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"Tote Seelen" in Stuttgart
Wie Guillotinen der Zeit

Sebastian Baumgarten hat am Schauspiel Stuttgart "Tote Seelen" nach Nikolai Gogol inszeniert. Antiheld Tschitschikow gerät darin immer mehr in den Sog seiner eigenen Strategie, die toten Seelen verstorbener Leibeigener aufzukaufen und fiktiv umzusiedeln. Ein Totenkopf mit Rollos verstärkt dabei jeden Schritt elektronisch.

Von Cornelie Ueding |
    Jalousie rauf, Jalousie runter: Wie Guillotinen der Zeit zerhacken die Rollos vor den Augenhöhlen eines riesigen Totenschädels die blitzlichtartigen Szenen. Korrupte Beamte, gewinnsüchtige Großgrundbesitzer, Provinzaristokratie, notorische Hochstapler und bigotte Witwen – keine Spezies, mit der Gogols Antiheld Tschitschikow, dieser Virtuose des Verkaufs, nicht versuchte, ins Geschäft zu kommen. Seine ebenso verwegene wie wahnwitzige Idee: "Tote Seelen", also verstorbene Leibeigene, deren Namen noch in den Steuerbüchern stehen, im großen Stil aufzukaufen und fiktiv umzusiedeln.
    Sebastian Baumgarten will mit seiner Stuttgarter Bühnenfassung von Gogols Pandämonium der Spekulation aber mehr als flotte Gesellschafts- und Systemkritik üben. Zu Anfang tritt dieser Tschitischkow großmäulig und gefallsüchtig auf, stets auf Wirkung bedacht und immer mit einem Einverständnis heischenden Blick zum Publikum. Doch Wolfgang Michalek macht aus diesem windigen Finanzjongleur und Spieler eine abgründige Figur – und von Anfang an einen Looser.
    Am Anfang greift er in die Manteltasche und wirft, wie Clowns das tun, eine Handvoll Sand ins Getriebe – und löscht damit die in den toten Augenhöhlen und an allen Seitenwänden flackernden Projektionen von Werkshallen mit Tausenden von ameisengroßen Lohnarbeitern. Bald darauf hetzt er auf einem nur ganz kurzen Laufband von einem ins Auge gefassten Kunden zum nächsten. Er tritt also buchstäblich auf der Stelle, während auf der düsteren labyrinthischen Drehbühne Spelunken, vergitterte Räume und zunehmend nur noch Projektionsfetzen aufblitzen.
    Geradezu zirzensisch inszenierte Auftritte: Kein folgenreicher Schritt, kein Streit, ja keine Geste, die nicht elektronisch verstärkt würden – und doch ist das Ganze keine rasante Nummernrevue.
    Tschitschikows Spiel gerät außer Kontrolle
    Denn das anfangs burleske Spiel gerät immer mehr außer Kontrolle. Und erfasst auch seinen Erfinder: Tschitschikow, längst nicht mehr Herr des Verfahrens, gerät in den Sog seiner eigenen Strategie. Verklärt oder verteufelt, dämonisiert oder kriminalisiert wird er zur Projektionsfläche seiner Gesellschaft.
    Am Ende erleben wie ihn ausgepumpt und zerfleddert, atemlos, mit aufgemalten roten Wangen, verborgen in der Nasen-Nische des bühnenbeherrschenden Totenkopfs. Unter ihm brodelt die Gerüchteküche: Trippelnde Gesellschaftsdämchen tauschen tuschelnd Vermutungen über seine vermeintlichen Beziehungen und Neigungen aus. Ehemalige Profiteure vermuten, misstrauisch geworden, hinter der suspekt gewordenen Figur Tschitischkows einen Hochstapler, Agenten, ja selbst Napoleon. Und er steht - ein versehrter Clown - neben der Welt, deren Idol er eben noch zu sein schien.
    Jede Szene, jedes neue Geschäftsgespräch oszilliert zwischen Misstrauen und Gewinnsucht, Geldgier und Gemeinheit. Genau diese virtuos in Szene gesetzte Fallhöhe zwischen morbidem Commedia-dell'Arte-artigem Slapstick – falsche Nasen, skurrile Typen, Kunstgezappel und bizarre Klamotten inklusive - und anrührendem Totentanz eines enttarnten Außenseiters, verleiht dieser virtuosen Inszenierung Spannung und Suggestionskraft.
    Und als düstere Oberstimme schwingt Gogols Scheitern an seiner endlosen Geschichte - wenige Tage vor seinem Tod verbrannte er Teile des Manuskripts - aller Farcenhaftigkeit zum Trotz, in jedem Moment bedrohlich mit.
    Ein Meisterstück der Regiekunst. Kein Zeigefinger, keine Belehrung, kein Identifikationsangebot. "Nur" eine Performance auf dem Theater, für das Theater, die Distanz zu den Figuren schafft – eine besondere, ja geniale Lesart der Verfremdung im Sinne von Brechts epischem Theater.
    Infos:
    "Tote Seelen" nach dem Roman von Nikolai Gogol am Schauspiel Stuttgart