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Tomás Moulian: Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert

Mit dem Ende des Sowjetimperiums, so hört man immer wieder, seien Marxismus und Kommunismus und gleich noch jedwedes sozialistische Experiment ein für allemal erledigt. Es mag stimmen, dass in den hochindustrialisierten Ländern der ersten Welt die Linke gegenwärtig eher in der Defensive ist, doch da, wo die Auswirkungen der so genannten Globalisierung am negativsten spürbar geworden sind, scheint die Debatte um Ausbeutung und soziale Gerechtigkeit, um Klassengesellschaft und Gleichheit der Chancen mit neuer Heftigkeit weiter zu gehen. So ist es wenig verwunderlich, dass theoretische Überlegungen zu einem neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aus Lateinamerika kommen. Dorther also, wo mit freundschaftlicher Unterstützung des demokratischen Westens allerlei Diktatoren jedem sozialistischen Ansatz ein gewaltsames Ende zu bereiten versuchten. Der chilenische Sozialwissenschaftler Tomás Moulian zählt zu denen, die auch vor dem Hintergrund der eher wenig ermutigenden Erfahrungen im Sowjetimperium für einen anderen Sozialismus im neuen Jahrhundert plädieren. Was er sich darunter genau vorstellt, hat er in seinem Buch erläutert.

Von Peter B. Schumann | 05.04.2004
    Sozialismus heißt, der Gleichheit gemeinsam mit der Freiheit Raum zu schaffen. Sozialismus heißt, die absolute Macht abzulehnen, ihr zu misstrauen, aber auch hart darauf hinzuarbeiten, die Plagen des Kapitalismus zurückzudrängen. Sozialismus heißt zu verhindern, dass die Wirtschaft eine Maschinerie ist, die Tod bringt, statt Leben zu spenden, aber auch zu verhindern, dass die Politik eine Maschinerie ist, die Tod und Unterdrückung bringt.

    Fast etwas altertümlich wirken diese Gedanken heute, in einer Zeit, da sich viele mit dem Ende der Utopie abgefunden haben und andere sich seit dem Zusammenbruch des 'realen Sozialismus' das Nachdenken über grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen gänzlich ersparen. Aus der sog. Dritten Welt kommt nun ein Denkanstoß, nicht ganz zufällig aus Chile. Hier hatten Salvador Allende und seine Regierung der Unidad Popular vor gut dreißig Jahren zum ersten Mal in den beiden Amerikas den Versuch unternommen, ein sozialistisches System auf demokratischem Weg zu verwirklichen. Tomas Moulian, damals ein junger Soziologe, unterstützte diesen Prozess begeistert. Er musste aber sehr bald miterleben, wie das Experiment von einem Militärregime mit Hilfe der USA blutig beseitigt und das Gegenteil, der Neoliberalismus, implantiert wurde, und zwar radikaler als in jedem anderen Land Lateinamerikas.

    Bereits 1983 – Pinochets Putsch lag ein Jahrzehnt zurück – analysierte Moulian die Erfahrung mit der Regierung der Unidad Popular, der Volkseinheit, in seinem Buch Demokratie und Sozialismus in Chile. Das Resumee von damals lieferte das Ausgangsmaterial für seine neuen Überlegungen über einen Sozialismus für das 21. Jahrhundert.

    Das Wertvolle an diesem Projekt war der Versuch, den Sozialismus zu errichten, ohne auf die klassischen Formen der Revolution zurückzugreifen... Im Verlauf des ganzen Prozesses wurde versucht, tief greifende Reformen und partizipative Demokratie miteinander in Einklang zu bringen, ohne dass durch die schwere Krise despotische Tendenzen aufgekommen wären.

    Tomás Moulian, inzwischen 65 Jahre alt und einer der namhaftesten chilenischen Intellektuellen der außerparlamentarischen Linken, geht ganz undogmatisch vor:

    Im 20. Jahrhundert sind die beiden großen Strategien, die von der Linken eingesetzt wurden, um dem Kapitalismus die Stirn zu bieten, gescheitert. Mit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion brach auch der Mythos des Sozialismus zusammen. Seit Mitte der 60-er Jahre wurden die Sozialstaaten, die große Schöpfung der Sozialdemokratie, infrage gestellt, und mit der Globalisierung erscheinen sie als antiquierte Lösungen in einer Welt, in der man die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte für die Formel der Zukunft hält.

    Er sieht also weder in den sozialistischen Revolutionen noch in den sozialdemokratischen Reformen zukunftsfähige Lösungen. Die einen hätten zu anderen Formen der Despotie geführt – Moulian analysiert ausführlich die Entwicklung von der Russischen Revolution zum autoritären System des Staatssozialismus in der Sowjetunion. Die anderen hätten – trotz unbestreitbarer Errungenschaften – letztlich nichts anderes bewirkt, als das kapitalistische System zu festigen und die demokratischen Strukturen zu schwächen.

    Der Kampf gegen den Kapitalismus muss andere Formen annehmen.

    Dazu müsse zunächst einmal anerkannt werden, dass der Sozialismus keine unvermeidliche Folge der historischen Entwicklung sei, keine Notwendigkeit.

    Er ist tatsächlich nur eine Möglichkeit in einem Komplex von Kämpfen, deren Ziel es in erster Linie ist, das erkennbar zu machen, was der Kapitalismus verbirgt: seinen destruktiven Charakter.

    Es gehe nicht um schnellen Erfolg durch Machtergreifung infolge einer Revolution – die Resultate waren jeweils verheerend: in Russland, Kuba oder Nicaragua. Es gehe um die allmähliche Transformation bestehender Strukturen in einem lange andauernden Prozess.

    Der Sozialismus der Zukunft ist eine Reise, in gewissem Sinne eine Odyssee, bei der zahlreiche Hindernisse überwunden werden müssen und kreative Kraft akkumuliert wird.

    Aber Moulians Buch will kein Reiseführer sein, der jeden Schritt vorzeichnet, sondern "eine Reisekarte", die Koordinaten bietet, eine Orientierungshilfe auf dieser Fahrt "zu einem offenen Horizont". Und deshalb räumt der Autor – der selbst im Umfeld des progressiven Flügels der chilenischen KP zu Hause ist – mit einigen Dogmen auf: dem Machtanspruch von Partei oder Staat, der Weltrevolution, dem Proletariat als Vorkämpfer der Geschichte.

    Es war ein Irrtum, den Sozialismus, also den Vorhof der Emanzipation, als Diktatur einer Klasse, die sich als universell bezeichnet, zu denken.

    Für Tomás Moulian ist Sozialismus heute "umfassende Demokratie".

    Er sollte in erster Linie als Vergesellschaftung der politischen Macht gedacht werden, was bedeutet, dass er in der Schaffung einer partizipativen Demokratie bestehen müsste.

    Das bedeutet eine Absage an die gegenwärtig herrschende Form der bloß repräsentativen Demokratie. Voraussetzung sei die Entwicklung einer offenen Gesellschaft, die ihre Absichten und Ziele ständig zur Diskussion stellt. Und im übrigen Freiheit für alle beinhalte – was bereits Rosa Luxemburg verlangte. Das durchzusetzen, dürfte nicht einfach sein, denn das Projekt findet im Rahmen tradierter Strukturen statt.

    Die Kämpfe für die Transformation des Kapitalismus und für einen Sozialismus, der sich als partizipative Demokratie, Bedürfnisökonomie und brüderliche Kultur versteht, sind Kämpfe, die in der alten Gesellschaft stattfinden. Vielfältige Akteure sind ihre Protagonisten, nicht nur Proletarier, ja nicht einmal nur Arbeitnehmer.

    Moulian macht sich die Mühe, die Faktoren seines Sozialismus für das 21. Jahrhundert im Einzelnen darzustellen. So sieht sein Wirtschaftsmodell eine Ausrichtung auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse, aber auch eine Kombination von privatem und gesellschaftlichem Eigentum vor. Er möchte eine "Kultur des Seins" entwickeln anstelle der existenten "Kultur des Habens". Kreativität soll dabei eine zentrale Rolle spielen:

    Die Suche nach den unbekannten Dimensionen des Ichs, die Hingabe an die Emotion, das Experiment neuer Lebensformen.

    Gewalt zur Durchsetzung seines neuen Sozialismus lehnt Tomás Moulian ab, denn er hat beim Rückblick auf die Geschichte sozialistischer Revolutionen dargestellt –

    – dass sich die am Anfang stehende Gewalt wie eine Seuche reproduziert und zu einer Gewaltroutine wird.

    Ihm ist auch klar, dass heute ein Frontalangriff auf das kapitalistische Weltsystem völlig unmöglich ist, dass es also nur darum gehen kann –

    – eine Politik demokratischer Kämpfe gegen den Kapitalismus aufzubauen.

    Viele der Ideen Moulians sind von anderen marxistischen Theoretikern des vergangenen Jahrhunderts vorgedacht. Auf sie verweist er immer wieder. Aber er hat ihre verstreuten Vorstellungen zu einem eigenen Konzept weiterentwickelt. Mag es in manchem recht utopisch erscheinen, so kann er doch auf erste praktische Erfahrungen in Lateinamerika verweisen: auf neue Organisations- und Verwaltungsformen, welche die Zapatistas in Mexico entwickelt haben, die Verbindung von Politik und Leben, die der Bewegung der Landlosen in Brasilien in Brasilien gelungen ist, die neue soziale Bewegung in Argentinien und nicht zuletzt das sozialistische Projekt in Chile, das vor drei Jahrzehnten bereits Ansätze einer Basisdemokratie verwirklicht hatte.

    Tomás Moulians Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert, Der 5.Weg. Die Übersetzerin ist Barbara Gelautz. Das 232 Seiten starke Buch ist im Rotpunktverlag erschienen und kostet 16.80 Euro.