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Tore ins Glück - Wege nach Augsburg

Kann die Stadt ein idyllischer Ort sein? Auf der Suche nach einer Antwort begibt sich Gerd de Bruyn nach Augsburg, in die zweitälteste Stadt Deutschlands.

Von Gerd de Bruyn |
    Der Autor studierte Literatur- und Musikwissenschaft, ehe er ins Architekturfach wechselte. Seit 2001 ist er ordentlicher Professor für Architekturtheorie und Direktor des "Instituts moderne Architektur und Entwerfen" an der Universität Stuttgart. De Bruyn ist Mitherausgeber der Reihe "Kultur und Technik". Seine Arbeitsschwerpunkte betreffen die Architekturtheorie des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. 2008 erschien "Die enzyklopädische Architektur. Zur Reformulierung einer Universalwissenschaft".

    Augsburg, eine Gründung des Kaisers Augustus, ist nach Trier die zweitälteste Stadt Deutschlands. Schon bald mauserte sie sich zur Hauptstadt der römischen Provinz Raetia, die von der Donau bis Graubünden und Tirol reichte.

    Richtiger wäre, zunächst nur von der Gründung eines Militärlagers statt einer Stadt auszugehen. Zumal uns diese nicht gerade unerhebliche Unterscheidung ins Zentrum unsres Themas katapultiert.

    Ja, die römischen Legionslager wurden allesamt nach dem gleichen schematischen Plan angelegt, mit zwei Hauptstraßen, die sich im rechten Winkel kreuzten, exakt dort, wo das Forum mit dem Stabsgebäude lag, und der Abschluss beider Hauptstraßen wurde durch wehrhafte Tore markiert wurde. Unser Thema liegt in der Luft, doch von "Toren ins Glück" kann kaum schon die Rede sein...

    Waren es nicht befestigte Militärlager, die das Urmuster für so viele Idealstädte und Stadtutopien abgegeben haben, die wir seit der Neuzeit kennen? Über Jahrtausende hinweg faszinierten die Planer strenge Geometrien von Straßen und Plätzen. Noch das Raster von Manhattan zeugt hiervon. Man kann sich leicht vorstellen, dass bereits die Händler, Handwerker und illegalen Familien der Legionäre, die neben den römischen Kastellen siedelten, die planvollen Abläufe im Lager bewunderten. Wenn sie kein Glück verhießen, dann zumindest massiven militärischen Schutz und eine gute Versorgung!

    Im Falle Augsburgs war das immerhin 400 Jahre lang der Fall, bevor die Alemannen kamen und kurzen Prozess mit der römischen Vorherrschaft machten. Doch sollen sie das damalige Augusta Vindelicum nicht zerstört haben. Der Grund liegt darin, dass unsere Vorfahren offenbar nicht nur Kriege führten, sondern auch staunen konnten. Als das Imperium Romanum wie von selber zerfiel, mussten die Germanen nicht länger alles, was zur feindlichen Kultur gehörte, mit Hass und Unverständnis verfolgen. Vielleicht waren die Legionäre schon abgezogen, als die Alemannen in Augsburg einfielen, und die Stadttore standen offen...

    Dennoch blieb so gut wie nichts vom antiken Augsburg übrig. Unsere neugierigen Vorfahren mögen noch so gestaunt haben, zum urbanen Leben verstanden sie sich nicht. Es verstrichen Jahrhunderte, bevor sich hierzulande eigene Formen des Städtischen entwickelten. Es war jedenfalls nicht verwunderlich, wenn Augsburg erst wieder 1156, als ihm von Kaiser Friedrich Barbarossa das Stadtrecht verliehen wurde, die Größe aufwies, die es schon einmal tausend Jahre früher hatte. Nunmehr allerdings ohne eine Ordnung, die der rechte Winkel ertrotzte.

    Doch sind mittelalterliche Städte planlos gewachsen? Das Gegenteil ist richtig, auch wenn hierbei Zirkel und Lineal kaum eine Rolle spielten. Nicht die Geometrie schaffte Orientierung, wohl aber bedeutsame Bauwerke wie Kirchen, Klöster, Börsen und Rathäuser, die von weither zu erkennen waren und mit ihren hoch aufragenden Türmen und Dächern einzelne Stadtteile markierten. Aus diesem Grund spricht man ja von der "Bedeutungsordnung" der mittelalterlichen Stadt. Im engen Geflecht ihrer Straßen und Gässchen tauchten immer wieder wichtige Gebäude als Wegweiser auf. Noch heute kann man diese beglückende Erfahrung in historischen Stadtzentren machen. Doch die Architekten der Renaissance wollten nichts mehr davon wissen. Wie die modernen Planer die Groß- und Industriestädte des 19. Jahrhunderts verabscheuten, wandten sie sich angeekelt ab von der nach Mist und Kot stinkenden mittelalterlichen Stadt. So entstand eine völlig neue Idee von Urbanität.

    Die zugleich eine alte war! Die damaligen Baumeister waren nicht anders als ihre dichtenden, malenden und musizierenden Kollegen in die Antike vernarrt, die ihnen auf die Frage nach der effektivsten Methode der Stadtbefestigung dazu riet, generische Formen wie Kreis und Quadrat zum Ausgangspunkt ihrer Planungen zu machen. Die Idealstädte, die auf diese Weise entstanden, waren ballistische Maschinen in der Gestalt platonischer Körper. Man hoffte offenbar, ideale Formen würden dem Zerstörungswerk der Kanonen am besten standhalten können.

    Womit der Beweis erbracht wäre, dass sich damals Magie und Vernunft weit besser vertragen haben als heute. Doch wollten Sie ja auf etwas anderes hinaus: auf die Wiedergeburt des Legionslagers in der neuzeitlichen Planstadt und also auf die Tatsache, dass es zum wiederholten Male militärische Überlegungen waren, die die entscheidenden stadtplanerischen Impulse setzten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff Idealstadt sowohl die militaristische Planstadt als auch die humanistische Stadtutopie meint. Letztere trat im Jahre 1516 in die Welt, als Thomas Morus in seinem Roman "Utopia" die sozial gerechten Lebensverhältnisse der quadratischen Stadt Amaurotum beschrieb.

    Morus ging es nicht darum, die konkrete Anschaulichkeit der mittelalterlichen Stadt mit abstrakten Grundrissen auszutauschen. Sein Ziel war, den hierarchischen Charakter der rigoros nach Ständen differenzierten Stadt durch eine egalitäre Struktur zu ersetzen, die Gleichheit unter den Menschen herstellen sollte.

    Aber verdankt sich der Gleichklang und die Eintönigkeit von Städten wie Sabbioneta, Palma Nova, Mannheim oder Karlsruhe dem politischen Gedanken der Egalität?

    Die genannten Beispiele sind wohl als humanistische Utopien zu bezeichnen. Planungen, für die man die Rede von den "Toren ins Glück" gelten lassen will, spiegeln ja gerade nicht die unumschränkte Macht barocker Potentaten wider.

    Dagegen steht, dass der französische Sozialutopist Charles Fourier das aus mehreren Flügeln bestehende pompöse Bauwerk, das er seiner libertären Kommune auf den Leib schneiderte, der Schlossanlage von Versailles nachempfunden hatte.

    Das Phalanstère stellte sich Fourier aber gerade nicht als hervorgehobenen Prachtbau einer Gemeinschaft vor, deren Bewohner in elenden Hütten hausen. In Fouriers autre monde leben alle Menschen in Palästen! Wobei nicht die Formel gilt: jedem sein eigenes Schloss, wohl aber: alle haben Anspruch auf ein Zimmer im Phalanstère. Der Franzose glaubte, die Schlossarchitektur komme seiner Sozialutopie deshalb so nahe, weil die gleichmäßige Reihung ungleicher Räume sowohl den charakterlichen Unterschieden als auch der politischen Gleichheit der Menschen bestens entspreche.

    Demnach fänden also die Individualität der Kommunarden und ihre soziale Solidarität ausgerechnet in einer barocken Ordnungsstruktur ihre adäquate Antwort?

    Aber nur deshalb, weil diese umgedeutet, zweckentfremdet oder, wie man ebenfalls sagen könnte: durch Fourier einer avantgardistischen Reformulierung unterworfen wurde, die ein Altes, nämlich die barocke Schlossarchitektur, zitierte und zugleich in ein Neues, in ein intelligentes modernes Wohnexperiment, verwandelte.

    Doch auf der Suche nach den "Toren ins Glück" muss man sich keineswegs von der Renaissance verabschieden. Damals entstanden Stadtideen, die uns besonders interessieren sollten, da sie Ordnungen infrage stellten, die auf der ungnädigen Unterscheidung des Bedeutenden vom Unbedeutenden beharrten. So spröde die frühen Resultate auch immer sein mögen, die uns die utopische Sehnsucht nach der Egalisierung sämtlicher gesellschaftlicher Sphären bescherte: In den Idealstädten Albrecht Dürers, Heinrich Schickhardts, Johann Valentin Andreaes, Joseph Furttenbachs, dessen Buch Architectura recreationis übrigens 1640 in Augsburg erschien, und selbstverständlich auch in der Hugenottenstadt Georg Andreas Böcklers erkenne ich honorige Vorboten sozialer Urbanität...

    ...für die man den Namen "idyllische Stadt" vorschlagen könnte. Denn wem es Ernst ist mit solchen Konzepten, dem werden realisierte Projekte wie die Fuggerei in Augsburg ganz besonders imponieren. Bietet dieser sozialreformerische locus amoenus, zu Deutsch: liebliche Stadt nicht das frühe Paradebeispiel einer Idylle, die mit dem Lineal gezogen wurde?

    Sogar das allererste! Die Fuggerei ist die älteste bestehende Sozialsiedlung der Welt. 1516 wurde mit ihrem Bau begonnen, im gleichen Jahr, in dem Morus seine "Utopia" veröffentlichte. Offenbar war die Zeit reif, sozialreformerische Projekte in Theorie und Praxis auszuführen. In der Fuggerei verwirklichte sich ein tatkräftiger Wille, dennoch können wir sie gern in Abgrenzung zu den kaltschnäuzigen Planungen, die allein militärischen Zwecken dienten, eine "idyllische Stadt" nennen. Auch wenn in so einer Bezeichnung ja immer ein spöttischer Unterton, ein gerütteltes Maß Ironie und Abschätzigkeit mitschwingen. Idyllen nimmt man mit Freude wahr, aber nie wirklich ernst.

    So wäre denn auch an der Fuggerei etwas Unernstes, gar Lächerliches zu bemerken?

    Kommen wir eher auf ihre positiven Seiten zu sprechen
    Immerhin scheint es nicht ohne Logik, dass sich in Augsburg herausragende Zeugnisse sowohl für eine städteplanerische wie eine eher romantische Herangehensweise finden lassen. Wie lauten die beiden touristischen Attraktionen, womit die Stadt Augsburg Menschen aus aller Welt anlockt?

    die Fuggerei selbstverständlich und womöglich der Goldene Ratshaussaal.

    Falsch - die Augsburger Puppenkiste! Man muss ja kein verkappter Romantiker sein wenn man Fragen des Glücks auch mit der Welt der Kinder und Märchen verbindet.

    Andererseits wollten wir nicht über den literarischen und metaphorischen Gebrauch von Toren diskutieren, sondern über reale Tore, die sich öffnen und schließen lassen.

    Hierbei sollte man aber nicht vergessen, dass gebaute Tore und Tormetaphern eine unverbrüchliche Einheit bilden. Hierzu sei ein Dichter zitiert, dessen berühmte Schrift "Über das Marionettentheater" Gewähr genug ist, dass neben der Fuggerei auch die Augsburger Puppenkiste ein würdiger Diskussionsgegenstand ist. Im November des Jahres 1800 schrieb Heinrich von Kleist an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge:

    "Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meinen Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank (...) ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen - und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt."

    Der Gedanke ist einleuchtend, dass das Durchschreiten eines Tores im Unterschied zur Durchquerung einer Tür stets ein Ereignis besonderer Art ist, das einen grüblerischen Verstand zu allerlei philosophischen Reflexionen anstiften kann. Zudem bietet Kleists Überlegung einen guten Anknüpfungspunkt. Der Dichter, der damals durch die Lektüre von Kants "Kritik der Urteilskraft" aufgewühlt war, spürte unter dem aus schweren Steinen gemauerten Torgewölbe den Gegensatz von eingebildeter Labilität und konstruktiver Stabilität besonders drastisch. Dass die Belastbarkeit von Toren und Menschen automatisch mit dem Druck steigt, der auf sie ausgeübt wird, scheint der Strohalm gewesen zu sein, nach dem er in großer Seelenpein griff.

    Aber ist es gleich so negativ zu sehen? Immerhin spricht er von einem "unbeschreiblich erquickenden Trost", der von dem geschilderten Erlebnis ausging. Allerdings wäre es eine irritierende Vorstellung, wenn der Weg in die idyllische Stadt ausgerechnet durch schattige Torgewölbe führen müsste.

    Aber wieso ? Die Idylle lebt von Kontrasten. In unzähligen Geschichten muss der Held seine Abenteuer in einer unheimlichen und unwirtlichen Welt bestehen, bevor man ihm den Zugang in irgendein Paradies gewährt. Auch in Beethovens Pastorale folgt der aufwühlende, Sturm und Gewitter verheißende 4. Satz der lieblichen "Szene am Bach" und dem "lustigen Zusammensein der Landleute", um schließlich in einem mit "frohen und dankbaren Gefühlen" überschriebenen Allegretto friedlich zu enden. Es gibt sogar Idyllen, die ihr Gegenteil bereits in sich tragen, die locus amoenus und locus terribilis, liebliche und schreckliche zugleich sind.

    Hierbei stößt man auf Homers Odyssee, als der listige Held mit seinen Gefährten die Insel Aiaia erreicht, auf der Kirke, die Tochter des Sonnengottes herrscht. Auf sie geht ja das hübsche Wort bezirzen zurück, welches uns darauf aufmerksam macht, dass schöne Frauen nicht nur bezaubernd sind, sondern uns Männer restlos verzaubern können. Wie sehr dabei die Beneblung der Sinne Folge eines teuflischen Planes sein kann, ahnt Odysseus, als der Anführer eines Spähtrupps, den er zur Erkundung der Insel entsendet hatte, alleine zurückkehrt und aufgeregt berichtet:

    "Edler Odysseus, wir gingen, wie du befahlst, durch die Waldung,
    Fanden im Tal des Gebirgs die schön gebaute Wohnung,
    Von gehauenen Steinen, in weit umschauender Gegend.
    Allda wirkte jemand und sang am großen Gewebe:
    Eine Göttin oder ein Weib! Nach ihr riefen die andern!
    Jene kam und öffnete schnell die strahlende Pforte,
    Nötigte sie, und alle die Unbesonnenen folgten.
    Ich allein blieb draußen, denn ich vermutete Böses!"

    Hier haben wir den Beweis: Das, was Homer "strahlende Pforte" nennt, führt unweigerlich in ein falsches Paradies, in dem hungrige Krieger in grunzende Schweine verwandelt werden. Gleichwohl ist es eine Idylle, über welche die geheimnisvolle Zaubergöttin herrscht, da die gefährlichsten Raubtiere, die mit ihr leben, sie wie harmlose Hauskatzen umschmeicheln. In Kirkes Welt findet offensichtlich eine unfreiwillige Zähmung statt, die uns einen wichtigen Wesenszug des Idyllischen vor Augen führt: die Durchsetzung eines Friedens, der stets auch gewaltvolle Züge trägt.

    In der Tat, es ist immer nur eine erzwungene Harmonie, die die idyllische Stadt verspricht. Aus diesem Grund müssen ihre Tore strahlen, so hell, dass sie die Augen blenden und zum Eintritt in eine Welt verlocken, die nur deshalb friedvoll scheint, weil strenge Gesetze dafür sorgen, dass wir dort nicht bleiben dürfen, was wir sind.

    Moment, die idyllische Stadt ist kein Umerziehungslager! Für Campanellas "Cittá del Sole" mag das angehen, und vermutlich für alle Sozialutopien, die ja schon einschlägig als philanthrope Diktaturen beschrieben wurden. Doch gilt das auch für die Fuggerei? Mitnichten! Hier werden Menschen weder manipuliert noch von verhexten Toren angelockt.

    Trotzdem spielen die Tore der Fuggerei eine große Rolle: Sie sind es ja vor allem, die dafür sorgen, dass die Siedlung eine "Stadt in der Stadt" scheint. Und, wenn ich das noch sagen darf: Sie erreichen dies auf eine wunderbar heitere und einladende Weise!

    Womit wir nun endlich mitten im Thema wären...

    Denn die Fuggerei bietet das Modell eines Städtchens, das - fast könnte man sagen - der Augsburger Puppenkiste entsprungen sein könnte. Ein beschaulicher Flecken mit eignem Kirchlein und acht Gassen, die in der Tat mit dem Lineal gezogen wurden. In Wahrheit handelt es sich nur um eine verträumte Wohnsiedlung, die allerdings mit eigenen "Stadtmauern" und drei Toren versehen wurde, die allabendlich um 22 Uhr von einem Nachtwächter verschlossen werden. Heute noch! Wer früh genug nach Hause findet, kann vom Jakobsplatz zur Finsteren Gasse durchschlüpfen, oder das Tor zur Saugasse wählen, in der sich einst die Krankenstation der Fuggerei befand. Wer zu spät kommt, muss am Ochsentor um Einlass bitten und 50 Cent berappen.

    Da haben wir's: Die Idylle wird von einem Nachtwächter beschützt! Reglement und Biedersinn geben sich an der Nachtpforte die Hand. Steht die Fuggerei nicht für das Beispiel der ältesten Gated Community der Welt?

    Tatsache bleibt dennoch, dass hier keine reichen Leute in einen goldenen Käfig gesperrt sind, sondern Arme versorgt und beschützt werden! Und nicht etwa so, wie dies John Ruskin für die Armenpflege im alten Genf beschrieb: "Die Gebrechlichen und Alten alle in guter Obhut und versorgt, ihre Suppennäpfe gefüllt, ihre Strohsäcke zurechtgeschüttet von hilfsbereiten Händen." Nein - in der Fuggerei lebte und lebt man noch heute mit seinem eigenen Hausrat in den eigenen vier Wänden.

    Aber musste nicht, wer dort aufgenommen werden wollte, ein unbescholtener Katholik und überdies bereit sein, dreimal täglich für den Stifter, den reichen Jakob Fugger und seine Familie, zu beten? Man beachte: solche Fürbitten stellten einen realen Gegenwert für das Wohnrecht dar, da auch die Fugger in einer Zeit, in der man sich mit Ablässen von seinen Sünden loskaufte, daran denken mussten, wie sie sich ihren Platz im Himmel sichern könnten. So gesehen war die Investition ins Gebet der Armen keine schlechtere Ausgabe als die für den Bergbau oder die Krönung von Königen...

    Klar waren es nicht nur karitative Gründe, die zum Bau der Siedlung führten. Die Fugger hatten in Augsburg keinen so tollen Ruf. Viele kleine Weber fielen in die Abhängigkeit der Großkaufsleute und verarmten. Nachdem die Fuggerei erbaut worden war, konnten die verelendeten Weber sogleich dorthin übersiedeln. Solche Umstände sprechen nicht gerade für die Stifter, doch sollten wir mit deren Beweggründen kein Projekt verwechseln, das den Bedürftigen ein stilles "Glück im Winkel" ermöglichte.

    Mehr darf man also Ihrer Ansicht nach vom Leben nicht erwarten, wenn man ein armer Schlucker ist?

    Doch geht es darum? War es nicht so, dass die Architekten-Avantgarde, die in den Zwanziger Jahren die Wohnung für das Existenzminimum ausheckte, für ihre Klientel nicht mehr Raum veranschlagte, als die Fugger vierhundert Jahre zuvor! Ungefähr sechzig Quadratmeter weisen die Wohnungen der Fuggerei auf. Deutlich weniger Fläche bieten Ouds winzige Reihenhäuschen der berühmten De Kiefhoek-Siedlung im Süden Rotterdams. Was aber viel schwerer wiegt als Argument, das ist doch diese ganz besondere, eindrückliche Aura, welche die Fuggerei umgibt. Sie zieht jeden in ihren Bann, sei er reich oder arm. So kitschig es klingen mag: Die ist eine Aura des Glücks.

    Und den Zugang zu diesem Glück, das den Bewohnern ja offenbar meinen, nur wenige Zugeständnisse abverlangt...

    ... bilden zweiflügelige Tore, ganz recht, die im Übrigen perfekt dimensioniert sind. Sie scheinen mir weder zu groß, noch zu klein. Sie schüchtern niemanden ein, sorgen aber dafür, dass der Ankommende seinen Schritt etwas verlangsamt. Die Tore der Fuggerei schüren frohe Erwartungen. Ihre leicht gekrümmten Bögen versprechen Geborgenheit, statt diejenigen, die darunter hindurch gehen, mit den bangen Hoffnungen zu bedrängen, die Kleist in Würzburg überfielen.

    Nun gut, das mag man alles gerne glauben. Dennoch drängt sich hier geradezu eine Frage auf, nämlich die: In welche Richtung öffnen sich die Tore der Fuggerei? Nach innen oder außen?

    Bestimmt nach innen.

    Wissen wir das oder ist das nur eine Vermutung?

    Wenn nicht alles täuscht, öffnen sie sich zur Siedlung hin. Aber weshalb ist das von Interesse?

    Ganz einfach: weil das Tor der Augsburger Puppenkiste nach außen aufgeht.

    Viele haben nur noch eine ungefähre Ahnung daran - als Kind vor dem Fernseher...
    ...Doch wer erinnert sich nicht an dieses Lied?

    " Eine Insel mit zwei Bergen
    und im tiefen weiten Meer,
    mit viel Tunnels und Geleisen
    und 'nem Eisenbahnverkehr -
    ja, wie mag die Insel heißen?
    Was? Das ist euch nicht bekannt?
    Ja, dann müsst ihr einmal reisen
    in das schöne Lummerland ... "

    Wie könnte man so etwas vergessen. War das nicht der Titelsong von "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer"?

    Diese aus fünf Episoden bestehende Sendung wurde erstmalig 1961 im Kinderprogramm des Hessischen Rundfunks ausgestrahlt. Damals noch in schwarz/weiß. Sonntag für Sonntag saßen wir jung an Jahren hoch gespannt im Wohnzimmer, das verführerisch nach Bildröhre roch. Wir Kinder wurden Zeugen von etwas ganz Besonderem, das ein Bestsellerautor unserer Tage in die Worte kleidete:

    "Die allermagischsten Momente habe ich vor dem Fernseher erlebt im Advent, wenn ich wie gebannt vor dem Apparat hockte und es kaum erwarten konnte, dass der Deckel der Puppenkiste aufsprang und der samtene Vorhang auseinander glitt, um den Blick auf eine andere, eine fantastische Welt freizugeben. Denn jene Welt hinter diesem Deckel und hinter diesem Vorhang - nun, das war eine Welt, die jedes Kind sofort in ihren Bann schlägt. Da gab es Berge aus Pappmaché, Wasser aus durchschimmernder Plastikfolie, Inseln mit und ohne Eisenbahnverkehr, Feuer speiende Vulkane, Jahrmärkte, fliegende Teppiche, Blechbüchsenarmeen, Piraten und Roboter - all das ließ mein Herz höher schlagen."

    Nur was hat das alles mit den Toren zu tun?

    Sehr viel, denn davon war gerade die Rede: Von den beiden Deckeln, die jedes Mal gleichzeitig aufgingen, bevor sich der kleine Samtvorhang hoben und das Märchen begann. Schauen Sie, es ist doch ganz einfach: Während architektonische Tore kostspielig und nicht selten ein wenig großspurig sind, können die Eingänge in die kindliche Phantasie von den unscheinbarsten Dingen gebildet werden. Zwischen den großen Toren kleiner Siedler-Idyllen und den winzigen Durchschlüpfen ins große Kinderglück bestehen erhebliche Unterschiede.

    Sie wollen darauf hinaus: dass die Erwachsenen immer nur ein kleines Glück zu verwirklichen wissen, während die Puppenkiste von unbescheidenen Hoffnungen erzählt.

    So könnte man das sagen. Das ist ja auch der Grund, weshalb die Märchen vom Kater Mikesch oder vom kleinen dicken Ritter trotz aller beschaulichen Szenen keine Idyllen sind. Idyllen sind Miniaturen großer Menschheitsträume. Verniedlichungen, die unsere Sehnsüchte im kleinsten Maßstab erfüllen und dabei deutlich machen: das muss reichen. In Idyllen schwingt die Skepsis mit, es könne sich womöglich nicht lohnen, unsere politischen und sozialen Träume in vollem Umfang zu realisieren. Dagegen bietet die Welt der Märchen Raum für ungebremste Sehnsüchte. Sie vergrößert unsere Hoffnungen, statt sie zu verkleinern. Wohl ist die Lokomotive Emma winzig, doch nur, damit die ferne Welt, in die sie hineinstampft, desto abenteuerlicher wirkt. Alles Kleine will hinaus und groß werden, während umgekehrt alles Große klein wird, wie der Scheinriese Tur Tur, der zur normalen Menschengröße schrumpft, sobald er näher kommt. Erwachsene erreichen immer nur als Scheinriesen die idyllische Stadt, aus der sich ihre Kinder wegträumen. Um ihnen dabei zu helfen, musste nur jemand eine Kiste aufstellen und ihre Deckel aufspringen lassen: schon purzelten die spannendsten Geschichten heraus.

    Und wer war dieser Jemand?

    Walter Oehmichen. Seit 1931 wirkte er als Schauspieler am Augsburger Stadttheater. 1945 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, begann er zusammen mit seiner Familie ein Marionettentheater in eine Kiste einzubauen, die immer und überall einsatzbereit sein sollte. Nur so waren wieder Theateraufführungen in einem Land möglich, dessen Bühnen in Schutt und Asche lagen. 1948 war es schließlich so weit: die Augsburger Puppenkiste wurde mit dem gestiefelten Kater eröffnet.

    Auch hier waren also einfachste Lösungen gefragt, um einen Notstand zu beheben. Auf diese Weise folgte der Wohnung fürs Existenzminimum die Puppenbühne für das Kunstminimum auf den Fuß. Ich möchte wetten, dass entgegen Ihrer Ausführungen zum nichtidyllischen Wesen der Märchen die putzigen Bühnenbilder der Marionetten geradewegs dem Puppenstubencharme der Fuggerei entsprangen. Gut möglich, dass Walter Oehmichen einem Spaziergang in der Fuggerei seine nachhaltigsten Eindrücke verdankte. Was wäre von der These zu halten, dass die Ästhetik der Puppenkiste von der Fuggerei-Idylle entscheidend inspiriert wurde?

    Sie widerspricht der hier diskutierten Idyllen-Theorie kaum. Inspirationen darf sich jeder holen, wo er möchte, dennoch bleibt es bei einem gravierenden Unterschied. Die Fuggerei atmet den Geist der vita contemplativa . Ihre Tore geben den Weg in einen Rückzug frei, in eine geschützte Innenwelt, die das gescheiterte und beschädigte Leben für sich beansprucht. Demgegenüber entlässt die Puppenkiste ihre kleinen Zuschauer in die Welt der vita activa. Die Tore der Fuggerei öffnen sich nach Drinnen und suggerieren dem Eintretenden: hier bist du Zuhause. Die nach außen geöffneten Deckel der Puppenkiste verströmen hingegen eine Geschichte nach der anderen, damit das Glück, das darin steckt, aus der Enge des Speichers in die weite Welt entweichen kann. Die Deckel der Puppenkiste hielten stets mehr, als sie versprachen. Welche Tore können das schon von sich behaupten?

    In der Tat gilt stets die alte Losung, wonach Architektur immer viel versprechen müsse. Ein gebautes Tor darf nur in dem Maße Aufhebens von sich machen, in dem es Versprechen leistet, die das Leben nicht einlöst. Wer die Tore der Fuggerei entwarf, musste besser über diese Siedlung denken, als sie ist. Tore markieren das Ende des Glücks, Deckel markieren seinen Beginn. Noch etwas sollten wir berücksichtigen: Realität und Versprechen existieren niemals getrennt voneinander. Sie färben ständig aufeinander ab. Hiervon profitieren die wohltuende Atmosphäre der Fuggerei und ebenso der beglückende Zauber der Augsburger Puppenkiste.

    Ein Schlusswort, dem kaum zu widersprechen wäre