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Touris in Tschernobyl

Eigentlich ist das Leben in der Sperrzone um das havarierte AKW Tschernobyl verboten. Doch viele Menschen sind in ihre alten Häuser zurückgekehrt. Von den Gefahren durch Verstrahlung wollen sie nichts wissen. Derweil entdeckt der Tourismus den Atomkick.

Von Christina Nagel | 26.04.2011
    Iwan nimmt seine Pelzmütze vom Kopf und kramt unter dem Tisch ein Stück fetten Speck hervor. Aus einem Einmachglas gießt er Selbstgebrannten in ein Sammelsurium unterschiedlichster Gläser. Der 75-Jährige lässt niemanden gehen, ohne auf die Gesundheit getrunken zu haben.

    "Wir produzieren fast alles selbst. Wir mästen jährlich ein Schwein. Es gibt Hühner, wir müssen also keine Eier kaufen. Wir konservieren das Fleisch in Gläsern - und es gibt einen Laden auf Rädern, der einmal die Woche kommt. Mehr brauchen wir nicht."

    Iwan und seine Frau Maria leben mitten in der Sperrzone. Ihr Hof steht zwischen halb zerfallenen, verlassenen Häusern. Das Dorf stirbt langsam aus. Das habe aber nichts mit der Strahlung zu tun, sagt Iwan energisch. Der Boden hier sei sauber. Das Wasser auch.

    "Wir essen sogar Pilze. Wir braten oder kochen sie. Wir haben Strom, aber kein Gas. Wir bekommen Gasballons. Wir heizen mit Brennholz, das brennt wunderschön im Ofen. Die Post bringt uns unsere Renten, niemand beleidigt uns."

    Die beiden Alten sind mit dem Wenigen, das sie haben, zufrieden. Für sie ist es das Wichtigste, hier sein zu dürfen.

    "Wir haben das Haus selbst gebaut. Auch die Scheune und alles andere. Vier Jahre haben wir drin gewohnt, dann kamen die Soldaten und sagten: Ihr müsst weg! Was sollten wir machen? Es tat sehr weh. Meine Frau und ich, wir hatten doch alles allein aufgebaut."

    Das Dorf wurde wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl evakuiert. Iwan und seine Frau wurden erst bei Fremden untergebracht, dann bekamen sie eine Wohnung. Ein Jahr hielten sie es fern der Heimat aus. Dann kehrten sie einfach zurück. Die Behörden ließen sie.

    Dass der Staat sich nicht groß um die Rücksiedler kümmert, ist Iwan egal. Er winkt ab, wenn von verstrahlten Böden die Rede ist, von Lebensmitteln, die mit Caesium oder Strontium belastet sind.

    "Wir brauchen nicht mehr an die Zukunft zu denken. Die jungen Menschen müssen das."
    Dass junge Leute allerdings nach Tschernobyl kommen, um einen Urlaub der besonderen Art zu erleben, dafür hat Iwan wenig Verständnis. Doch der Katastrophen-Tourismus boomt. Er sei ein Selbstläufer geworden, sagt Tour-Anbieter Arseniv Einberg:

    "Wenn ich mich nicht irre, hat die Zeitschrift "Fortune" Tschernobyl als einen der führenden Orte für Extrem-Tourismus bezeichnet. Voriges Jahr gehörte Tschernobyl zu den Top Drei. Außerdem gibt es noch ein ukrainisches Computerspiel, "S.T.A.L.K.E.R: Shadow of Chernobyl", das in der ganzen Welt sehr populär ist. Viele Menschen, die dieses Spiel spielen, wollen in die Tschernobyl-Zone."

    Sie wollen durch die leeren Hochhäuser der ehemaligen Vorzeige-Stadt Pripjat streifen, unweit des Atomkraftwerks. Mit dem Geigerzähler vor dem havarierten Reaktor stehen. Und Ausschau halten nach mutierten Riesenfischen im Kühlwasserkanal. Ein Kick, den sie sich etwas kosten lassen: Je nach Gruppengröße sind zwischen 150 und 250 Dollar pro Person fällig. Geld, von dem auch der ukrainische Staat profitiert. Denn ohne Erlaubnis und Begleitung eines Behördenmitarbeiters kommt niemand in die Sperrzone hinein.

    Das Geschäft mit Tschernobyl ist lukrativ. So lukrativ, dass die Regierung plant, den Strahlen-Tourismus mit ins Fan-Programm für die Fußball-Europameisterschaft 2012 aufzunehmen. Gefährlich sei das nicht, geben selbst die Gegner der Katastrophen-Vermarktung zu. Aber unsittlich. Die Sperrzone sei kein Ort zum Spielen. Das Leid der Menschen, ihre Armut, seien kein Spektakel zum Gruseln.

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