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Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse und Disziplinierung in Sowjetrussland

Jetzt verstehe ich die Freude, mit der christliche Märtyrer dem Scheiterhaufen entgegensahen.

Elke Suhr | 13.01.2003
    So der britische Neurophysiologe Charles Sherrington nach einem Besuch im Schreckenskabinett seines russischen Kollegen Iwan Pawlow. "Pawlow und der Neue Mensch - Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland", so ist eine Studie überschrieben, die Torsten Rüting im Oldenbourg Verlag vorgelegt hat. Dieser Untertitel markiert auch Susanne Schattenbergs Forschungsansatz, deren Arbeit über "Stalins Ingenieure" als Beispiel für - so ihr Untertitel - "Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren" im selben Verlag erschienen ist.

    Ein Klon von Madonna fürs Bett und den von Bill Gates für den Computer – so stellen sich unbedingte Avantgardisten von heute die "Neuen Menschen" von morgen vor. Die Utopien des Maschinenzeitalters dagegen zielten auf den permanent perfektionierten Proletarier, einen roboterhaften Stachanow aus der Matrize. Der Takt der Technik sollte seinen Biorhythmus disziplinieren, bis sie ihm gleichsam zur zweiten Natur geworden war. Als Schöpfer dieser Idealgestalt galt im "Neuen Russland" - Iwan Pawlow.

    Pawlow - sein Name löst reflexhaft das Bild von jenem armen Hund aus, dem beim bloßen Klang einer Glocke das Wasser aus dem Maul lief. Pawlow symbolisierte die Utopie von der totalen Konditionierbarkeit des "Neuen Menschen". Seine "Reflexologie" prägte die Massensuggestion totalitärer Propagandaapparate. Aber sie floss auch in die behaviouristische Verhaltenspsychologie der kapitalistischen Demokratien und in die Werbung ein. Sie zielte auf ein funktionales Gegenmodell zum humanistischen Persönlichkeitsideal. Der alte Traum vom kollektivistischen "Neuen Menschen" entsprang Allmachtsphantasien Einzelner. Sie ersannen allerdings auch immer geistige Eliten, denen sie sich selbst zurechneten. Platon besetzte die Kommandohöhen seines "Politeias" der gesichtslos Arbeitenden mit "vollkommenen Wächtern". Lenin erdachte ein Ritterheer "asketischer Avantgardisten" als "Vorhut" des Proletariats. Ernst Jünger entwarf "Rassemenschen von ungeheurem Verstand" zur "totalen Mobilmachung" der zur "Gestalt des Arbeiters" verschmolzenen Massen. Der Traum vom "Neuen Menschen" beinhaltete stets auch das Wunschbild vom idealen Führer, wie es aus den Versen Alexander Majakowski spricht.

    Dann wuchs über der Welt Lenins riesiger Kopf empor. Im Schädel bewegte er um und um (...) Menschen, fast anderthalb Milliarden.

    Der Kult um Lenins Hirn, das postum Scharen von Forschern und Dichtern beschäftigen sollte, spiegelt sich in Pawlows Dogma von der "Diktatur der Großhirnrinde". Der Forscher habe der Diktatur der Bolschewiki einen pseudowissenschaftlich Nimbus verliehen. Das ist die Bilanz von Torsten Rütings Studie. Er verweist das gängige Bild von dem Nobelpreisträger als glühenden Verfechter der Geistesfreiheit ins Reich der Legenden. Dass jener den tradierten Habitus des autonomen Wissenschaftlers pflegen durfte, habe einen wohlkalkulierten Umkehreffekt bewirkt. Es stärkte Pawlows internationales Renommee und damit die Glaubwürdigkeit der Bolschewiki. Der dichtende Technologe Alexej Gastejew, "der eiserne Gastejew", kombinierte die Pawlowsche "Reflexologie" mit dem amerikanischen Taylorismus zur "Biomechanik" der Arbeitsorganisation. Der "Seeleningenieur" gründete die "Zeitliga", die den russischen Muschik zum Takt der Technik trainieren und permanent perfektionieren sollte. Seine Hymne dröhnte aus den Radios der staatlichen Kulturclubs bis in den entlegensten fernöstlichen Winkel.

    Schaffe dir eine Mechanik deiner Zeit. Die Zeit berechnen, heißt länger leben! Hast du den Schlüssel deiner Zeit, Dann bist du der Ingenieur deines Lebens!

    Leo Trotzki war es, der die Militarisierung der Arbeitswelt organisierte und die Zucht funktionaler "Neuer Menschen" forderte, bis er selbst Stalins nachdrängender "junger Garde" weichen musste.

    Das Leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv experimentellen (...) - zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden.

    Bei ihren "Ausleseverfahren" beriefen sich die Bolschewiki auf Pawlows Lehre. Sie schloss den Glauben an die Vererbbarkeit erlernter Reflexe und damit an die Möglichkeit der physiopsychischen Menschenzucht ein. Der Biologiehistoriker Thorsten Rüting hat die Ikone Pawlow nach der Öffnung der russischen Archive sorgsam entstaubt und das legendäre Gruselkabinett ausgeleuchtet. "Meine kleine Welt" nannte der fanatische Forscher sein Laborimperium. Er regierte es totalitär – so, wie er sich die "Diktatur der Großhirnrinde" über den ganzen Menschen vorstellte. Seine Schüler bezeichnete er als seine "disziplinierten Hände". Sie wurden nach einem ausgeklügelten Programm für die alltägliche Tierquälerei konditioniert.

    Einem vergleichbaren "Härtetraining" hatten sich die nachwachsenden "proletarischen Eliten" des Sowjetstaates zu unterziehen. Sie mussten sich in Stoßtrupps zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bewähren, bevor sie einen Kommandoposten erhielten. Das berichtet Susanne Schattenberg in ihrer Studie über "Stalins Ingenieure". Sie hat die Memoiren von vierzehn "Neuen Führern" unter die Lupe genommen, die in dem von Maxim Gorki ins Leben gerufenen Archiv für "Geschichte der Betriebe und Fabriken" gesammelt wurden. Ein Gemisch von asketischem Pioniergeist und militärischem Drill in Zeltlagern und Klubräumen der Komsomolzen konditionierte den technischen Nachwuchs fürs Leben – zu jener heroischen Unbedingtheit, die im "Lied der Ingenieure" erklingt.

    Die ganze Welt zerstören wir Bis zu den Grundmauern, um dann Die Welt aufs Neue zu erschaffen.

    In den Schwarzbüchern über den Kommunismus tauchen solche Sowjetmenschen wie Stalins Ingenieure meist nur als amorphe Opferherde auf. Aber ohne sie wäre die totalitäre Herrschaft nicht denkbar gewesen, bilanziert die Autorin. Gegenseitige Denunziationen waren an der Tagesordnung und bereiteten den Boden für die zyklischen "Säuberungen", der nach 1928 beinahe alle Angehörigen "überkommener" Generationen zum Opfer fielen. Der Bau des "Neuen Menschen" korrespondierte mit dem modernistischen Verständnis von Technisierung als Kampf gegen die Natur. Er setzte das Training von Grausamkeit gegenüber den unberechenbaren "alten", organischen Verhaltensweisen voraus. Pawlow hatte das Mitleid bereits in seiner Nobelpreisrede von 1904 als Störfaktor klassifiziert. Seine Schüler mussten Strafe zahlen, wenn ihnen "unwissenschaftliche", emotionale Worte über die Lippen kamen. Mit seiner autistischen, zielfixierten Siebenmeilenstiefelterminologie ging Pawlow über die konkrete Grausamkeit auf dem Weg seiner Experimente hinweg. Dieselbe abstrahierende Kälte habe auch Lenin an den Tag gelegt, erklärt Torsten Rüting.

    Beider einfältige Zielmanie ging mit unbedingter Aggressionsbereitschaft gegen "alte", gewachsene Strukturen einher. Rüting deutet diese Mitleidlosigkeit als perpetuierte Körper- und Sinnesfeindlichkeit säkularisierter Orthodoxie. Er registriert verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen dem Habitus eines besessenen Forschers und der Askese eines fanatischen Führers. Dabei unterschlägt er den offenen Widerstand Pawlows gegen die als Chaos empfundene Revolution und die "Säuberungen" des sowjetrussischen Wissenschaftsapparates nicht. Er macht indes auf das aufmerksam, was einschlägige Fachlexika verschweigen: Der Patriot Pawlow hat den Aufstieg der russischen Nation unter Stalin schließlich goutiert. Der Sowjetstaat ließ ihm zudem reichliche Mittel für sein Laborimperium und ermöglichte ihm ein luxuriöses Privatleben. So arrangierte er sich schließlich mit den Bolschewiki und pries sie als "soziale Experimentatoren". Die Sowjetführer wussten, was sie an dem Mann mit den dressierten Hunden hatten, und Nikolai Bucharin, der Liebling und Vordenker der Partei, feierte Pawlow als "eiserne heilige Waffe" des Bolschewismus.

    Wer sich ... jemals mit der Reflexologie befasst hat, muss (...) sagen, dass es niemals eine eindeutigere, experimentell exaktere Beweisführung für die Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung, für den Marxismus gegeben hat als die Lebensarbeit Iwan Petrowitsch Pawlows. Dieser große Gelehrte ist ein politisches Kind und sieht nicht, dass alles, was er schafft, Wasser auf unsere Mühlen ist.

    Der irrwitzige Geständniswahn, den Bucharin später in seinem Schauprozess an den Tag legen sollte, mahnt an die Konditionierungskammern Pawlows. Ein Blick in die Literatur über stalinistische Isolierzellen und Folterkeller hätte Rütings Studie vielleicht mehr bereichert als weitschweifige Reflexionen über die Traditionslinien säkularisierter Orthodoxie und Askese oder über den vielbemühten Diskursbegriff. Durch die allzu wissenschaftsbeflissene Begrifflichkeit des Autors – der so klug über die Herrschaftsfunktion von Sprache reflektiert hat - muss man sich zuweilen fressen wie durch einen Puddingberg. Dann gelangt man freilich an den mutigen Versuch einer interdisziplinären Kultur- und Wissenschaftskritik. So geht Rüting Maxim Gorkis Verehrung für Pawlow als Realisator seines eigenen Menschheitideals nach.

    Er bewegte Stalin dazu, eine gigantomanische Menschenfabrik mit Pawlow als Leiter zu gründen. Sie firmierte unter dem Namen "Allunionsinstituts für Experimentelle Medizin" und sollte später den Namen Gorkis tragen. Für den Dichter war es die Krippe des "Neuen Menschen". Rüting nennt es einen Behemot zum Bau allseitig disziplinierter funktionaler Typen, der unter Stalin zusehends eugenische Züge annahm. Zyklische Säuberungen und eine Kasernenhofpädagogik jenseits der Familie zielten in die gleiche Richtung: auf die permanente Perfektion systemkonformer Eliten und funktionaler Arbeiter.

    Susanne Schattenbergs Studie lässt die Gegentypen nicht außer acht, jene, die resistent oder gar widerständig auf die Anforderungen des Sowjetstaates reagierten. Aber die blieben selten. "Stalins Ingenieure" ließen sich innerhalb des Spannungsfeldes von Pioniergeist, Karrierismus und Furcht eingrenzen. Sie genossen die Privilegien, die ihnen in den Aufbaujahren eingeräumt wurden. Ihr "Big Deal" mit dem Regime ging als "Kult’’nost’" in die Sowjetgeschichte ein.

    Alljährlich zum Jahrestag der Oktoberrevolution tauchen Überlebende in Fernsehberichten auf und lehren das Gruseln: nostalgische Prozessionen alter Menschen auf dem Roten Platz, die Stalinikonen vor sich her tragen. Sie haben den großen Terror verdrängt und erinnern sich ihrer Jugend als "heroischer Epoche". Susanne Schattenbergs Studie über "Stalins Ingenieure" erhellt den Hintergrund dieser anachronistischen Züge und spiegelt changierende Freund- und Feindbilder in Film und Literatur. Zuweilen wünschte man sich einen Blick über den Tellerrand der Lebenswelt ihrer Protagonisten, auf übergeordnete politische Machtkämpfe oder internationale Reaktionen.

    Torsten Rüting beleuchtet das weltanschauliche Fundament der stalinistischen Gesellschaftspyramide von unten. Er legt die Legitimationsfunktion Pawlows als naturwissenschaftliche Ikone des sowjetischen Herrschaftssystems bloß.

    Beide Arbeiten, die nacheinander in der Reihe "Ordnungssysteme und Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit" des Oldenbourg-Verlages erschienen sind, ergänzen sich auf glückliche Weise. Sie wagen sich an den Schnittpunkt unterschiedlicher Wissenschaften und geben neue Antworten auf die alte Frage nach den Ursachen totalitärer Herrschaft. Aber sie werfen auch neue Fragen auf – und darin liegt ihre Stärke.

    "Pavlov und der Neue Mensch - Diskurse und Disziplinierung in Sowjetrussland" und Susanne Schattenberg, "Stalins Ingenieure - Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren". Beide Bände sind im Münchener Oldenburg Verlag erschienen und kosten jeweils Euro 49,80.