisten und späteren Staatsgründers David Ben-Gurion erlebt der Leser, mit welchen Hoffnungen jüdische Einwanderer nach Palästina kommen. Und durch die Brille des jüdischen Versicherungsagenten Alter Levine und des arabischen Pädagogen Khalil al-Sakakini, wie sich der Glaube an ein friedliches Miteinander als naive Fehleinschätzung erweist.

    " Sakakini blieb unbeeindruckt. "Lassen Sie uns offen miteinander sprechen, Doktor", sagte er und erzählte im eine Geschichte. Ein Mann ritt auf seinem Esel und sah einen anderen Mann, der zu Fuß ging. Er lud den Mann ein, mit ihm auf dem Esel zu reiten. Als er auf den Esel kletterte, sagte der Fremde: "Wie schnell Ihr Esel ist!" Die beiden ritten eine Weile. Dann sagte der Fremde: "Wie schnell unser Esel ist!". Daraufhin ließ der Besitzer des Esels den Mann absteigen. "Warum?" fragte der Fremde. "Ich befürchte", so der Besitzer, "dass Sie bald sagen werden: "Wie schnell mein Esel ist!""

    Mehr und mehr jüdische Flüchtlinge drängen nach Palästina; mehr und mehr fühlen sich die palästinensischen Araber als Minderheit im eigenen Land und rufen zum Aufstand; mehr und mehr ist die britische Mandatsmacht mit der eskalierenden Gewalt auf beiden Seiten überfordert und schränkt die Zuwanderung drastisch ein. Am Ende bleibt nur der Rückzug der britischen Soldaten aus einer Region, die im Strudel der Gewalt versinkt. Und dem Leser eine Ahnung davon, wie schwierig es sein muss, den bis heute andauernden Konflikt beizulegen. Da ist auch Tom Segev skeptisch, wenn auch nicht ganz hoffnungslos.

    " Ich glaube im allgemeinen nicht, dass das ein Konflikt ist, der zu lösen ist - zumindest nicht in der Gegenwart. Aber das ist ein Konflikt, den man viel besser managen kann. Und ich glaube, je rationeller man diesen Konflikt managet, desto besser ist es. Und deshalb brauchen die Menschen auch mehr Informationen über die Hintergrunde. Und eben wirkliche Informationen, die nicht im Bereich der Ideologie und der Mythologie liegen."

    Jasper Barenberg besprach das neue Buch von Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. Siedler Verlag München. 672 Seiten kosten 28,00 Euro.