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Tony Blair und die Sozialisten

Am Donnerstag hat der britische Premierminister Tony Blair im EU-Parlament die Richtung für seine am 1. Juli beginnende Ratspräsidentschaft vorgegeben: Europa müsse sich ändern, um sich den Anforderungen der Globalisierung zu stellen, forderte Blair. Er bekam von den Sozialisten Applaus, aber auch mahnende Worte für seine Rede - die einen freuten sich über die klaren Worte, die anderen fürchten eine zu liberale Ausrichtung der Politik. Ruth Reichstein berichtet aus Brüssel.

    Über 200 Abgeordnete aus den 25 EU-Mitgliedsstaaten sitzen in den Reihen der Sozialisten im Europäischen Parlament. Sich da bei jeder Abstimmung einig zu sein, ist sowieso schon schwierig. Seit dem gescheiterten Gipfel und der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden ist es aber noch um einiges komplizierter geworden. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den politischen Vorstellungen etwa der Sozialisten in Frankreich und der New-Labour-Partei in Groß-Britannien. Der französische Abgeordnete Harlem Désir ist skeptisch nach Blairs Rede im EU-Parlament.

    " Er sagt, dass er ein soziales Europa will. Aber bei jedem Thema, das auf den Tisch kommt, zum Beispiel die Dienstleistungsrichtlinie oder die Direktive zur Arbeitszeit, jedes Mal war die Regierung von Tony Blair auf der Seite der Regierungen, die eine Lösung vorgeschlagen haben, die das soziale Modell bedroht."

    Tony Blair gilt vielen Sozialisten und Sozialdemokraten in Europa als zu liberal. Vor allem den Franzosen. Aber auch die ungarische Abgeordnete Zita Gurmai wünscht sich ein Umdenken in ihrer politischen Familie.

    " Wir brauchen mehr Solidarität in Europa. Wir hatten erst gestern wieder eine Diskussion darüber in der Gruppe. Und ich habe auf dieses Problem hingewiesen. Mir gegenüber sitzen die Experten aus den alten Mitgliedsstaaten. Wir sind Anfänger. Wir brauchen mehr Hilfe."

    Europas Sozialdemokraten streiten sich nicht nur über die Person Tony Blair. Dahinter liegt eine tiefere Auseinandersetzung über das sozialdemokratische Modell für Europa, sagt der Niederländer Thijs Bermann:

    " In der Diskussion geht es um die Rolle des Staates in der Wirtschaft, um den öffentlichen Dienst, Privatisierung und Liberalisierung. Da gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen französischen Sozialisten und britischen Sozialisten, zwischen französischen und niederländischen Sozialisten. Wir sind ja eher auf der angelsächsischen Seite. Da sind wir uns echt nicht einig in Europa: Wie groß muss der staatliche Einfluss sein? Diese Debatte ist noch lange nicht beendet und dann muss man sich auch fragen, wer das alles bezahlen wird."

    In vielen Fragen stehen sich vor allem die Briten und die Franzosen fast feindselig gegenüber. Harlem Désir:

    " Wenn Tony Blair uns erklärt, dass er in seinem Land den Mindestlohn eingeführt hat, dass er dem öffentlichen Dienst mehr Geld gegeben hat, dann fühlen wir uns seiner Familie zugehörig. Aber wenn er auf europäischem Niveau immer nur von Liberalisierung spricht und die durch nichts ausgleichen will, dann müssen wir darüber reden. Ich denke, wir müssen unsere gemeinsame Version neu definieren und so das Vertrauen der Bürger wiedergewinnen."

    Für Richard Corbett, der die New-Labour-Partei im EU-Parlament vertritt, sieht diese Meinungsverschiedenheiten nicht ganz so drastisch:

    "Wir haben noch immer eine gemeinsame Vision, sind uns nur in Detailfragen nicht einig, weil die in verschiedenen Ländern unterschiedliche Auswirkungen haben. Aber das hindert uns nicht daran, gut zusammen zu arbeiten"

    Um wieder eine gemeinsame Linie zu finden, treffen sich die Sozialdemokraten aus ganz Europa dieses Wochenende zu einem Kongress in Wien. Hier sollen solch grundlegende Fragen geklärt werden. Für den SPD-Abgeordneten Jo Leinen aus dem Saarland ist klar, dass die Sozialisten sich auch innerhalb ihrer Familie auf einen Kompromiss einigen müssen:

    " Ich glaube, wir brauchen eine Synthese zwischen dem angelsächsischen Modell, das sehr weite Marktfreiheiten kennt und dem kontinentalen Modell, das sehr weite Sozialschutz-Elemente kennt. Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Man kann von dem angelsächsischen Modell durchaus auch das ein oder andere abschauen."

    Der neue EU-Ratspräsident wird mit Sicherheit versuchen, sein britisches Modell nach Europa zu tragen. Klar ist, dass er damit auf Widerstand stoßen wird - auch bei seinen eigenen Parteifreunden.