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Tot oder lebendig

In der kalten Jahreszeit hat unser Immunsystem viel zu tun. Überall lauern Bakterien. Doch nicht alle sind gefährlich, einige sogar schon tot. Wie unterscheidet das Immunsystem tote von lebendigen Erregern? Eine entscheidende Rollen spielen dabei die sogenannten Fresszellen.

Von Michael Lange |
    Gerade im Spätherbst hat unser Immunsystem jede Menge zu tun. Überall lauern Bakterien. Allerdings geht von ihnen nicht immer eine Bedrohung aus. Das Immunsystem darf nicht überreagieren und auf jeden Eindringling mit allen vorhandenen Abwehrkräften reagieren. Zunächst müssen die Immunzellen herausfinden, ob es sich bei bakteriellen Eindringlingen überhaupt um lebende, sich teilende Organismen handelt. Denn nur lebende Erreger stellen eine Gefahr dar. Wie unsere Immunzellen die Frage, tot oder lebendig, beantwortet, haben Wissenschaftler der Universität Bonn nun herausgefunden.

    Milliarden Bakterien attackieren tagtäglichen unseren Körper. Sie erreichen den Blutstrom und einige von ihnen dringen in die menschlichen Zellen ein. Sie vermehren sich dort und verursachen Krankheiten. Aber längst nicht alle Mikroorganismen, die sich in unserem Körper aufhalten, sind gefährlich, erklärt Percy Knolle, Professor am Institut für Molekulare Medizin und Immunologie der Universität Bonn.

    "Das Immunsystem muss kontinuierlich entscheiden, ob es sich um eine gefährliche oder um eine nicht gefährliche Situation handelt. Und diese Entscheidung ist sehr wichtig. Denn wenn sich das Immunsystem entscheidet, eine Infektion zu bekämpfen, kommt es zu Veränderungen im Körper, die Fieber, Gliederschmerzen und sonstige Dinge beinhalten."

    Eine wichtige Rolle im Abwehrsystem spielen die Fresszellen, die sogenannten Makrophagen. Sie erkennen fremde Bakterien und fressen sie auf. Aber damit ist es nicht getan, denn die Bakterien können im Innern der Makrophagen weiter leben. Da sich infektiöse Bakterien alle 20 Minuten teilen, müssen die Makrophagen sehr schnell herausfinden, ob die Bakterien in ihrem Innern noch gefährlich sind. Die wichtigste Frage lautet: Sind sie tot oder lebendig? Sind die Bakterien tot, werden sie verdaut, und das war's. Sind sie lebendig, lösen die Makrophagen eine koordinierte Abwehrreaktion aus. Sie senden Botenstoffe aus und rufen andere Immunzellen zu Hilfe.

    Wie die Entscheidung zwischen tot und lebendig erfolgt, war bislang unbekannt. Das Team um Percy Knolle an der Universität Bonn hat nun den Mechanismus durch Forschung an Listerien aufgeklärt. Das sind infektiöse Bakterien, die zum Beispiel im Rohmilchkäse vorkommen. Die Forscher fanden: Wenn Listerien in den Fresszellen leben, legen sie eine feine Duftspur, sagt Knolle:

    "Dies ist uns aufgefallen, weil wir entdeckt haben, dass Bakterien Nukleinsäuren, das sind die Bestandteile der genetischen Information der Bakterien, aktiv absondern über besondere Kanäle innerhalb der Bakterienmembran. Wir wissen, dass diese Nukleinsäuren dazu dienen, die Immunabwehr im Makrophagen durcheinanderzubringen."

    Mit den kleinen zerstückelten Nukleinsäuren wollten die Bakterien die Abwehrzellen verwirren. Aber der Schuss ging nach hinten los. Im Laufe der Evolution haben die Zellen des Immunsystems gelernt, die Duftspur der Bakterien zu lesen. Die kleinen Stücke des Erbmaterials zeigen ihnen: Hier ist ein lebendiger, aktiver Erreger, der bekämpft werden muss. Knolle:

    "Die Wirtszelle verfügt über einen Rezeptor, der in der Lage ist, diese Nukleinsäuren des Bakteriums spezifisch zu erkennen und damit zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Infektion für das Immunsystem die Entscheidung zu erlauben, ob es sich um ein lebendes oder um ein totes Bakterium handelt. Denn ein totes Bakterium würde keine Nukleinsäuren mehr sezernieren."

    Sobald die Makrophagen die Duftspur wahrnehmen, wissen sie Bescheid. Sie senden Botenstoffe aus und setzen eine Reihe von Abwehrreaktionen in Gang. Werden keine Nukleinsäuren entdeckt, ist eine starke Abwehrreaktion unnötig und bleibt aus. Diese Art von Erkennungsmechanismus ließe sich nun von einem dritten Mitspieler nutzen, hoffen die Forscher: den Entwicklern neuer Impfstoffe. Sie könnten eine falsche Duftspur legen und so die Abwehrreaktion des Körpers verstärken.

    Im Immunsystem geht es letztlich zu wie im Spionagefilm. Jeder versucht, die anderen zu verwirren oder auszutricksen. Und nur, wer die Tricks der anderen durchschaut, kann sich behaupten, zumindest eine Zeit lang.