Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin. Betrifft: Erklärung des Ausnahmezustandes im sowjetischen Sektor von Berlin. Für die Herbeiführung einer festen öffentlichen Ordnung im sowjetischen Sektor von Berlin wird befohlen: 1. Ab 13.00 Uhr des 17. Juni 1953 wird im sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt. 2. Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstigen Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen und Plätzen wie auch in öffentlichen Gebäuden verboten. 3. Jeglicher Verkehr von Fußgängern und der Verkehr ...
Bei Zuwiderhandlung drohten Strafen nach dem Kriegsrecht. Als dieser Sowjet-Befehl in den Mittagsstunden des 17. Juni über Rundfunk und Lautsprecherwagen im Ostteil der Stadt bekannt gegeben wurde, war der Einsatz der Roten Armee gegen unbewaffnete Demonstranten schon Ereignis.
Die Ostberliner Innenstadt war militärisch okkupiert. Panzer und Gefechtsfahrzeuge am Alexanderplatz, Unter den Linden, am Brandenburger Tor und am Potsdamer Platz prägten das Stadtbild. Überall im Zentrum demonstrierende Massen, die zu Tausenden, Zehntausenden durch die Straßen zogen oder drängten, die sich spontan zu Kundgebungen versammelten, Kampflieder singend und Losungen skandierend, bis am späten Vormittag erste Salven aus russischen Handfeuerwaffen und Maschinengewehren aufpeitschten, bis es Verwundete und Tote gab: Waffen gegen das unbewaffnete Volk – nur so konnte der Aufstand gegen die Diktatur der SED unterdrückt werden.
"Waffen gegen das Volk" nennt Torsten Diedrich sein Buch über den 17. Juni 1953 in der DDR daher auch mit überzeugenden Gründen. Der Autor, promovierter Historiker, ist am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam tätig. Das erklärt, warum er in seiner für einen breiten Leserkreis gedachten, gleichwohl wissenschaftlich fundierten Darstellung von Ursachen, Verlauf und Folgen der ersten Volkserhebung im Stalinismus speziell militär- und sicherheitspolitische Aspekte herausgearbeitet hat. Der besondere Wert des Buches liegt in einer exakten Analyse der an der Niederschlagung des Aufstands beteiligten Kräfte der Schutzpolizei und der Kasernierten Volkspolizei, vor allem aber der eingesetzten Sowjettruppen.
"Die sowjetische Führung [hatte sich] bereits in der Nacht zum 17. Juni für die Taktik der massiven Einschüchterung der Bevölkerung entschieden. Das belegen die Zusammenziehung der Kräfte in und um Berlin und der Einsatz von 600 Panzern T 34/85 und JS II im Ostsektor der Stadt. Die Planung galt jedoch für Berlin [...] In den Bezirken und Kreisen der DDR kam der Aufstand auch für die Sowjets überraschend, eine derartige Planung ist nicht nachweisbar."
Tatsächlich waren die sowjetischen Einsatzvorbereitungen von Unruhen allein in Ost-Berlin ausgegangen. Dass sie fast flächendeckend auch die DDR-Provinz erreichten, hat sie total überrascht - ebenso wie die SED und speziell ihre Militär- und Sicherheitskräfte. So vergingen, wie Diedrich darlegt, mehrere Stunden, bis Sowjettruppen in die Brennpunkte der Erhebung in der Provinz geworfen werden konnten, um hier allerdings massiv gegen den Bevölkerungsprotest vorzugehen. Es geschah gleichwohl verhältnismäßig zurückhaltend. Die Zahl der Toten belief sich auf mehrere Dutzend.
Die im Vergleich zum Ungarn-Aufstand 1956 relativ geringe Zahl von Toten und Verletzten belegt den eher maßvollen Waffeneinsatz und vor allem, dass es sich in der DDR 1953 nicht wie in Ungarn um einen bewaffneten Aufstand handelte.
Erstmals macht der Autor genaue Angaben über das Eingreifen der Roten Armee am 17. Juni, wobei er sich auf Unterlagen aus dem sowjetischen Generalstab stützen kann. Zuvor, im ersten Teil seines Buches, zeichnet er den Weg in die politische und ökonomische Krise nach, in die der Staat der SED 1952/53 driftete, nachdem der "Aufbau des Sozialismus" proklamiert worden war. Das eigentliche Aufstandsgeschehen in Ostberlin und der Republik ist Gegenstand des zweiten Teils. Der dritte Teil ist der Erfahrungsgeschichte und historischen Deutung des 17. Juni gewidmet. Diedrichs Resümee:
Sowjetische Truppen haben die weitere Entfaltung der spontanen Protestbewegung zu einem großflächigen Aufstand oder gar zu einer Revolution verhindert. Die Volkserhebung hatte keine Zeit, sich zu entwickeln, und letztlich ließen die äußeren Umstände eine solche Revolution auch nicht zu. Damit blieb der Volksbewegung vom Juni 1953 das eigentliche Ziel versagt – die Veränderung der politischen Verhältnisse in der DDR.
Dass dem im allgemeinen akribisch arbeitenden Autor bei der Fülle der Details gelegentlich kleine Fehler unterlaufen, ist kritisch anzumerken.
So war es nicht die DDR-Fahne, die Demonstranten am 17. Juni vom Brandenburger Tor herunterholten, sondern eine rote Fahne, so verwechselt der Autor bei seiner Schilderung der Häftlingsbefreiung in Magdeburg die Stadtteile Neustadt und Sudenburg, und Mielkes bange Frage am Vorabend der friedlichen Revolution: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht", wird unpräzise und ohne Quelle zitiert – was bei dem Gewicht des Minister-Wortes ein Manko ist.
Letztlich sind dies freilich Bagatellen, die den Wert des Buches, eine außerordentlich informative, weithin militärhistorische Aufarbeitung der Aufstandsgeschichte, kaum beeinträchtigen können. Auch Diedrich arbeitet klar heraus, wie die SED erst mit dem Einsatz der Roten Armee ihre politische Selbstsicherheit wiederfand. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl nach dem 17. Juni in der Volkskammer:
Die großangelegte faschistische Provokation brach zusammen. Sie brach nicht nur deswegen zusammen, weil Truppeneinheiten der sowjetischen Armee mit Hilfe von entschlossenen Werktätigen und der Volkspolizei die Banditen verjagten, sondern in der Hauptsache deswegen, weil der faschistische Putschversuch von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik nicht unterstützt wurde.
Es war kein "faschistischer Putschversuch" – und eine exemplarische Widerlegung der Grotewohl’schen Geschichtslüge legt auch Hans-Peter Löhn mit seiner Monographie über den Volksaufstand in Halle an der Saale vor. Seine Arbeit, die in der wissenschaftlichen Reihe der Stasi-Unterlagen-Behörde erschien, ist schon deshalb ein Verdienst, weil eine spezielle Untersuchung des Juni-Aufstands in der Saalestadt bislang fehlte. Der Autor – auch er ist promovierter Historiker - entwirft ein dichtes, eindringliches Bild von dem Geschehen am 17. Juni in Halle, wo neben Ostberlin, Leipzig und Magdeburg die heftigsten und blutigsten Ereignisse zu verzeichnen waren.
Als Titel wählte Löhn für sein Buch eine Losung der Aufständischen: "Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille!" Wer nicht weiß, dass "Spitzbart" die ironische Chiffre für Walter Ulbricht, den Generalsekretär der SED, seiner Barttracht wegen war, dass "Bauch" für DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck ob seiner Leibesfülle stand und Grotewohl wegen seiner auffälligen Hornbrille verlacht wurde, dem mag der Titel Rätsel aufgeben. Dennoch ist er authentisch.
In Halle ging der Aufstand von den Lokomotiv- und Waggonbauern in Ammendorf aus, wo die Arbeiter in ihren Werkhallen gegen 7.30 Uhr die Arbeit niederlegten und im Werkshof spontan eine Betriebsversammlung abhielten. Zitat:
Über 2.000 Waggonbauer standen schließlich auf dem Hof vor dem Verwaltungs-gebäude und verlangten lautstark, die Direktion zu sehen. Niemand jedoch erschien. Dann wurde ein Tisch herbeigebracht, der als Rednertribüne denen sollte. Auf ihn stellte sich eine junge blonde Frau in einem hellen Sommerkleid – die damals 40-jährige Putzfrau Frieda Stephan. Sie rief den Arbeitern zu, dass es schon wieder kein Brot in Halle zu kaufen gäbe..., sie verlangte auch eine Senkung der HO-Preise...; man habe lange genug darauf gewartet, dass es allen besser gehe, nun sei die Geduld zu Ende, und alle müssten sich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen... Während der Rede erschallten aus der Masse der Zuhörer die Rufe 'Arbeiter, greift zur Macht! Tretet in den Streik! Nieder mit der Regierung!’
Nach gut einstündiger Diskussion mit inzwischen alarmierten Vertretern der Betriebsleitung und dem Parteisekretär, die vergeblich die Arbeiter zu beschwichtigen versuchten, beschlossen die Waggonbauer einen Demonstrationszug in Richtung Innenstadt. "Dieser Zug", schreibt Löhn, "wurde zum Auslöser des Volksaufstands in Halle."
Unterwegs reihten sich viele Arbeiter aus anderen Betrieben an. Bürger, Hausfrauen, Rentner solidarisierten sich. Die Entwicklung zeigte insoweit einen auch für andere Brennpunkte des Aufstands charakteristischen Verlauf. Allerdings nahm er in Halle besonders heftige Formen an. Öffentliche Gebäude wurden erstürmt, darunter die Bezirksleitung der SED und zwei Gefängnisse, Häftlinge wurden befreit. Als die Unruhen eskalierten, wurden Waffen gegen die Demonstranten eingesetzt – sowohl seitens der Volkspolizei wie seitens der Sowjetarmee. Immerhin waren acht Tote unter den Demonstranten zu beklagen.
Löhn schildert das alles eindringlich, gut recherchiert, nicht nur auf der Basis von Polizei- und Stasi-Akten, sondern auch nach Aussagen beteiligter Zeitzeugen. Er arbeitet auch heraus, wie das Regime Rache nahm.
Insgesamt ergingen in Halle gegen 76 aktive Teilnehmer des Aufstands einmal Todesstrafe sowie Freiheitsstrafen von 230 Jahren und vier Monaten. Die Arbeiterin Frieda Stephan, die die Lawine im Waggonbau Ammendorf losgetreten hatte, wurde als Rädelsführerin zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Todesurteil richtete sich gegen die 42-jährige Erna Dorn, eine angebliche SS-Aufseherin, die am 17. Juni aus dem Gefängnis befreit worden war.
Alles in allem eine Regionalstudie zum 17. Juni, die das Gesamtwissen überzeugend ergänzt und vertieft, auch wenn der Stil des Autors etwas hölzern und trocken anmutet. Löhns Schlusssatz ist auch sein Fazit:
Die These, dass die Kerngebiete des Aufstandes in den 'alten’ Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung lagen, wird durch das Beispiel der Stadt Halle nachhaltig bestätigt.
Eine Aufarbeitung der Geschichte des 17. Juni setzt nicht unbedingt historische Darstellungen voraus. Ebenso aufschlussreich kann eine Dokumenten-Publikation sein, wenn sie ein authentisches Bild des Geschehens vermittelt. Der Potsdamer Geschichtswissenschaftler Burghard Ciesla hat sich für diese Alternative entschieden und 68 Dokumente herausgegeben, in denen sich der 17. Juni in den damaligen DDR-Bezirken Potsdam, Cottbus und Frankfurt-Oder widerspiegelt, dem heutigen Bundesland Brandenburg. Eine kenntnisreiche Einleitung erschließt der Leserschaft die Dokumente.
Auch Ciesla wählte mit dem Titel seines Buches "Freiheit wollen wir" ein Zitat, das auf eine Betriebsversammlung im Reichsbahnausbesserungswerk Potsdam zurückgeht. Hier wurde am 18. Juni die Belegschaft zum Streik aufgerufen und gleichzeitig das Verlangen nach "Freien Wahlen" und nach "Entlassung aller politischen Gefangenen" artikuliert. Ein Sprecher der Streikenden, der am Tage danach als sogenannter Rädelsführer festgenommen und am 20. Juli 1953 vom Bezirksgericht Potsdam zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, antwortete seinem Stasi-Vernehmungsoffizier im Verhör auf die Frage, was er in der Versammlung gesagt habe, schlicht und einfach:
"Ich habe gesagt: Wir wollen streiken und erklären uns mit den Arbeitern in Berlin solidarisch [...] Ich habe gesagt: Freiheit wollen wir!"
Die 68 Dokumente, die in der Edition versammelt sind, sind vielfältiger Provenienz. Von Parteil-Informationen der Kreisleitungen an die Bezirksleitung Potsdam der SED über Rapporte der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei reicht die Skala bis zu internen Stimmungsanalyen und -berichten der Politbürokratie und zu Polizei- und Stasi-Fernschreiben sowie – nicht zuletzt – zu Streikbeschlüssen, Spitzel-Berichten aus dem Stasi-Archiv und Festnahme-Statistiken. Die Dokumente sind umsichtig ausgewählt, sorgfältig ediert und in Fußnoten sparsam erläutert.
Die Traumatisierung der Staatssicherheit durch den 17. Juni lässt ein dokumentierter "Operativer Einsatzplan zur Aktion 'Bollwerk’ der Stasi-Kreisdienststelle in Königs Wusterhausen anlässlich des ersten Jahrestages des 17. Juni" ermessen. Durch ihn wurde für die Staatssicherheit ab dem 10. Juni 1954 eine Art Dauer-Alarmzustand von elf Tagen verfügt, weil sie neue Demonstrationen fürchtete. Der Einsatzplan schloss mit folgenden Sätzen:
Von allen Mitarbeitern wird erwartet, dass sie während dieser Zeit freudig ihren Einsatz durchführen. Jeder Mitarbeiter der Dienststelle hat die größte revolutionäre Wachsamkeit walten zu lassen. Jeder übermäßige Genuss von Alkohol ist in dieser Zeit zu unterlassen.
Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben. Wie die vorgelegten Dokumente belegen, waren die Streikbeteiligung und Demonstrationsbereitschaft im heutigen Land Brandenburg am 17. Juni, bedingt durch die Nähe Berlins, ebenfalls stark ausgeprägt. Unvergessen ist der legendäre Zug Tausender Arbeiter aus dem Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf nach Berlin. Wie er die Herrschenden schockierte, ließ Fritz Selbmann ahnen, seinerzeit Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, der den Streik-Teilnehmern später in einer Betriebsversammlung in Hennigsdorf die Leviten folgendermaßen las:
Es gibt heute noch viele Arbeiter, die am 17., wenn auch nur für einige Stunden, mitgemacht haben, die sagen, na, wir haben doch bloß gestreikt für irgendwelche Forderungen. Am 17. Juni hat in der Deutschen Demokratischen Republik kein Streik stattgefunden, sondern der Versuch eines faschistischen Staatsstreichs, und kein Arbeiter kann sich heute damit entschuldigen, er hätte nur mitgestreikt, sondern ist das Opfer von Initiatoren eines faschistischen Putsches geworden
Selbmanns Agitation war für die Herrschenden damals typisch, aber sie war unglaubwürdig. Von Provokateuren und Agenten wussten die, die dabei gewesen waren, nichts. Schlussbemerkung: Alle drei hier vorgestellten Bücher sind gediegen ediert, mit Registern ausgestattet und mit zeitgenössischen Fotos und Faksimiles anschaulich illustriert.
Torsten Diederich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR. Oldenbourg Verlag München, 261 Seiten, 19,80 EUR - Hans Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale. Edition Temmen Bremen, 211 Seiten, 10,90 EUR - Burghard Ciesla: "Freiheit wollen wir". Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. Eine Dokumentation. Christoph Links Verlag Berlin, 256 Seiten, 19 EUR und 90 Cent.
Bei Zuwiderhandlung drohten Strafen nach dem Kriegsrecht. Als dieser Sowjet-Befehl in den Mittagsstunden des 17. Juni über Rundfunk und Lautsprecherwagen im Ostteil der Stadt bekannt gegeben wurde, war der Einsatz der Roten Armee gegen unbewaffnete Demonstranten schon Ereignis.
Die Ostberliner Innenstadt war militärisch okkupiert. Panzer und Gefechtsfahrzeuge am Alexanderplatz, Unter den Linden, am Brandenburger Tor und am Potsdamer Platz prägten das Stadtbild. Überall im Zentrum demonstrierende Massen, die zu Tausenden, Zehntausenden durch die Straßen zogen oder drängten, die sich spontan zu Kundgebungen versammelten, Kampflieder singend und Losungen skandierend, bis am späten Vormittag erste Salven aus russischen Handfeuerwaffen und Maschinengewehren aufpeitschten, bis es Verwundete und Tote gab: Waffen gegen das unbewaffnete Volk – nur so konnte der Aufstand gegen die Diktatur der SED unterdrückt werden.
"Waffen gegen das Volk" nennt Torsten Diedrich sein Buch über den 17. Juni 1953 in der DDR daher auch mit überzeugenden Gründen. Der Autor, promovierter Historiker, ist am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam tätig. Das erklärt, warum er in seiner für einen breiten Leserkreis gedachten, gleichwohl wissenschaftlich fundierten Darstellung von Ursachen, Verlauf und Folgen der ersten Volkserhebung im Stalinismus speziell militär- und sicherheitspolitische Aspekte herausgearbeitet hat. Der besondere Wert des Buches liegt in einer exakten Analyse der an der Niederschlagung des Aufstands beteiligten Kräfte der Schutzpolizei und der Kasernierten Volkspolizei, vor allem aber der eingesetzten Sowjettruppen.
"Die sowjetische Führung [hatte sich] bereits in der Nacht zum 17. Juni für die Taktik der massiven Einschüchterung der Bevölkerung entschieden. Das belegen die Zusammenziehung der Kräfte in und um Berlin und der Einsatz von 600 Panzern T 34/85 und JS II im Ostsektor der Stadt. Die Planung galt jedoch für Berlin [...] In den Bezirken und Kreisen der DDR kam der Aufstand auch für die Sowjets überraschend, eine derartige Planung ist nicht nachweisbar."
Tatsächlich waren die sowjetischen Einsatzvorbereitungen von Unruhen allein in Ost-Berlin ausgegangen. Dass sie fast flächendeckend auch die DDR-Provinz erreichten, hat sie total überrascht - ebenso wie die SED und speziell ihre Militär- und Sicherheitskräfte. So vergingen, wie Diedrich darlegt, mehrere Stunden, bis Sowjettruppen in die Brennpunkte der Erhebung in der Provinz geworfen werden konnten, um hier allerdings massiv gegen den Bevölkerungsprotest vorzugehen. Es geschah gleichwohl verhältnismäßig zurückhaltend. Die Zahl der Toten belief sich auf mehrere Dutzend.
Die im Vergleich zum Ungarn-Aufstand 1956 relativ geringe Zahl von Toten und Verletzten belegt den eher maßvollen Waffeneinsatz und vor allem, dass es sich in der DDR 1953 nicht wie in Ungarn um einen bewaffneten Aufstand handelte.
Erstmals macht der Autor genaue Angaben über das Eingreifen der Roten Armee am 17. Juni, wobei er sich auf Unterlagen aus dem sowjetischen Generalstab stützen kann. Zuvor, im ersten Teil seines Buches, zeichnet er den Weg in die politische und ökonomische Krise nach, in die der Staat der SED 1952/53 driftete, nachdem der "Aufbau des Sozialismus" proklamiert worden war. Das eigentliche Aufstandsgeschehen in Ostberlin und der Republik ist Gegenstand des zweiten Teils. Der dritte Teil ist der Erfahrungsgeschichte und historischen Deutung des 17. Juni gewidmet. Diedrichs Resümee:
Sowjetische Truppen haben die weitere Entfaltung der spontanen Protestbewegung zu einem großflächigen Aufstand oder gar zu einer Revolution verhindert. Die Volkserhebung hatte keine Zeit, sich zu entwickeln, und letztlich ließen die äußeren Umstände eine solche Revolution auch nicht zu. Damit blieb der Volksbewegung vom Juni 1953 das eigentliche Ziel versagt – die Veränderung der politischen Verhältnisse in der DDR.
Dass dem im allgemeinen akribisch arbeitenden Autor bei der Fülle der Details gelegentlich kleine Fehler unterlaufen, ist kritisch anzumerken.
So war es nicht die DDR-Fahne, die Demonstranten am 17. Juni vom Brandenburger Tor herunterholten, sondern eine rote Fahne, so verwechselt der Autor bei seiner Schilderung der Häftlingsbefreiung in Magdeburg die Stadtteile Neustadt und Sudenburg, und Mielkes bange Frage am Vorabend der friedlichen Revolution: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht", wird unpräzise und ohne Quelle zitiert – was bei dem Gewicht des Minister-Wortes ein Manko ist.
Letztlich sind dies freilich Bagatellen, die den Wert des Buches, eine außerordentlich informative, weithin militärhistorische Aufarbeitung der Aufstandsgeschichte, kaum beeinträchtigen können. Auch Diedrich arbeitet klar heraus, wie die SED erst mit dem Einsatz der Roten Armee ihre politische Selbstsicherheit wiederfand. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl nach dem 17. Juni in der Volkskammer:
Die großangelegte faschistische Provokation brach zusammen. Sie brach nicht nur deswegen zusammen, weil Truppeneinheiten der sowjetischen Armee mit Hilfe von entschlossenen Werktätigen und der Volkspolizei die Banditen verjagten, sondern in der Hauptsache deswegen, weil der faschistische Putschversuch von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik nicht unterstützt wurde.
Es war kein "faschistischer Putschversuch" – und eine exemplarische Widerlegung der Grotewohl’schen Geschichtslüge legt auch Hans-Peter Löhn mit seiner Monographie über den Volksaufstand in Halle an der Saale vor. Seine Arbeit, die in der wissenschaftlichen Reihe der Stasi-Unterlagen-Behörde erschien, ist schon deshalb ein Verdienst, weil eine spezielle Untersuchung des Juni-Aufstands in der Saalestadt bislang fehlte. Der Autor – auch er ist promovierter Historiker - entwirft ein dichtes, eindringliches Bild von dem Geschehen am 17. Juni in Halle, wo neben Ostberlin, Leipzig und Magdeburg die heftigsten und blutigsten Ereignisse zu verzeichnen waren.
Als Titel wählte Löhn für sein Buch eine Losung der Aufständischen: "Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille!" Wer nicht weiß, dass "Spitzbart" die ironische Chiffre für Walter Ulbricht, den Generalsekretär der SED, seiner Barttracht wegen war, dass "Bauch" für DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck ob seiner Leibesfülle stand und Grotewohl wegen seiner auffälligen Hornbrille verlacht wurde, dem mag der Titel Rätsel aufgeben. Dennoch ist er authentisch.
In Halle ging der Aufstand von den Lokomotiv- und Waggonbauern in Ammendorf aus, wo die Arbeiter in ihren Werkhallen gegen 7.30 Uhr die Arbeit niederlegten und im Werkshof spontan eine Betriebsversammlung abhielten. Zitat:
Über 2.000 Waggonbauer standen schließlich auf dem Hof vor dem Verwaltungs-gebäude und verlangten lautstark, die Direktion zu sehen. Niemand jedoch erschien. Dann wurde ein Tisch herbeigebracht, der als Rednertribüne denen sollte. Auf ihn stellte sich eine junge blonde Frau in einem hellen Sommerkleid – die damals 40-jährige Putzfrau Frieda Stephan. Sie rief den Arbeitern zu, dass es schon wieder kein Brot in Halle zu kaufen gäbe..., sie verlangte auch eine Senkung der HO-Preise...; man habe lange genug darauf gewartet, dass es allen besser gehe, nun sei die Geduld zu Ende, und alle müssten sich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen... Während der Rede erschallten aus der Masse der Zuhörer die Rufe 'Arbeiter, greift zur Macht! Tretet in den Streik! Nieder mit der Regierung!’
Nach gut einstündiger Diskussion mit inzwischen alarmierten Vertretern der Betriebsleitung und dem Parteisekretär, die vergeblich die Arbeiter zu beschwichtigen versuchten, beschlossen die Waggonbauer einen Demonstrationszug in Richtung Innenstadt. "Dieser Zug", schreibt Löhn, "wurde zum Auslöser des Volksaufstands in Halle."
Unterwegs reihten sich viele Arbeiter aus anderen Betrieben an. Bürger, Hausfrauen, Rentner solidarisierten sich. Die Entwicklung zeigte insoweit einen auch für andere Brennpunkte des Aufstands charakteristischen Verlauf. Allerdings nahm er in Halle besonders heftige Formen an. Öffentliche Gebäude wurden erstürmt, darunter die Bezirksleitung der SED und zwei Gefängnisse, Häftlinge wurden befreit. Als die Unruhen eskalierten, wurden Waffen gegen die Demonstranten eingesetzt – sowohl seitens der Volkspolizei wie seitens der Sowjetarmee. Immerhin waren acht Tote unter den Demonstranten zu beklagen.
Löhn schildert das alles eindringlich, gut recherchiert, nicht nur auf der Basis von Polizei- und Stasi-Akten, sondern auch nach Aussagen beteiligter Zeitzeugen. Er arbeitet auch heraus, wie das Regime Rache nahm.
Insgesamt ergingen in Halle gegen 76 aktive Teilnehmer des Aufstands einmal Todesstrafe sowie Freiheitsstrafen von 230 Jahren und vier Monaten. Die Arbeiterin Frieda Stephan, die die Lawine im Waggonbau Ammendorf losgetreten hatte, wurde als Rädelsführerin zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Todesurteil richtete sich gegen die 42-jährige Erna Dorn, eine angebliche SS-Aufseherin, die am 17. Juni aus dem Gefängnis befreit worden war.
Alles in allem eine Regionalstudie zum 17. Juni, die das Gesamtwissen überzeugend ergänzt und vertieft, auch wenn der Stil des Autors etwas hölzern und trocken anmutet. Löhns Schlusssatz ist auch sein Fazit:
Die These, dass die Kerngebiete des Aufstandes in den 'alten’ Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung lagen, wird durch das Beispiel der Stadt Halle nachhaltig bestätigt.
Eine Aufarbeitung der Geschichte des 17. Juni setzt nicht unbedingt historische Darstellungen voraus. Ebenso aufschlussreich kann eine Dokumenten-Publikation sein, wenn sie ein authentisches Bild des Geschehens vermittelt. Der Potsdamer Geschichtswissenschaftler Burghard Ciesla hat sich für diese Alternative entschieden und 68 Dokumente herausgegeben, in denen sich der 17. Juni in den damaligen DDR-Bezirken Potsdam, Cottbus und Frankfurt-Oder widerspiegelt, dem heutigen Bundesland Brandenburg. Eine kenntnisreiche Einleitung erschließt der Leserschaft die Dokumente.
Auch Ciesla wählte mit dem Titel seines Buches "Freiheit wollen wir" ein Zitat, das auf eine Betriebsversammlung im Reichsbahnausbesserungswerk Potsdam zurückgeht. Hier wurde am 18. Juni die Belegschaft zum Streik aufgerufen und gleichzeitig das Verlangen nach "Freien Wahlen" und nach "Entlassung aller politischen Gefangenen" artikuliert. Ein Sprecher der Streikenden, der am Tage danach als sogenannter Rädelsführer festgenommen und am 20. Juli 1953 vom Bezirksgericht Potsdam zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, antwortete seinem Stasi-Vernehmungsoffizier im Verhör auf die Frage, was er in der Versammlung gesagt habe, schlicht und einfach:
"Ich habe gesagt: Wir wollen streiken und erklären uns mit den Arbeitern in Berlin solidarisch [...] Ich habe gesagt: Freiheit wollen wir!"
Die 68 Dokumente, die in der Edition versammelt sind, sind vielfältiger Provenienz. Von Parteil-Informationen der Kreisleitungen an die Bezirksleitung Potsdam der SED über Rapporte der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei reicht die Skala bis zu internen Stimmungsanalyen und -berichten der Politbürokratie und zu Polizei- und Stasi-Fernschreiben sowie – nicht zuletzt – zu Streikbeschlüssen, Spitzel-Berichten aus dem Stasi-Archiv und Festnahme-Statistiken. Die Dokumente sind umsichtig ausgewählt, sorgfältig ediert und in Fußnoten sparsam erläutert.
Die Traumatisierung der Staatssicherheit durch den 17. Juni lässt ein dokumentierter "Operativer Einsatzplan zur Aktion 'Bollwerk’ der Stasi-Kreisdienststelle in Königs Wusterhausen anlässlich des ersten Jahrestages des 17. Juni" ermessen. Durch ihn wurde für die Staatssicherheit ab dem 10. Juni 1954 eine Art Dauer-Alarmzustand von elf Tagen verfügt, weil sie neue Demonstrationen fürchtete. Der Einsatzplan schloss mit folgenden Sätzen:
Von allen Mitarbeitern wird erwartet, dass sie während dieser Zeit freudig ihren Einsatz durchführen. Jeder Mitarbeiter der Dienststelle hat die größte revolutionäre Wachsamkeit walten zu lassen. Jeder übermäßige Genuss von Alkohol ist in dieser Zeit zu unterlassen.
Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben. Wie die vorgelegten Dokumente belegen, waren die Streikbeteiligung und Demonstrationsbereitschaft im heutigen Land Brandenburg am 17. Juni, bedingt durch die Nähe Berlins, ebenfalls stark ausgeprägt. Unvergessen ist der legendäre Zug Tausender Arbeiter aus dem Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf nach Berlin. Wie er die Herrschenden schockierte, ließ Fritz Selbmann ahnen, seinerzeit Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, der den Streik-Teilnehmern später in einer Betriebsversammlung in Hennigsdorf die Leviten folgendermaßen las:
Es gibt heute noch viele Arbeiter, die am 17., wenn auch nur für einige Stunden, mitgemacht haben, die sagen, na, wir haben doch bloß gestreikt für irgendwelche Forderungen. Am 17. Juni hat in der Deutschen Demokratischen Republik kein Streik stattgefunden, sondern der Versuch eines faschistischen Staatsstreichs, und kein Arbeiter kann sich heute damit entschuldigen, er hätte nur mitgestreikt, sondern ist das Opfer von Initiatoren eines faschistischen Putsches geworden
Selbmanns Agitation war für die Herrschenden damals typisch, aber sie war unglaubwürdig. Von Provokateuren und Agenten wussten die, die dabei gewesen waren, nichts. Schlussbemerkung: Alle drei hier vorgestellten Bücher sind gediegen ediert, mit Registern ausgestattet und mit zeitgenössischen Fotos und Faksimiles anschaulich illustriert.
Torsten Diederich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR. Oldenbourg Verlag München, 261 Seiten, 19,80 EUR - Hans Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale. Edition Temmen Bremen, 211 Seiten, 10,90 EUR - Burghard Ciesla: "Freiheit wollen wir". Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. Eine Dokumentation. Christoph Links Verlag Berlin, 256 Seiten, 19 EUR und 90 Cent.